24. Kapitel
Kein Zweifel. Bruno Torricci war ein eher unansehnliches Exemplar der menschlichen Gattung.
Sein flaches Pfannkuchengesicht wirkte in dem Video, das in Cesare D’Alettos Verhörraum aufgezeichnet worden war, wahrscheinlich noch bleicher als sonst. Aber ehrlich gesagt bezweifelte Pallioti, dass Make-up oder tropische Sonne viel bewirkt hätten. Torriccis Augen waren wässrig blau, seine Haut farblos wie die eines Albinos. Das kurz geschorene Haar machte die Sache nicht besser. Genauso wenig wie die Nase, die aussah, als wäre sie ihm nicht nur einmal gebrochen worden. Wahrscheinlich bei den zahllosen Raufereien, Kämpfen und öffentlichen Ärgernissen, bei denen er verhaftet worden war. Außerdem war er nicht gerade das hellste Licht am Firmament. Auf sämtlichen der »28.-April-Briefe«, wie die Schreiben von Enzos Team getauft worden waren, hatte man seine Fingerabdrücke gefunden. Eine Tatsache, die wenig überraschte, nachdem Bruno so stolz darauf war, zu den Arischen Söhnen zu gehören. Deren Motto lautete: »Die Hallen in Walhall werden niemals verlassen sein.«
Pallioti seufzte und verfolgte aus dem Augenwinkel das Video der Vernehmung, während er gleichzeitig die Akte studierte, die Enzo ihm gebracht hatte. Cesare D’Aletto hatte Bruno ausfindig gemacht, wenige Stunden, nachdem seine Fingerabdrücke in der Datenbank identifiziert worden waren. Es war nicht schwer gewesen, ihn zu finden. Signor Torricci saß in Pescara im Gefängnis, nachdem er auf einer Autobahntankstelle eine weitere Schlägerei angezettelt hatte.
Die kurze Vernehmung auf Band begann damit, dass D’Aletto Torriccis Namen, seinen Wohnsitz – in einem Vorort von Rom –, sein Alter – siebenundzwanzig – und den Beruf – Bauarbeiter – nannte. Danach kam er auf die Briefe zu sprechen, und Bruno hatte fröhlich zugegeben, dass er sie geschrieben hatte.
Es sei, hatte er betont, allein seine Idee gewesen. Er habe einen Gedankenblitz gehabt, nachdem er in den Lokalnachrichten einen Beitrag über jene »Verräter« gesehen hatte, die zum sechzigsten Jahrestag der Befreiung einen Orden verliehen bekommen sollten, obwohl es sich damals doch keineswegs um eine Befreiung gehandelt habe, sondern um jenen Tag der Schmach, an dem Italien endgültig an die Juden, die Zigeuner und amerikanischen Schwarzen verscherbelt worden war. Er hatte die nationale Entehrung zusammen mit ein paar Freunden im Fernsehen verfolgt und daraufhin beschlossen, dass »man etwas dagegen unternehmen musste«. Die Namen der Ausgezeichneten hatte er bald herausgefunden. Seine Freundin hatte ihm geholfen, die Adressen herauszusuchen. Sie kannte sich verdammt gut mit dem Computer aus. Sie war sowieso ziemlich schlau. Außerdem hatte sie die Stempel angefertigt und war auf die Idee gekommen, rote Tinte zu nehmen, weil die wie Blut aussah.
Cesare D’Aletto hatte bereits ermittelt, dass weder Bruno noch seine geniale Freundin ein Alibi für Mittwoch, den ersten November, vorweisen konnten. Noch war nicht ersichtlich, ob die beiden an diesem Vormittag um elf Uhr in Florenz gewesen waren, aber Enzos Leute überprüften das bereits. Am folgenden Wochenende waren sie allerdings bei den Eltern des Mädchens gewesen, die praktischerweise in der Nähe von Bari wohnten. Bruno behauptete zwar, sie hätten den ganzen Tag über eine »Motorradtour« unternommen, aber bislang hatte er sich nicht erinnern können, wohin sie gefahren waren. Cesare D’Aletto war zurzeit damit beschäftigt, weitere Mitglieder der Arischen Söhne aufzutreiben und gleichzeitig nach der Freundin zu fahnden, um festzustellen, ob diese sich an mehr erinnern konnte. Er beabsichtigte, Bruno Torricci am folgenden Tag noch einmal zu vernehmen, und bis dahin wäre Enzo bei ihm in Brindisi. Er würde noch am späten Abend hinfliegen.
