1. Kapitel

Der Regen kam wie auf Kommando. Er setzte schlagartig am ersten Nachmittag des Monats ein und fegte in langen, heftigen Böen durch die Stadt. Innerhalb weniger Minuten verschwammen die Fensterscheiben, die Mauern weinten, und die Gullys gluckerten wie zornige kleine Sturzbäche. Eine Broschüre über die Uffizien schaukelte vorbei. Botticellis Venus lächelte verträumt vom schäumenden Wasser auf, ging unter und blieb schließlich am Gullydeckel hängen.

Marta Buonifaccio stand in der Tür des Hauses, in dem sie seit dreißig Jahren lebte, und sah zu, wie sich die Straße leerte. Die Menschen huschen vorbei wie die Ratten, dachte sie, mit gesenktem Kopf und gekrümmtem Rücken. Ein großer Mann mit Aktenkoffer in der Hand fing an zu fluchen und rannte zur Bushaltestelle, wo schon zwei Teenager mit Bluejeans und eingezogenen Köpfen warteten. Mit ihren kurz geschorenen Köpfen und den Metallknöpfen in der Haut sahen sie für Marta ganz und gar nicht aus wie Musterexemplare einer aufstrebenden Jugend, nicht einmal wie zu groß gewachsene Kinder, die gern gefährlich aussehen wollten, sondern wie Sträflinge, Ausgestoßene, die mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern vorbeischlurften und sich in viel zu dünne, viel zu große Kleider hüllten. Sie machten ihr keine Angst, im Gegenteil, manchen von ihnen hätte sie am liebsten einen Mantel geschenkt. Dann rief sie sich jedes Mal in Erinnerung, dass die Eltern wahrscheinlich Banker, Professoren oder Anwälte waren, die in einem Jahr mehr einnahmen, als sie in ihrem ganzen Leben erarbeitet hatte.

Eine alte Frau stand im Hauseingang gegenüber, ganz in Schwarz gekleidet, den Mantelkragen gegen den Wind hochgeschlagen. In einem Handschuh hielt sie einen Schirm, der in diesem Wetter völlig nutzlos war. In der anderen hing die unverzichtbare schwarze Tasche. Sie war vor zwanzig Jahren für zu viel Geld erstanden worden und enthielt mit Sicherheit den Hausschlüssel, ein Päckchen Taschentücher, einen halb aufgebrauchten, süßlich duftenden Lippenstift in dezentem Rosa und ein viel zu großes Portemonnaie, dessen Plastikfächer mit verblichenen Fotos erwachsener und gleichgültiger Kinder gefüllt waren. Kurz trafen sich ihre Blicke. Die Frau lächelte und sah zum Himmel auf. Novemberregen, konnte Marta sie beinahe sagen hören. Kommt er nicht jedes Mal wie ein Schock? Der Anfang eines weiteren Winters.

Der Bus fauchte zwischen den Gebäuden heran. Die Frau stöckelte zur Haltestelle, und die riesige schwarze Tasche schwang dabei wie ein überdimensionales Pendel in ihrer Armbeuge. Ob ich inzwischen auch so aussehe?, überlegte Marta. Alt und unauffällig, ein weiteres abgenutztes Gesicht in dieser abgenutzten Stadt, das niemandem auffällt und das niemand vermissen wird. Wie, fragte sie sich, kommt es eigentlich dazu? In welchem Jahr genau beginnen wir zu verschwinden, mit unserer Umgebung zu verschmelzen, als würde sie uns langsam verschlucken und ins Haus zurückzerren?

Die Teenager verzogen sich in den Bus. Der Mann mit dem Aktenkoffer reichte der älteren Frau den Arm und senkte den Kopf gegen den prasselnden Regen, während er ihr über den Rinnstein hinweghalf. Dann schlossen sich zischend die Türen und verschluckten die Fahrgäste, und die Straße blieb leer zurück. Marta blieb noch kurz stehen und schaute ins Nichts, dann verschwand sie wieder im Haus.

Es war Mittagszeit. Das süßliche Aroma von Pilzen und Olivenöl hing in der Luft und mischte sich unangenehm mit dem scharfen Geruch der Möbelpolitur. Marta konnte sich nicht erinnern, wann genau sie es sich zur Aufgabe gemacht hatte, die Treppe und die Simse der großen, schweren Fenster zu polieren. Wahrscheinlich damals, als sie zu verschwinden begonnen hatte. Vor zwanzig Jahren, mit sechzig? Oder vor fünfundzwanzig Jahren, mit fünfundfünfzig? Jedenfalls damals, als ihre Hüften dicker geworden waren und die Männer aufgehört hatten, sie anzusehen. Damals hatte sie sich dem Gebäude zugewandt, und das hatte sie bisher noch nie enttäuscht. Die hohen Fenster mit den rautenförmigen Bleiglasscheiben blickten auf die schmale Gasse. Dahinter konnte man die Eisenringe in der Mauer des Palazzo nebenan sehen, in denen früher Fackeln gesteckt hatten.

Marta hatte irgendwo gelesen, dass man im Mittelalter, als die Gasse noch benutzt wurde, die Fackeln dringend gebraucht hatte – sogar bei Tag. Der Weg war so schmal und die Palazzi auf beiden Seiten waren so hoch, dass man selbst bei hellem Tageslicht ohne den zuckenden Flammenschein wie in einem Tunnel ging. Damals waren die Fenster reine Angeberei gewesen. In jenen Tagen war Glas eine Prestigefrage. Eine Öffnung in einer ansonsten geschlossenen Mauer zeigte, dass man Feuerholz vergeuden konnte, um das Haus zu beheizen.

Auf dem Boden des Hausgangs hatte jemand einen Stapel von Speisekarten eines Chinarestaurants und von Wurfzetteln für das örtliche Taxiunternehmen liegen gelassen. Kopfschüttelnd hob Marta sie auf. Schwein Mushu. Hähnchen Kung Pau. Sie wusste, was das bedeutete. Katzen waren in Florenz gesetzlich geschützt, aber niemand hatte sie je gezählt.

Marta wollte die Zettel schon in den Papierkorb werfen, den sie vor Kurzem neben dem langen Tisch im Hausgang aufgestellt hatte, als ihr ein Umschlag auffiel, der unten im Korb lag. Er war cremefarben und sah eindeutig teuer aus. Und er war ungeöffnet. Sie bückte sich und nahm ihn heraus. Der Umschlag war dick und ziemlich schwer. Die eine Ecke hatte sich gelöst, aber noch hielt der Klebestreifen. Auf der Rückseite war ein Wappen aufgedruckt, ein winziger, sich aufbäumender Drache in einem Kreis. Sie drehte den Umschlag um. Auf der Vorderseite war er in spinnenhafter Krakelschrift an Signor Giovanni Trantemento adressiert. Die Briefmarke, stellte Marta fest, als sie das Licht einschaltete, sah eindeutig britisch aus. Sie seufzte. Rein rechnerisch war Signor Trantemento nur ein paar Jahre älter als sie, aber im Unterschied zu ihr war er wirklich alt.

Anfangs, nach der Romreise, nachdem er diesen Orden bekommen hatte, war er mit federndem Schritt herumspaziert. Oder wenigstens, schränkte Marta ein, ein bisschen schwungvoller durchs Haus geschlurft. Aber im Lauf der Monate war dieser Schwung wieder erlahmt, so als wäre Signor Trantemento ein Spielzeug, dessen Batterie allmählich zur Neige geht. Sein Gesicht war sichtlich schmaler geworden. Hinter seinen runden Brillengläsern wirkte Signor Trantemento, der früher vielleicht nicht als schön, doch gewiss als charmant gegolten hatte, inzwischen tattrig und ständig erschrocken. Ihr war der Gedanke gekommen, dass er womöglich krank war oder etwas Schlimmes erfahren hatte. Aber sie wusste, dass dem nicht so war. Er war inzwischen lediglich bereit zu sterben. Er spürte schon den kalten Hauch der Schattenwelt, die ihre Finger nach ihm ausstreckte.

Sie seufzte, schaltete die Lampe aus und erklomm die Stufen. Sie kam gar nicht auf den Gedanken, dass Signor Trantemento und seine Post sie nichts angehen könnten. Alles, was in diesem Haus geschah, ging sie etwas an. Sie war ebenso ein Teil des Hauses wie die alten Kastanienholztüren und der Messingklopfer mit dem Löwenkopf, den sie jeden Donnerstag polierte.

Giovanni Trantemento wohnte im vierten, dem obersten Stock. Der Palazzo war, soweit Marta wusste, für keine bedeutende Persönlichkeit erbaut worden und auch von niemandem, an dessen Namen man sich heute noch erinnern würde. Für keinen Pazzi oder Strozzi und erst recht keinen Bankierskollegen der Medici. Sie hatte sich oft gefragt, wer wohl diese Mauern hatte errichten lassen, wer zum ersten Mal die Tür aufgedrückt hatte und die Treppe hinaufgestiegen war. Wer es auch war, er würde sich bestimmt ärgern, dass man ihn vergessen hatte. Als das Haus vor fünfhundert Jahren erbaut worden war, hatte es sicherlich tiefen Eindruck gemacht. Ein Monument für die Ewigkeit. Pah. Marta wusste es besser. Sie stand inzwischen auf der hundertfünfzigsten Stufe. Sie hätte den kleinen Käfig von Lift benutzen können, aber das hätte sie nicht bei Kräften gehalten, hätte nicht ihre noch verbleibenden Muskeln gestärkt.

Hier oben ließen die Fenster etwas mehr Licht herein als im Erdgeschoss. Der Regen klopfte und klatschte gegen die Scheiben und färbte die Luft kalt und grau. Signor Trantementos Wohnung hatte eindeutig den besten Blick im ganzen Haus und einen Balkon dazu, trotzdem konnte man sie nicht als wohnlich bezeichnen. Sie erinnerte eher an den Horst eines alternden und zunehmend räudigen Adlers. Auf dem Absatz zwischen dem dritten und dem letzten Stock schaltete Marta das Licht ein, eine gänzlich unpassende Muschel aus gefrostetem Glas.