Der Bürgermeister war hocherfreut. Der Pressesprecher war bereits dabei, eine Erklärung aufzusetzen. Selbst der ermittelnde Richter war glücklich. Pallioti schloss die Akte und fragte sich, warum er als Einziger sich nicht freute, den Fall abschließen zu können. Etwas drückte ihn wie ein Steinchen im Schuh. Er wandte sich vom Bildschirm ab, auf dem das Band ein weiteres Mal abgespielt wurde, und wanderte ins Nebenzimmer, wo Giovanni Trantementos und Roberto Roblinos Papiere und Adressbücher und Bankauszüge und Briefe – alles, was irgendwie interessant sein könnte, ihre Einkaufslisten eingeschlossen – auf zwei langen Tischen ausgebreitet lagen.
Die Geldbündel wurden in der Asservatenkammer verwahrt, aber alles andere war mehr oder weniger unverändert. Ganz am Ende des Tischs sah er die Plastikbeutel, in denen die zerknitterten und bröseligen Seiten der Partisanenzeitungen lagen. Pallioti schlenderte hinüber und begriff, gerade als er nach einem der Beutel griff, was ihm keine Ruhe lassen wollte. Er hatte bei der Lektüre von Caterinas Tagebuch ständig darauf gewartet, dass sie irgendwann mit Il Corvo intim wurde, dass etwas geschah, das erklärte, wie und warum Giovanni Trantemento ihr Tagebuch in seinem Safe liegen hatte. Aber mittlerweile war sie in Mailand und Il Corvo … Wer wusste das schon? Nach der letzten Krankenwagenfahrt war er in ihren Erzählungen nicht wieder aufgetaucht. Damals hatte sie ihn nach seiner Familie oder seiner Schwester fragen wollen.
Pallioti zog das rote Buch aus der Tasche, in der er es inzwischen immer trug, und blätterte durch die dicht beschriebenen Seiten. Genau, dort stand es, ein bisschen verschmiert, aber schwarz auf weiß – denn dies waren die letzten Worte, die Il Corvo und ich wechselten. Der Eintrag stammte vom Juni 1944.
Er steckte das Buch wieder ein, nahm einen der in Plastik gepackten Zeitungszettel vom Tisch und betrachtete ihn genauer. Das Datum darauf war ebenfalls verschmutzt, aber dennoch erkennbar, selbst durch das Plastik hindurch. Februar 1944. Als Pallioti die Papiere beim ersten Mal in Augenschein genommen hatte, hatte ihm das Datum nichts gesagt. Jetzt war dies für ihn der Monat, in dem Issa niedergeschossen worden war.
Also, dachte er, dass ein alter Mann ein Erinnerungsstück aufbewahren möchte, ist an sich nicht ungewöhnlich. Die Schießerei vor dem Pergola-Theater, Issas – oder genauer gesagt Lilias – Flucht und seine eigene gelungene Flucht dank des Unfalls auf dem Weg zum Bahnhof waren der Grund dafür, dass Giovanni Trantemento, einst bekannt als Il Corvo, einen Orden verliehen bekommen hatte. So hatte es seine Schwester erklärt – »Er rettete einer Frau das Leben – er lief auf die Straße und half ihr, nachdem man auf sie geschossen hatte. Er wurde verhaftet und verprügelt und konnte entkommen. Trotzdem rettete er ihr damit das Leben«. Derselbe Vorfall hatte ihn veranlasst, seinerseits Roberto Roblino, genannt Beppe, für einen Orden vorzuschlagen. Selbst wenn er nie darüber gesprochen hatte, war dies doch einer der entscheidenden Augenblicke in seinem Leben gewesen.