Als sie die letzten Stufen nahm, kam der Türsturz zur Wohnung von Signor Trantemento mit seinen gemeißelten grauen Steinfrüchten ins Blickfeld. Gleich darauf konnte sie auch das Türblatt mit dem Klopfer sehen, den sie nicht polierte. Signor Trantemento hatte einen Wandteppich an die Mauer im Treppenhaus gehängt. Er zeigte einen Löwen, der ein Banner hielt, während ein Einhorn mit albernem Lächeln den Vorderhuf in den Schoß einer Frau legte. Zwischen den gestickten Blumen kauerten Hasen, Füchse und etwas wie ein unförmiges Wiesel. Im grauen Licht schien der rote Hintergrund des Teppichs zu verlaufen. Er schien aus dem unteren Rand des Teppichs zu sickern und auf den Steinboden zu tropfen. Doch erst als Marta die hundertachtundsiebzigste Stufe erreicht hatte, wurde ihr klar, dass das keine rote Farbe, sondern Blut war.

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Alessandro Pallioti hatte ein neues Büro und einen neuen Titel. Beides hatte er den neuesten Bemühungen um Erneuerung und mehr Effizienz bei der Polizia di Stato zu verdanken. Diese Modernisierungsanfälle waren so unvermeidlich wie ein Wetterwechsel. Und sie zeigten, Palliotis Erfahrung nach, wechselnde Ergebnisse. Manchmal waren sie schlicht peinlich, so als würde eine alte Dame in die Disco gehen. Manchmal bewirkten sie tatsächlich etwas, wenn auch nicht unbedingt das, was beabsichtigt gewesen war. Gewöhnlich war es eine Mischung von beidem – ein holpriges, langsames Straucheln auf ein imaginäres Ziel hin.

Sein Job war ein typisches Beispiel dafür. Genau wie Yeats’ wildes Tier kroch er mehr oder weniger unverändert dahin. Ganz gleich, welche Bezeichnung man ihm gab, er beschäftigte sich unverändert mit den schlimmsten Aspekten der menschlichen Natur. Gier, Grausamkeit, Gewalt, Gedankenlosigkeit und ihre singenden, tanzenden Handlanger – Mord, Diebstahl, Korruption sowie jedes spezielle oder allgemeine Vergehen, das die Menschheit ersann.

Er drehte sich in seinem Stuhl, als wollte er das säuerliche Gefühl in seinem Inneren aufrühren. Als wollte er den Cocktail aus Missmut und Unzufriedenheit aufschütteln, der seit einem halben Jahr in ihm brodelte. Er klopfte mit dem Stift gegen den ledernen Rand seiner Schreibunterlage, runzelte die Stirn und fragte sich, ob er sich selbst verabscheute, weil er so empfand, oder ob er so empfand, weil er sich verabscheute.

Letztendlich war beides nicht hinnehmbar. Aber andererseits fand er seit seinem fünfzigsten Geburtstag kaum noch etwas hinnehmbar, angefangen vom Zustand der Welt über seinen Job bis hin zu seiner eigenen Einstellung. Als er sich bei seiner Schwester darüber beschwert hatte, wie unerträglich er sich zurzeit fand, hatte sie nur gelächelt und ihn milde darauf hingewiesen, dass er in der Midlife-Crisis steckte.

Wahrscheinlich hatte sie recht. Obwohl Seraphina volle vierzehn Jahre jünger war als er, hatte sie so gut wie immer recht. Gelassen wie stets hatte sie ihm erklärt, dass das vorbeigehen würde – und ihn freundlich ermahnt, dass er bis dahin möglichst keinen Sportwagen kaufen und keine junge Sekretärin heiraten sollte.

Pallioti hatte sie in beiderlei Hinsicht beruhigen können. Seine neue Sekretärin – die man ihm mitsamt dem neuen Büro, dem schwarzen Ledersofa und dem ebenso unergründlichen wie modernen Couchtisch zugeteilt hatte – war zum einen kahl und zum anderen ein Mann. Beides war eher nicht nach seinem Geschmack. Was den Sportwagen betraf, so war mit dem neuen Titel zwar ein durchaus großzügiges Gehalt mit ebensolchen Pensionsansprüchen verbunden, aber beides reichte nicht für den Lamborghini, von dem er immer geträumt hatte. Und als Perfektionist würde er sich mit nichts Geringerem zufriedengeben.

Wieder drehte er sich in seinem Stuhl und sah durch den Halbmond seines Fensters auf die Piazza hinunter. Der Regen peitschte über die weite, leere Fläche und ließ die Gebäude auf der anderen Seite sowie die hohen, eleganten Bögen der Loggia davor verschwimmen. Eine kleine und elend aussehende Touristengruppe hatte Schutz vor dem Regen gesucht. Alle hatten zu viel über die toskanische Sonne gelesen und daher verdrängt, dass der Winter in dieser Stadt nicht nur möglich, sondern unausweichlich war.

Er sah auf die Uhr, stand auf und zog seine Krawatte gerade, auf der vor einem blauen Hintergrund kleine goldene Löwen mit salutierend erhobener Pranke saßen. Der Florentiner Marzocco. Die Löwen zierten als Gravur auch seine goldenen Manschettenknöpfe. Er hatte sie heute angelegt, weil er in etwa einer halben Stunde bei einem Mittagessen erwartet wurde, das von der Stadt zu Ehren einer EU-Delegation gegeben wurde, die sich angeblich brennend für neue und innovative Methoden der Polizeiarbeit interessierte. Er fürchtete sich davor. Und genoss es in seiner gegenwärtigen Stimmung fast, sich davor zu fürchten. Wenigstens hatte sein Groll auf diese Weise ein Ziel.

Er schlüpfte in sein Sakko, zog die Manschetten nach unten und war gerade damit beschäftigt, sie auf exakt gleiche Länge zu bringen, als das Telefon läutete.

Sein Sekretär, den er nicht zu heiraten beabsichtigte, ein blauäugiger junger Mann namens Guillermo, dessen Kopf so kahl und blank poliert war wie eine Marmorkugel, sagte: »Dottore, der Bürgermeister.«

Pallioti verdrehte die Augen. Er kannte den Bürgermeister seit fast fünfundzwanzig Jahren und betrachtete ihn, trotz des bevorstehenden Essens, als Freund. Aber er war ein Kommunist alter und neuer Schule, der sich ständig Sorgen machte, sich über alles den Kopf zerbrach und alles argwöhnisch und mit dem Instinkt eines überarbeiteten Schäferhunds zu überwachen versuchte. Zweifellos wollte er Pallioti bitten, bei dem Essen etwas zu sagen – oder eher nicht zu sagen –, was augenblicklich aus seinem wild arbeitenden Hirn musste und unter keinen Umständen die dreißig Minuten warten konnte, bis sie im Nebenzimmer des Helvetia Bristol aufeinandertrafen.

»Pronto«, meldete sich Pallioti.

In der Leitung blieb es still. Das war nichts Neues. Der Bürgermeister war dafür berüchtigt, dass er irgendwo anrief und seine Gesprächspartner dann eine halbe Stunde in der leeren Leitung warten ließ, während er noch acht bis zehn andere Punkte und Telefonate erledigte. Pallioti sah wieder aus dem Fenster. Die drei Flaggen vor dem Gebäude, der Kreis der goldenen Sterne auf blauem Grund, die grün-weiß-roten Streifen – Hoffnung, Glaube und Wohltätigkeit – und die Stadtflagge von Florenz stiegen und fielen im böigen Wind.

»Pronto!«, meldete sich der Bürgermeister aus heiterem Himmel. »Pronto!« Er klang wie der Kassierer in einer besonders betriebsamen Pizzeria.

»Du hast mich angerufen, Dottore«, rief ihm Pallioti ins Gedächtnis.

»Ach ja.«

Es blieb ganz kurz still. Dann sagte der Bürgermeister: »Du musst etwas für mich erledigen.«

Pallioti war versucht zu entgegnen, dass er ohnehin etwas für den Bürgermeister tun würde, und zwar etwas, das ihm zutiefst zuwider war – aufzustehen und bedeutungslose Phrasen über die moderne Polizeiarbeit zu dreschen –, aber dann ging ihm auf, dass genau das sein Problem war. Oder wenigstens teilweise. Er hatte sein ganzes Leben darauf hingearbeitet, jene halbwegs gehobene Position zu erreichen, die er jetzt einnahm, und seit er sie innehatte, hasste er sie, weil er so viel Zeit damit vergeuden musste, über Polizeiarbeit zu sprechen. Oder Berichte über Polizeiarbeit zu schreiben. Was beides nichts mit dem zu tun hatte, weshalb er damals zur Polizei gegangen war. Er war, dachte er und richtete dabei den Blick in den Regen, wie ein Schiff, das sich durch schwere Stürme gekämpft hatte und endlich in den sicheren Hafen eingelaufen war, um dort vor Langeweile zu vergehen, seit es am Pier vertäut lag.

Die Stimme des Bürgermeisters riss ihn aus jenem Augenblick der Erleuchtung.

»Es ist gerade erst passiert«, hörte er ihn sagen. »Ein Schreiberling hat die Pressestelle der Polizei wegen eines Kommentars angerufen. Und dort waren sie tatsächlich schlau genug, mich anzurufen. Gott sei Dank.«

Pallioti runzelte die Stirn; er hatte keine Ahnung, wovon der Bürgermeister redete.

»Was ist gerade erst passiert?«

»Giovanni Trantemento. Sagt dir der Name etwas?«

Pallioti schüttelte erleichtert den Kopf. Es lag nicht nur an ihm. Der Bürgermeister redete wirres Zeug. Auch das war nichts Neues. Diese Unterhaltungen waren wie ein Kreuzworträtsel. Erst am Ende wurde klar, worum es ging.

»Nein«, sagte er. »Giovanni wie?«

»Trantemento. Er war ein Held des Widerstands. Ein Partisan. Heldenhafte Rolle bei der Befreiung und so weiter. Wurde in Rom vom Präsidenten ausgezeichnet. Erinnerst du dich?«

Pallioti erinnerte sich tatsächlich, wenn auch nur ganz allgemein. Vor anderthalb Jahren war endlich eine Garde alter Männer in dunklen Mänteln und Baretten, mit geröteten und nässenden Augen vorgetreten, um die Orden entgegenzunehmen, die sie sich ein halbes Leben zuvor verdient hatten. Danach folgte ein Essen im Quirinale. Mit langen Reden auf die Helden Italiens, die Jungen, die alles gegeben hatten, außerdem im Gedenken an jene, die gestorben waren – ob nun unter den Kugeln der Faschisten oder jenen der Nazis – und denen wir es verdanken, dass wir heute hiersitzen und uns gegenseitig beleidigen können.