Pallioti griff nach dem nächsten Beutel. Wie alle anderen war er nummeriert oder zumindest mit einer Reihe von Buchstaben und Zahlen versehen. Er strich das Plastik glatt und las die schlecht gedruckte Schlagzeile. Es war eine andere Zeitung, doch auch sie stammte vom Februar 1944. Er legte sie weg und nahm eine dritte in die Hand. Diese stammte vom Juni 1944. Auch dieses Datum hatte ihm nichts gesagt, als er sie das erste Mal gesehen hatte. Jetzt war es der Monat, in dem Radio Julia aufgeflogen war. In dem die Familie Cammaccio verhaftet und erschossen oder deportiert worden war. In Gedanken zuckte er kurz mit den Achseln. Il Corvo hatte die Frauen gekannt; vermutlich hatte er viele, wenn nicht alle gekannt, die an jenem Tag in der Via dei Renai verhaftet worden waren. Warum sollte er sich also nicht dafür interessieren, was damals passiert war? Er griff nach dem vierten Flugblatt. Es trug wieder ein anderes Datum, war aber ebenfalls aus dem Juni 1944. Genau wie das fünfte. Das sechste und siebente stammten wiederum vom Februar 1944.
Pallioti richtete sich auf. Jetzt erkannte er noch etwas, dem er bis dahin keine Beachtung geschenkt hatte. Einige der Tüten waren versiegelt. Andere mit Klebeband verschlossen. Die wenigsten waren geöffnet worden. Nur eine oder zwei und dazu die Hülle, in der das kleine rote Buch gelegen hatte.
Das bedeutete, dass Giovanni Trantemento seine Abende keineswegs damit zugebracht hatte, von seinen eigenen Heldentaten oder jenen der anderen GAP-Mitglieder zu lesen. Er hatte diese Zeitungen überhaupt nicht gelesen. Bestenfalls hatte er sie, so wie jetzt Pallioti, durch die Plastikhülle hindurch studiert. Dann hatte er sie wieder in seinen Safe eingeschlossen.
Die nächsten fünf Minuten brachte Pallioti damit zu, Giovanni Trantementos Sammlung von Partisanenzeitungen in zwei Stapel zu sortieren. Insgesamt waren es siebenundzwanzig Stück. Als er fertig war, lagen auf einem Stapel alle Zeitungen aus dem Februar 1944. Auf dem anderen die vom Juni. Zwölf auf dem einen Stapel, fünfzehn auf dem anderen, kein Flugblatt war übrig geblieben. Er betrachtete die beiden Stapel. Dann holte er seine Brille heraus. Bei näherer Betrachtung stellte er fest, dass diese zerfledderten kleinen Partisanenschriften nicht ausschließlich aus Florenz stammten. Ein paar kamen aus Bologna. Eine aus Genua. Eine sogar aus dem entfernten Turin. Aber alle waren in einem der beiden Monate gedruckt worden. Nicht eine davon stammte vom Mai, Januar oder Juli. Und keine einzige aus den Jahren 1943 oder 1945.
Pallioti griff nach dem leeren Beutel, in dem Caterinas Tagebuch gesteckt hatte. Wieder besah er sich das zerschlissene Klebeband und die Aufschrift PJ 653, die mit einer Art Wäschestift auf den Beutel aufgetragen worden war. Er hatte einen nagenden Verdacht. Schnell blätterte er durch die Flugschriften, bis er gefunden hatte, was er suchte. Er hatte recht gehabt. Abgesehen von den handschriftlichen Angaben war einer der Beutel oben in der Ecke mit einem kleinen, schmutzig roten Etikett beklebt. Er betrachtete es genauer.
Zum Glück sah er doch nicht so schlecht, wie er manchmal befürchtete.