»Jemand hat ihn umgebracht«, sagte der Bürgermeister jetzt.

»Was?«

»Ich weiß, ich weiß. Einfach grauenhaft. Ein alter Mann. Siebenundachtzig. In der eigenen Wohnung. Was für ein Tier tut so etwas?«

Ein menschliches, dachte Pallioti giftig.

»Also, du machst das doch, oder?«, fuhr der Bürgermeister fort. »Du behältst die Sache im Auge? Passt auf, dass niemand Mist baut. Solche Geschichten«, fuhr er unheilvoll fort, »können schnell schlecht aussehen. Für die Stadt.«

»Aha.«

»Ich weiß, wie viel du zu tun hast«, ergänzte der Bürgermeister. »Aber so als persönlicher Gefallen?«

»Als persönlicher Gefallen?« Pallioti räusperte sich. Er meinte, einen Anflug von Flehen in der Stimme des Bürgermeisters gehört zu haben. »Wie du weißt«, murmelte er, »habe ich alle Hände voll mit dieser Betrugsgeschichte zu tun. Sehr komplex. Natürlich«, meinte er dann, »würde ich gern alles in meiner Macht Stehende versuchen. Aber wenn ich das sollte, hätte ich nicht viel – nein, eigentlich gar keine – Zeit für etwas …«

»Ja«, fiel ihm der Bürgermeister ins Wort, der nicht auf den Kopf gefallen war. »Schon gut, schon gut. Ja, ja, mein Freund. Ich verstehe. Voll und ganz. Wir können auch jemand anderen da hinschicken. Es gibt bestimmt viele, die an deiner Stelle einen Vortrag über Polizeiarbeit halten können. Allerdings wird keiner davon so gut reden können wie du.«

»Vielleicht doch«, meinte Pallioti dazu.

Er sah aus dem Fenster und lächelte. Einen Moment lang sah sein Gesicht in dem grauen, wässrigen Licht, das der Regen zurückwarf, aus wie das eines Fuchses.

Er hatte nicht gelogen. Er war gerade dabei, die notwendigen Unterlagen für eine Verhandlung über einen groß aufgezogenen Betrug zusammenzustellen und aufzubereiten. Nicht, dass das für Giovanni Trantemento noch etwas bedeutet hätte. Er würde die Routinearbeiten an dem Fall Enzo Saenz überlassen und die Angelegenheit aus der Ferne überwachen. Mehr wäre nicht nötig. Diese Betrugssache war ungeheuer komplex. Dieser Fall hingegen – ein alter Mann, der in seiner Wohnung ermordet worden war – war zwar bestimmt abscheulich, möglicherweise hochexplosiv und eindeutig jene Art von Mord, die die Presse liebte – Held überlebt Nazikugeln und wird im eigenen Wohnzimmer abgeschlachtet! –, aber er war eindeutig nicht komplex. Im Gegenteil, Pallioti tippte schon jetzt insgeheim darauf, dass sie es mit einem fehlgeschlagenen Einbruch zu tun hatten. Wenn er dafür sorgte, dass der Fall schnell und bündig aufgeklärt wurde, würde er damit nicht nur dem Bürgermeister einen Gefallen erweisen und Schaden von der Stadt abwenden, es wäre auch eindeutig eine gute Tat. Eigentlich war es das Mindeste, was er für jene alten Burschen tun konnte, die, ungeachtet der zähen, stundenlangen Fernsehberichte, vor sechzig Jahren mit einer Tapferkeit gekämpft hatten, die für ihn einfach unvorstellbar war.

»Certo«, sagte er wieder. »Natürlich. Es ist mir ein Vergnügen.«

»Danke.« Der Bürgermeister seufzte. »Weißt du«, ergänzte er, als hätte er Palliotis Gedanken gelesen, »manchmal denke ich tatsächlich an diese Partisanen.«

»Ja.«

Pallioti vermutete, dass praktisch jeder Mann in Italien von Zeit zu Zeit an diese heiligen Kinder der Nation dachte. Dass es kaum einen Mann gab, der nie in der Nacht wach gelegen, an die Decke gestarrt und sich gefragt hatte – hätte ich das auch getan? Hätte ich den Mut dazu gehabt?

»Die meisten von ihnen waren gerade halb so alt wie wir. Wenn überhaupt. Eigentlich waren es Kinder.« Der Bürgermeister klang plötzlich müde. »Mal ganz unter uns, mein Freund«, sagte er, »ich habe den Verdacht, wir haben die Welt, für die sie gekämpft haben, ganz schön verkommen lassen. Also sollte es das Mindeste sein, dass wir den Ganoven finden, der einen von ihnen umgebracht hat, meinst du nicht auch?«

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Enzo Saenz wartete schon auf Pallioti, als der aus dem Lift trat, der ihn nahezu lautlos fünf Stockwerke abwärtsgetragen und in der jungfräulich neuen Tiefgarage ausgespuckt hatte, wo sein Wagen stand. Die unterirdischen Tiefen des frisch renovierten Polizeigebäudes waren nicht weniger beeindruckend als der überirdische Teil. Unter den anschlagsicheren, schusssicheren, ganz allgemein terroristen-, aufruhr- und racheaktionssicheren Büros und Besprechungsräumen lag ein gassicheres, virensicheres, massenvernichtungswaffensicheres Labyrinth, in dem nicht nur die Einsatzfahrzeuge untergebracht waren, sondern auch die Labors und Waffenkammern, Schießstände und Archive und weiß Gott was sonst noch. Pallioti hatte den Verdacht, dass er irgendwann jemanden hier herunterschicken würde und danach ein Suchkommando zusammenstellen müsste, um ihn wieder ans Tageslicht zu holen. Allerdings nicht Enzo Saenz. Enzo würde selbst aus der Hölle nach Hause finden.

Heute trug er ein Exemplar aus seiner Lederjackenkollektion und dazu einen verwegenen Dreitagebart. In Kombination mit seinem Pferdschwanz und der römischen Nase sah er ausgesprochen mittelalterlich aus. Eigentlich ein passender Vergleich. Für Pallioti war Enzo so etwas wie ein Handlanger der Medici – der stille, junge Vertraute, der in einer dunklen Gasse wartete und die Schmutzarbeit erledigte.

Sie brauchten zehn Minuten, um zu dem Gebäude zu kommen, in dem Giovanni Trantemento gelebt hatte. Es konnte keinen Zweifel daran geben, welches Haus es war. Schon jetzt standen ein Krankenwagen, ein Polizeifahrzeug und zwei Streifenwagen davor. Eine uniformierte Polizistin sicherte den Eingangsbereich mit Plastikkegeln. Ein nasser junger Mann, den bestimmt der Bürgermeister als Berichterstatter geschickt hatte, stand zusammengekauert auf dem Bürgersteig. In dem Bushäuschen gegenüber sammelten sich die Neugierigen. Sie starrten durch das verkratzte Plexiglas und beobachteten die Polizisten wie Fische aus einem Aquarium.

Enzo, der Palliotis Fahrer weggeschickt und sich selbst ans Steuer gesetzt hatte, lenkte den Wagen zwischen die Absperrkegel und hielt an. Er und Pallioti öffneten die Türen und liefen mit eingezogenem Kopf durch den Regen, der allem Anschein nach noch heftiger geworden war. Als sie in den Hausgang traten, kamen gerade die Sanitäter die Treppe herunter. Sie trugen eine zusammengeklappte Trage und Sauerstoffkanister. Einer hob den Kopf und fing Palliotis Blick auf. Er schüttelte den Kopf.

»Vierter Stock. Er gehört Ihnen«, sagte er, ohne aus dem Tritt zu kommen.

Ein zweiter Streifenpolizist war damit beschäftigt, das Gitter des winzigen Aufzugs unter dem Treppenabsatz mit Absperrband zu versiegeln. Enzo ging zu ihm hinüber, um mit ihm zu sprechen, während Pallioti die Treppe in Angriff nahm. Die Steinstufen und das dunkle, polierte Geländer verschwanden irgendwo in der Höhe aus seinem Blickfeld. Eine richtige Jakobsleiter, dachte er, ohne genau zu wissen, warum. Er holte tief Luft und machte sich an den Aufstieg.

Das Treppenhaus des riesigen, ausgekühlten Gebäudes war so höhlenartig und so schlecht ausgeleuchtet, dass Pallioti die Frau erst bemerkte, als er auf dem ersten Treppenabsatz angekommen war und nach unten sah. Sie trug ein geblümtes Kopftuch. Als sie zu ihm aufsah, leuchtete ihr Gesicht wie ein bleicher Vollmond aus dem Dunkel. Das Licht war zu schlecht, als dass er gesehen hätte, ob sie blinzelte. Pallioti nickte. Dann stieg er weiter und setzte mit seinen Schritten einen festen Rhythmus gegen das endlose Trommeln des Regens gegen die Fenster.

»Sechs Wohnungen insgesamt, eine im Erdgeschoss, eine unter dem Dach und je zwei auf den beiden Stockwerken dazwischen. Ich habe das ganze Haus absperren lassen. Es kommt gleich ein zweiter Wagen, um Zeugenvernehmungen durchzuführen.«

Im zweiten Stock hatte Enzo ihn eingeholt.

»Wissen wir, wer ihn gefunden hat?«

»Die Frau von unten. Marta Buonifaccio. Eine Art selbst ernannte Hausmeisterin. Sie wollte ihm einen Brief bringen, entdeckte Blut unter der Tür, machte die Tür auf, sah ihn liegen, ging sofort wieder nach unten und rief uns an.«

Pallioti blieb stehen.

»Mit dem Lift?«, fragte er.

Enzo schüttelte den Kopf. »Den hält sie für ein Teufelsinstrument. Sie nimmt grundsätzlich die Treppe.«

»Und die Tür, Trantementos Wohnungstür?«

»War zugezogen, aber unverschlossen. Sie sagte, sie hätte ein dünnes Blutrinnsal gesehen. Unter der Tür. Sie dachte, dass er sich vielleicht den Kopf angeschlagen hat. Und hat aufgemacht, um nachzusehen.«

Sie stiegen weiter.