Pallioti musste fast eine Stunde Giovanni Trantementos Bankauszüge durchforsten, bevor er das Gesuchte gefunden hatte. Er bezweifelte, dass der alte Mann so eine Transaktion per Kreditkarte getätigt hatte. Laut Enzo hatte er zwar eine besessen, aber praktisch nie eingesetzt. Bargeld andererseits, das er reichlich besaß, wäre vielleicht genehmer gewesen. Und war vielleicht auch eher verwendet worden. Auktionshäuser – vor allem solche, die mit jenen Materialien handelten, für die Trantemento sich interessierte – bestanden bisweilen auf Barzahlung. Aber nicht immer. Zum Glück, weil Pallioti andernfalls in einer Sackgasse gelandet wäre. Sein Instinkt sagte ihm, dass diese Sammlung vor langer Zeit angelegt worden war. Also hatte er 1960 angefangen, als Giovanni Trantemento noch nicht in Florenz gewohnt, sondern als relativ junger Mann sein Geschäft in Neapel aufgebaut hatte. Erst im Jahr 1965 entdeckte er den ersten an Patria Memorabilia ausgestellten Scheck. Weitere folgten. 1975 schienen die Zahlungen wieder aufzuhören.
Pallioti zog sein Handy heraus und rief Guillermo an. Dann blieb er vor dem Tisch stehen, trommelte mit den Fingern und wartete darauf, dass sein Sekretär das Gesuchte fand.
Patria Memorabilia war wohl nie ein besonders lukratives Unternehmen gewesen. Pallioti konnte sich vorstellen, dass die Konkurrenz in Sachen Kriegsdevotionalien ziemlich groß war. Mit dem Verkauf von alten Zeitungen, Zugfahrplänen oder Briefen machte kaum jemand ein Vermögen. Und nachdem es mittlerweile das Internet gab, wunderte es ihn, dass überhaupt noch ein Laden überlebte. Dieser hier tat es jedenfalls, wenn auch mühsam. Der Auslage in dem kleinen und ungeheuer staubigen Schaufenster zufolge war es hauptsächlich eine Buchhandlung. Der Mann, der Guillermos Anruf entgegengenommen hatte, hatte sein Geschäft mit dem Begriff »Suchagentur und Auktionshaus« umschrieben, das auf »Material zum Partisanenkampf« spezialisiert sei.
Der Laden selbst, wenn man ihn denn so nennen wollte, lag tief verborgen in einem Labyrinth von Gassen hinter Santa Croce. Giovanni Trantemento hatte zu Fuß höchstens zwanzig Minuten gebraucht, um von seiner Wohnung hierherzugelangen. Pallioti seinerseits hatte den Weg von der Polizeizentrale in knapp einer halben Stunde zurückgelegt. Er hatte schon die Hand erhoben, um die fleckige Messingklingel zu drücken, als sich die Tür wie von Zauberhand öffnete. Eine helle Katze schlüpfte durch den Spalt, sah mit großen goldenen Augen zu ihm auf und huschte dann in die Gasse.
»Sie ist ein Luder«, hörte er eine Stimme. »Wir füttern sie dick und fett, aber sie geht trotzdem jagen.«
Dem Kommentar folgte lautes Lachen. Im Laden war es so dunkel, dass Pallioti auf den ersten Blick nicht erkennen konnte, woher es kam. Dann tauchte ein Gesicht auf, das hinter der Tür hervorsah. Der Besitzer war wahrscheinlich älter, als er aussah. Seine Haut war bleich und gespannt wie die eines Menschen, der in den letzten zwanzig Jahren nicht mehr an die frische Luft und erst recht nicht in die Sonne gekommen war.
»Nur herein«, sagte er.
Als sich Palliotis Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte er, dass der Laden voller war, als man von außen meinte, und dazu eindeutig besser geordnet. Die Rückwand war mit Regalen vollgestellt, in denen katalogisierte Stapel von Papieren in den inzwischen vertrauten Plastikhüllen lagerten. An einer Wand reihten sich Bücherregale. An der anderen hingen Plakate. Zum Teil waren es von den Deutschen gedruckte Fahndungsplakate im Stil des Wilden Westens, zum Teil verschwommene Fotografien, die möglicherweise Partisanenführer zeigten. Andere enthielten Ankündigungen der CLN; oder es waren Verlautbarungen der Partisanenregierungen aus den wenigen kurzlebigen »befreiten Republiken«, die in den Wintern der Jahre 1943 oder 1944 erblüht und dann spurlos im Chaos versunken waren, sobald die Alliierten vorrückten und sich die Deutschen zurückzogen.
Daneben gab es gerahmte Fotografien, zum Teil von Einzelpersonen, zum Teil von den Garibaldi-Brigaden – junge Menschen mit dünnen, angespannten Gesichtern und Munitionsgürteln über den Schultern. Auf einigen Fotos waren Frauen abgebildet. Eine Gruppe mit Fahrrädern trug ein Plakat, auf dem Gruppi Difesa Della Donna stand. Ein weiteres Trio in dunklen Röcken marschierte in Formation, Scharfschützengewehre in den Händen. Eine Frau mit Barett lag hinter einem kleinen Wall, eine Hand auf ein Bren-Gewehr gestützt, den Blick konzentriert in die Ferne gerichtet. Auf manchen Fotos waren nur Leichen zu sehen. Drei Menschen hingen an einem Galgen und schwankten in einer unsichtbaren Brise, während ein Mädchen mit Fahrrad zu ihnen aufsah. Einige Männer mit auf dem Rücken gefesselten Händen lagen zusammengesackt und tot vor dem Holzzaun, an dem sie aufgestellt und erschossen worden waren. Ein weiteres Foto zeigte einen Schützengraben, aus dem Arme und Beine ragten und der mit mehr Leichen gefüllt war, als Pallioti zählen konnte.
»Sant’ Anna Stazzema, August 1944, das 35. Panzergrenadierregiment. Fünfhundertsechzig Zivilisten wurden damals ermordet.«
Der Mann, der sich als Severino Cavicalli vorstellte, stand genau hinter ihm.
»Entschuldigen Sie die Beleuchtung«, sagte er. »Oder genauer gesagt die fehlende Beleuchtung. Wir lassen das Licht gedämpft, weil viele unserer Artikel lichtempfindlich sind. Gibt es denn irgendetwas, das Sie besonders interessiert?« Er legte den Kopf schief und blinzelte mit den ungeheuer grünen Augen.
»Nein, nein.« Pallioti drehte sich um. Ehrlich gesagt gab es vieles, was ihn hier interessierte, aber das würde warten müssen. »Leider«, sagte er, »bin ich in offizieller Mission hier.«
Signor Cavicalli warf einen Blick auf den vorgezeigten Polizeiausweis und nickte.
»Ach ja. Wenn ich mich recht entsinne, sagte Ihr Mitarbeiter, Sie wünschten uns wegen eines Kunden zu sprechen? Eines Signor Trantemento?«
»Ja«, sagte Pallioti. »Ja, das stimmt. Wie Sie sich wahrscheinlich schon gedacht haben, stellen wir wegen seines Todes Ermittlungen an.«
Severino Cavicallis knappe Verbeugung ließ keinen Rückschluss darauf zu, ob er Giovanni Trantementos Tod für besonders bedauerlich hielt oder nicht.
»Dann«, sagte er und deutete auf eine Tür, die er gleich darauf aufzog, »werden Sie sich in unserem Hinterzimmer vielleicht wohler fühlen.«
Das Hinterzimmer war groß und fensterlos und wurde fast ganz von einem riesigen Tisch ausgefüllt. Im Gegensatz zum Verkaufsraum war es hell erleuchtet.
»Hin und wieder«, erläuterte Signor Cavicalli, während er Pallioti hineinbegleitete, »veranstalten wir Privatverkäufe und Auktionen. Bitte sehr. Ich gehe gleich meinen Vater holen. Er hat Signor Trantemento immer bedient, müssen Sie wissen. Er allein.«
Er ließ die Tür offen. Pallioti hörte Stufen knarren, als er zur Wohnung über dem Laden hinaufstieg.