»Der Alte«, fuhr Enzo fort, »ist ein paar Jahre nach ihr eingezogen. Übrigens ist das ihr Ausdruck – ›der Alte‹. Sie meint, er wäre allmählich gebrechlich geworden. Er handelte mit Briefmarken und Drucken. Im oberen Segment. Sagt Marta.«

Ob es wohl bei Drucken und Briefmarken auch ein unteres Segment gab, fragte sich Pallioti. Wahrscheinlich. Überall gab es ein unteres Segment. Das obere Segment erklärte zumindest die Adresse. Gut, das Haus war zugig und dunkel, aber das oberste Geschoss in so einem Haus – das oberste Geschoss in irgendeinem Haus im Centro Storico – war bestimmt nicht billig zu haben.

Sie bogen um den letzten Treppenabsatz und wurden von einem weißen Gleißen geblendet. Die Spurensicherung stellte bereits ihre Scheinwerfer auf. Pallioti blieb stehen. Er zog die von Enzo gereichten Überzieher über seine Schuhe und schlüpfte in ein Paar Latexhandschuhe. Der Treppenabsatz war breit und bis auf den Wandteppich völlig leer. Das hohe, schmale Fenster im Treppenhaus hätte selbst an einem sonnigen Tag kaum Licht hereingelassen. Der Aufzug befand sich links von ihnen. Die Wohnungstür mit dem gemeißelten steinernen Türsturz befand sich genau gegenüber der Treppe. Sie stand offen. Der Leichnam des alten Mannes lag direkt dahinter.

Das Team von der Spurensicherung trat immer wieder über den Blutstrom hinweg, der sich unter der Tür durchgezwängt hatte und jetzt auf dem kalten Boden erstarrte. Die Gerichtsmedizinerin kniete neben dem Leichnam. Das Gleißen der Scheinwerfer fing sich in ihrem weißen Papieroverall und ließ sie aussehen wie einen Eisbär, der über seiner Beute wacht.

»Nur herein. Steigen Sie einfach drüber.«

Sie sah auf und winkte sie in die Wohnung. Hinter dem Leichnam erstreckte sich der Flur bis ans andere Ende des Hauses, wo Pallioti eine Terrassentür erkennen konnte, die offenbar auf einen Balkon führte. Enzo machte den Anfang, setzte in einem großen Schritt über den Toten hinweg und tappte auf dem abgewetzten Orientteppich den Flur entlang. Er warf einen Blick auf den Balkon, streckte dann den Kopf in das erste Zimmer und verschwand gleich darauf im nächsten.

Pallioti folgte ihm, blieb aber im Flur stehen, der auf beiden Seiten von halbhohen Bücherregalen gesäumt war. Darüber hingen Drucke und Gemälde, größtenteils in schweren Goldrahmen, an altmodischen Samttapeten, die den Flur in einen düster gemusterten Tunnel verwandelten. Die Luft roch muffig, so als wären die Glastüren am anderen Ende länger nicht geöffnet worden. Sofort stellte sich klaustrophobische Beklemmung ein.

Die Gerichtsmedizinerin nickte und sah zu ihm auf.

»Ein Schuss in den Hinterkopf«, sagte sie. »Ich würde sagen, vor drei, vier Stunden.«

»Aha.« Pallioti besah sich den Leichnam. »Irgendwann am Spätvormittag hat er die Tür geöffnet, sich umgedreht, und sein Besucher hat ihn erschossen?«

Die Antwort der Gerichtsmedizinerin überraschte ihn.

»Das glaube ich nicht.«

Sie deutete auf die dünne, verschrumpelte Gestalt. Trantemento trug braune Zwillichhosen, Samtpantoffeln und eine Strickjacke.

»Sehen Sie sich den Mann an«, sagte sie. »Wie groß ist er wohl? Eins achtzig?« Sie beugte sich vor und stupste mit dem Latexfinger gegen seinen Hinterkopf. »Ich kann es erst mit Sicherheit sagen, wenn ich ihn auf dem Sektionstisch habe, aber ich glaube, der Einschuss erfolgte von oben. Bestenfalls auf gleicher Höhe. Das bedeutet, dass Sie es mit einem sehr großen Mörder zu tun hätten. Über eins achtzig.«

»Oder er hat sich aus irgendeinem Grund gebückt, vielleicht, um etwas aufzuheben, und wurde dabei erschossen.«

»Vielleicht«, bestätigte sie. »Das wäre zumindest eine Möglichkeit. Lassen Sie mich noch ein paar Fotos machen, dann drehe ich ihn um.«

Während sie in ihrer Tasche nach der Kamera suchte, stieg Pallioti ein zweites Mal über die Beine und den ausgestreckten Arm des Mannes. Er untersuchte die Wohnungstür. Sie sah nicht so aus, als hätte sich jemand gewaltsam Zugang verschafft. Es war nicht einmal ein Kratzer zu sehen.

Wieder stieg er über den Toten und trat in den Flur. Er merkte, wie er wütend wurde. Man konnte die Menschen, vor allem alte Menschen, noch so oft warnen, sie öffneten trotzdem jedem die Tür. Genau das machte sie so angreifbar – und jene, die diese Schwäche ausnutzten, so widerwärtig. Wie schwer war das wohl gewesen? Ins Haus einzudringen, hier heraufzuspazieren, an die Tür zu klopfen und zu behaupten, man sei der Gasmann oder der Fernsehtechniker oder weiß Gott wer? Danach brauchte es nur noch einen Schuss, und schon stand einem die ganze Wohnung offen. Ehrlich gesagt wusste er nicht, warum das nicht viel öfter passierte.