Der alte Mann, der gleich darauf den Raum betrat, war kaum mehr als ein Schatten. Er wirkte nicht nur äußerst zerbrechlich, sondern so leicht, dass er beinahe über den Boden zu schweben schien. Er trug eine Fliege, dazu ein Tweedjackett, dunkle Hosen und grüne Samtschlappen. Das Gesicht sah aus wie das seines Sohnes, nur dass bei ihm das Haarbüschel über der fast faltenlosen Stirn schneeweiß war.
Sein Händedruck war sanft. Aber sein Blick war scharf und seine Stimme kräftiger, als sein Äußeres vermuten ließ.
»Ein Besuch der Polizei. Ich fühle mich geehrt.«
»Verzeihen Sie, dass wir Ihre Zeit in Anspruch nehmen müssen.« Pallioti trat an den Stuhl, der ihm angeboten wurde. »Aber ich hatte gehofft, dass Sie mir etwas über Giovanni Trantemento erzählen könnten.«
Der Alte nickte. Sein Sohn hatte ihn ans Kopfende des Tischs gesetzt, wo, wie Pallioti vermutete, sein Stammplatz war.
»Und was genau«, fragte er, »hatten Sie gehofft, dass ich Ihnen erzählen könnte?«
»Nun, ich versuche, so viel wie möglich über seine Zeit bei den Partisanen zu erfahren. Waren Sie auch Mitglied der GAP oder …«
Bevor der Alte darauf antworten konnte, sagte sein Sohn: »Mein Vater war nicht bei den Partisanen, Dottore. Meine Familie ist jüdisch. Sie kehrte erst in den Fünfzigerjahren nach Florenz zurück.«
»Wir verdanken ihnen unser Leben.«
Severino Cavicallis Vater blickte ruhig in Palliotis Gesicht.
»Ich würde sagen«, führte er dann aus, »dass wir zu den Gesegneten gehörten. Aber ehrlich gesagt hatte Gott nur wenig damit zu tun – schließlich haben uns damals die Partisanen außer Landes gebracht. Dieses Geschäft«, erklärte er, »ist meine ganze Leidenschaft. Meine Art, ihnen zu danken. Die Flamme weiterzutragen, wenn Sie so wollen. Aber nein, ich habe nicht zu ihnen gehört. Über Signor Trantemento weiß ich nur das, was in den Zeitungen zu lesen war, nachdem er seinen Orden verliehen bekommen hatte.«
»Er hat also nie mit Ihnen über den Krieg gesprochen? Oder über seine Erlebnisse? Er sprach nicht darüber, wenn er bei Ihnen einkaufte?«
Der alte Mann schwenkte die Hand leicht hin und her. »Rein beruflich«, sagte er, »habe ich natürlich mit Signor Trantemento über den Krieg gesprochen. Schließlich kam er deswegen zu uns. Aber persönlich nicht. Er war ein Kunde, Dottore.«
Pallioti hörte den stummen Nachsatz: Aber kein Freund. Er wartete kurz ab, ob der alte Herr ihn aussprechen würde, aber die Worte blieben aus. Schließlich fragte er: »Warum? Warum kam Giovanni Trantemento zu Ihnen, Signor Cavicalli?«
Die grünen Augen glitzerten im hellen Deckenlicht.
»Weil ich Spezialist bin.«
»Und was er suchte, war so speziell?«
Signor Cavicalli nickte. »Ganz recht.«
»Und was war das?«
Die Hände schwankten wieder hin und her und landeten dann mit gespreizten Fingern auf der Tischplatte. Im ersten Moment dachte Pallioti, der alte Herr würde sich gleich aus dem Stuhl stemmen und höflich, aber entschieden erklären, dass er diese Frage nicht beantworten konnte oder wollte. Aber er hatte sich getäuscht. Stattdessen sah ihn Signor Cavicalli offen an.
»Signor Trantemento«, eröffnete er ihm, »interessierte sich genau für zwei Themen. Wie gesagt, sehr spezielle Themen.«
Pallioti spürte die Stille im Raum, tief und beständig, so, als hätte sie zahllose Jahre überdauert.
»Und welche? Was für Themen waren das?«
»Den Februar 1944 und den Juni 1944.«
»Wann hat das angefangen?«
Der alte Herr nickte. »1965. Ich glaube, er war damals gerade in die Stadt gezogen oder besser gesagt zurückgekehrt. Signor Trantemento suchte mich auf. Ich hatte damals einen recht guten Ruf als Forscher. Sammler. Ich kaufte private Sammlungen auf, den Sperrmüll aus den Speichern der Menschen. Zu jener Zeit wurde viel nicht abgeholter Besitz versteigert, der seit 1945 in den städtischen Kellern gelagert worden war und dort Staub angesetzt hatte. Nachlässe. Briefe. Nicht abgeholte Habseligkeiten. Aus Krankenhäusern. Oder ausgebombten Ruinen. Fotos. Fundsachen, die dem Roten Kreuz übergeben worden waren. Schließlich wurde der Platz gebraucht. Gebäude wurden abgerissen, neue Bibliotheken errichtet. Neue Museen. Man behielt, was man für halbwegs interessant hielt, alles andere wurde mehr oder weniger verschenkt. Händler, Sammler, Auktionshäuser erstanden den Großteil davon.«
Pallioti nickte. »Und Signor Trantemento?«
»Er bat mich, nach allem Ausschau zu halten, was ihn möglicherweise interessieren könnte. Wie gesagt, es war ein schmales Gebiet, aber er war bereit, für das, was er erwerben wollte, anständig zu bezahlen.«
»Holte er die Sachen hier ab?«
»Manchmal. Manchmal wurden sie ihm geliefert. Über die Jahre hinweg begann er, mir zu vertrauen. Ich glaube nicht, dass er je etwas nicht haben wollte, das ich für ihn aufgetrieben hatte.«
»Er war also nicht besonders wählerisch?«
»O doch.« Signor Cavicalli nickte. »Verstehen Sie mich nicht falsch. Er war höchst wählerisch. Er interessierte sich ausschließlich für diese beiden Themen. Februar 1944. Juni 1944. Und ausschließlich Florenz. Und vor allem für den Schusswechsel vor dem Pergola-Theater. Außerdem für alles, absolut alles, was mit Radio Julia zu tun hatte.«
Es gab da ein festes Muster, weich und regelmäßig wie ein Pulsschlag. Pallioti spürte Severinos Blick, aber er sah unverwandt in das blasse Gesicht seines Vaters.
»Alles, was mit der Schießerei vor dem Theater und Radio Julia zu tun hatte?«
»Ganz recht. Wenn ich etwas darüber fand, kaufte er es, ohne zu diskutieren, an. Oft auch unbesehen. Er verließ sich auf mein Urteil und versuchte kein einziges Mal zu handeln. Er wollte kein Sekundärmaterial, wohlgemerkt.« Signor Cavicalli schüttelte den Kopf. »Die Spekulationen Dritter interessierten ihn nicht. Er interessierte sich nur für Originalquellen.«
»Was glauben Sie, warum?«
Die Hände flatterten auf und senkten sich wieder. »Jeder von uns hat seine kleinen Marotten.«
Signor Cavicalli sah Pallioti scharf an. Mit seinem klaren Blick tastete er seine Gesichtszüge ab wie ein Blinder mit den Fingern.
»Wenn Sie gestatten, Ispettore«, sagte er nach einer Weile. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, dass ich kühn meine Meinung äußere? Als Sammler?«
»Certo, Signore.« Pallioti lehnte sich zurück und beobachtete ihn. »Es wäre mir eine Ehre.«
»Nun«, nickte der alte Herr. »Die Erfahrung hat mich gelehrt, dass die Menschen mehr oder weniger aus zwei Gründen sammeln. Weil sie möchten, dass ihre Mitmenschen etwas Bestimmtes erfahren. Oder weil die Mitmenschen etwas nicht erfahren sollen.«
»Und Signor Trantemento?«
Die grünen Augen blinzelten. Pallioti hörte sich atmen. Es war das einzige Geräusch im Raum.