In der Erwartung, ein verwüstetes Wohnzimmer vorzufinden, trat er durch die Tür und blieb stehen. Es war kein schöner Raum. Hier oben drückten die schweren Kastanienbalken die Decke zu tief herunter, als dass es noch elegant gewirkt hätte. Trotzdem war der Raum groß, er zog sich parallel zum Flur fast über die gesamte Länge der Wohnung. Der Blick aus den Fenstern über die Dächer der Stadt war selbst im Regen beeindruckend. Vor ihm erhob sich Santa Croce und dahinter die Hügelkette auf der anderen Seite des Arno. Alles wirkte aufgeräumt. Mitten auf einem dunklen, schweren Esstisch stand ein Silbertablett mit einer ganzen Familie von gegossenen Silberfüchsen. Ein silberner Brieföffner lag auf dem Schreibtisch offen neben einer Lupe mit, so nahm er an, Elfenbeingriff.

»Im Schlafzimmer gibt es einen Safe«, sagte Enzo, der hinter ihm ins Zimmer getreten war. »Unberührt, soweit ich feststellen kann.« Pallioti drehte sich um. »Aber ich konnte keine Brieftasche und auch kein Bargeld finden. Ein paar Münzen auf der Kommode, aber keine Scheine. Und da ist noch etwas. Kommen Sie und sehen Sie sich das an.«

Enzo nickte zum Schlafzimmer hin. Pallioti folgte ihm über den Flur.

Das Schlafzimmer war kaum kleiner. Auch hier war der Boden mit einem dunkel gemusterten türkischen Teppich belegt. Hier drin waren die Fenster – durch die man auf das Gebäude auf der anderen Seite der Gasse oder genauer auf dessen Dach geblickt hätte – von schweren und auf den ersten Blick mottenzerfressenen Samtvorhängen verdeckt. Das Doppelbett stand gegenüber einem Schrank mit geschnitzten Spiegeltüren. Die Wand über dem gepolsterten Kopfende des Bettes war mit Reihen von teuer gerahmten Drucken bedeckt. Pallioti trat ein.

»Pornos«, sagte Enzo. »Höflicher ausgedrückt Erotika. Wahrscheinlich wertvoll. Möglicherweise sogar sehr. Achtzehntes Jahrhundert, würde ich schätzen. Es scheint sich um eine Serie zu handeln. Vielleicht auch zwei. So genau habe ich sie mir nicht angesehen.«

»Jungen?«

Enzo nickte. »Ausschließlich.«

Pallioti wandte sich von den dunkel schraffierten Gestalten, den lächelnden Gesichtern und fliegenden Hemdzipfeln ab. Er hatte Pornografie noch nie besonders anregend gefunden, ganz gleich, wie alt sie war. Er seufzte. Sexuelle Neigungen gingen niemanden etwas an, und was zwei mündige Erwachsene freiwillig miteinander anstellten, war das Privateste und Heiligste in ihrem Privatleben. Andererseits wusste er als Polizist, wie oft das Wort »freiwillig« in die eine oder andere Richtung ausgelegt werden konnte. Er hätte nicht sagen können, was er hier zu finden gehofft hatte, aber das war es jedenfalls nicht. Ein vom Präsidenten ausgezeichneter Widerstandskämpfer und Pornohändler. Die Geschichte würde sich nicht besonders gut lesen.

»Na schön«, sagte er. »Wir sollten …« Aber ehe Pallioti den Satz oder Gedanken zu Ende bringen konnte, hörte er die Gerichtsmedizinerin im Flur fluchen.

Bis die Männer sie erreicht hatten, hatte sie sich schon in die Hocke begeben und starrte auf den Leichnam, der jetzt mit dem Gesicht nach oben neben ihr lag.

»Dottoressa?« Enzo war zuerst bei ihr.

Die Gerichtsmedizinerin sah auf und schüttelte den Kopf.

»So etwas habe ich noch nie gesehen.«

Pallioti trat hinter sie, beugte sich vor und blickte in das Gesicht des alten Mannes. Die hageren und ansonsten wahrscheinlich eingefallenen Wangen waren aufgebläht, wodurch der Tote aussah wie ein Kind in einem Cartoon, das sich bei einer Geburtstagsfeier den Mund mit Kuchen vollstopft. Die Augen des Mannes starrten in Panik durch die verrutschte Brille. Ein Glas war gesprungen. Seine Lippen waren mit etwas Weißem verklebt, das über sein Kinn auf die faltige Haut an seinem Hals gerieselt war.

»Es sieht so aus, als hätte ihm jemand etwas in den Mund gestopft, und zwar …« Die Gerichtsmedizinerin schüttelte wieder den Kopf. »Ich weiß es nicht. Heroin? Kokain?«

Enzo kniete sich hin und tupfte mit dem Finger auf das Kinn des Toten. Er schnüffelte an seiner Fingerspitze und leckte dann, bevor Pallioti ihn aufhalten konnte, mit der Zunge darüber.

»Kokain ist das nicht.«

Er sah zu ihnen auf, ließ die rosa Zungenspitze vorschnellen und leckte noch einmal.

»Salz«, stellte Enzo Saenz fest. »Sein Mörder hat ihm den Mund mit Salz gestopft.«