»Wie viel haben Sie ihm verkauft?«, fragte er schließlich.
»In all den Jahren?« Die dünnen Schultern zuckten und hüpften wie knochige Flügel unter dem karierten Tweed. »Nicht allzu viel. Es gab nicht viel darüber. Irgendwann versiegten die Zuflüsse. Wie gesagt, er interessierte sich ausschließlich für Augenzeugenberichte, Originalquellen. Vielleicht zwei Dutzend Partisanenflugschriften? Die stellten den Löwenanteil. Natürlich hielt ich auch immer nach Briefen Ausschau.«
»Aber Sie haben keine gefunden?«
»Nein.«
»Was ist hiermit?« Pallioti holte das kleine rote Buch aus der Tasche und legte es auf die polierte Tischplatte. Er hatte das Gefühl, dass es schon einmal hiergelegen hatte. »Haben Sie ihm das hier auch verkauft?«
Der alte Herr griff nicht danach. Er sah kurz auf den Einband und nickte.
»Natürlich«, sagte er. »Ich war ganz aufgeregt, als ich es fand. Ich rief ihn sofort an. Er schickte einen Scheck, ohne es auch nur angesehen zu haben. Und er zahlte gut dafür.«
»Warum?«
Erstmals erschien ein Lächeln auf Signor Cavicallis Gesicht. »Ich nehme an«, sagte er, »es enthielt etwas, das ihn interessierte.«
»Und haben Sie ihn jemals gefragt, was das sein könnte?«
»Nein.«
»Und wie ist es zu Ihnen gekommen?« Pallioti nahm das kleine Buch wieder an sich, eigenartig erleichtert, den abgewetzten Einband wieder in der Hand zu spüren, so als hätte er es, indem er es offen auf den Tisch gelegt hatte, einer unbekannten Gefahr ausgesetzt.
»Soll ich nachschlagen, Papa?«
Severino wollte schon aufstehen. Der alte Herr winkte ab.
»Vom Roten Kreuz«, sagte er. »Sie versteigerten damals Fundsachen, Dinge, die ihnen anvertraut und nicht wieder abgeholt worden waren. Es steckte in einem gemischten Posten. Einem Karton, den ich erstanden hatte. Einem der letzten, Anfang der Siebzigerjahre.«
»Hier in der Stadt?«
»Ja.«
Pallioti nickte und stand auf.
»Ich danke Ihnen, Signor Cavicalli«, sagte er, »für Ihre Zeit.« Er überlegte kurz. »Darf ich Sie noch etwas fragen, wo ich schon einmal hier bin?«
Das blasse Gesicht sah zu ihm auf.
»Certo, Dottore. Wir stehen zu Ihrer Verfügung.«
»Il Spettro.«
»Ja.« Der Alte nickte.
»Die Geschichten sind ganz erstaunlich.«
Signor Cavicalli sagte nichts. Pallioti dachte an Eleanor Sachs, sah ihr kleines herzförmiges Gesicht vor sich, die gleichzeitig jungen und alten Züge.
»Glauben Sie, dass es ihn gegeben hat?«, fragte er.
Der Alte lächelte. »Die Menschen glauben so manches«, sagte er. »Aber das brauche ich Ihnen bestimmt nicht zu erklären.«
Signor Cavicalli streckte ihm die Hand hin. Pallioti ergriff sie. Die Finger zitterten.
»Eines allerdings«, er sah wieder zu Pallioti auf und lächelte, »finde ich wirklich erstaunlich. Ehrlich gesagt, Dottore, verblüfft es mich immer wieder.«
Pallioti spürte, dass Severino sie beobachtete. Unter dem hellen Licht wirkte das flaumige Haar wie ein weißer, schwebender Heiligenschein.
»Und das wäre?«, fragte Pallioti.
Der alte Herr schüttelte wieder den Kopf. »Dass selbst in der heutigen Zeit«, antwortete er, »die Menschen so wie zu allen anderen Zeiten grundsätzlich davon ausgehen, dass Helden Männer sind.«