25. Kapitel

Februar 1945

Ende November bekam ich einen weiteren Brief.

Als Kinder fuhren wir jedes Jahr nach Viareggio, und jedes Jahr hatte ich Angst, dass ich vergessen haben könnte, wie man schwimmt. Ich blieb am Strand stehen, schaute zu, wie Issa und Rico ans Wasser rannten und in die Wellen sprangen, und fürchtete gleichzeitig, ich könnte untergehen, falls ich ihnen folgte. Dass mich der kalte Schlag einer Welle treffen könnte und mein Körper mich nach dieser Ohrfeige im Stich lassen würde. Ich würde mit Armen und Beinen um mich schlagen, den Mund aufreißen und dann unter Wasser gezogen. Weggespült. Wie eine Muschel über den Meeresboden gerollt.

Genau so fühlte ich mich, als ich das dünne Blatt in Händen hielt und an Lodovico dachte, der immer noch lebte und jetzt in Neapel war – so, als wäre die Vergangenheit ein weites Meer, dem ich den Rücken zugewandt hatte. Ich wusste nicht, ob ich noch schwimmen konnte oder ob ich unter Wasser gezogen würde, wenn ich mich ihm wieder zuwandte.

Inzwischen wollte ich ihm gern antworten. Und ich glaubte, Lodovico anzulügen würde mir leichtfallen. Ich hatte das Gefühl, so oft gelogen und so viele Sünden begangen zu haben – ich hatte gestohlen und mich zur Hure gemacht –, dass es mir kein Kopfzerbrechen bereiten durfte, ihn anzulügen. Stattdessen merkte ich, als ich mich schließlich an den Tisch setzte und zum Füllfederhalter griff, dass die Wahrhaftigkeit zwischen uns der letzte winzige Schatz war, den ich mir bewahrt hatte und keinesfalls aufgeben wollte. Und so merkte ich, dass ich nicht wusste, was ich ihm schreiben sollte. Und wie ich es schreiben sollte. Zu guter Letzt beschränkte ich mich darauf, ihm zu erklären, dass wir außer Gefahr sind. Ich beschrieb ihm unsere Wohnung – die Piazza am oberen Ende der Straße. Das Rattern der Straßenbahn. Die Katze, die in der Wohnung gegenüber am offenen Fenster sitzt. Die Glocken der Kirche nebenan und das Hallen der Schritte im Treppenhaus.

Das alles schrieb ich ihm. Doch gleichzeitig wünschte sich etwas in meinem Herzen, ich könnte ihm zurufen: »Werde glücklich und suche dir eine andere. Weil ich nicht mehr die bin, für die du mich hältst. Geh. Weil du mich nicht mehr kennen kannst. Ich kenne mich selbst nicht mehr.«

Ich unterschrieb den Brief nicht – wir dürfen uns nicht verraten, falls er in falsche Hände gelangt. Stattdessen unterzeichnete ich mit einem Kreuz. Dann faltete ich das Papier zusammen, klebte den Umschlag zu und legte mich aufs Bett, wo ich an meinen Ring dachte, der in ein Öltuch gewickelt tief im gefrorenen Boden ruht.

Ich vertraute den Brief Issa an, die mir versprach, dass er Lodovico erreichen würde. Bis dahin waren drei Tage vergangen, denn ich bekam sie kaum noch zu Gesicht. Manchmal verstrich eine ganze Woche, während derer wir in der Wohnung ein und aus gingen, ohne uns zu begegnen. Wir entdeckten nur Spuren der anderen – einen abgewaschenen Teller, eine Tasse im Spülbecken, den Abdruck eines Kopfes auf dem Kissen –, fast als würden wir beide mit einem Gespenst zusammenwohnen.

Für Issa war jene Zeit besonders schwierig. Wenige Wochen zuvor hatte der britische General Alexander eine Direktive an die Partisanen herausgegeben, in der er ihnen vorschrieb, wie sie sich zu verhalten und wann sie zu handeln hatten. Keiner von ihnen hatte vor, diese Anweisungen zu beachten, doch die Erkenntnis, dass man ihnen nicht traute, trug nicht dazu bei, die Moral zu stärken. Doch am meisten, glaube ich, setzte ihr zu, dass sie nicht mehr in die Berge gehen konnte. Dort fühlte sie sich stets lebendiger als irgendwo sonst. Und dort war sie auch Carlo näher. Falls sie seinen Geist jemals finden würde, dann auf den hohen Pässen, auf den abgetretenen Stufen und den uralten Steinen der Via degli Dei, des Wegs der Götter. Und, zeterte sie, sie wurde gebraucht. Umgekehrt zu früher wurden die abgeschossenen Piloten nun nach Süden durch die Gotenlinie geschmuggelt und bei den Alliierten abgeliefert. Immer wieder hörte man von Zwischenfällen, von Führern, die nicht wussten, was sie taten, während Issa zurückgelassen wurde, obwohl sie dieses Gebirge so gut kannte, dass sie es angeblich blind durchqueren konnte.

Doch so schwanger, wie sie war, konnte sie unmöglich durch Schnee und Eis klettern. Außerdem war sie als Kurier unersetzlich. Je runder ihr Bauch wurde, desto weniger wahrscheinlich war es, dass jemand sie aufhielt oder verhörte, und folglich wurden die ihr anvertrauten Informationen immer bedeutsamer. Das immerhin spendete ihr etwas Trost. Bologna, Ferrara, Ravenna, Modena, Piacenza, selbst Genua und Turin – sie reiste kreuz und quer durchs Land. Jeder wusste, dass im Frühjahr die letzte Schlacht bevorstand; schon wurden Pläne entworfen, die Issa von einem CLN-Kommando zum nächsten transportierte. Mit dem Kind in ihrem Bauch. Jedes Mal, wenn ich sie sah, kam mir ihr Bauch größer vor. Manchmal trat das ungeborene Kind so fest zu, dass sie nach Luft schnappen musste und überrascht die blauen Augen aufriss.

Während uns die Alliierten aus der Luft bombardierten, wurde in den Straßen ein ganz anderer Kampf ausgefochten. Mario Carita hatte sich in Padua, nicht in Mailand festgesetzt, aber er hatte Gesinnungsgenossen hier, und ich wage zu behaupten, dass er sie nicht nur hier hatte. Im Krankenhaus sahen wir die Folgen ihrer Taten. Tagsüber behandelten wir die Damen der Gesellschaft, die aufrechten faschistischen Matronen Mailands. Nach Einbruch der Nacht wechselten die Patienten. Jede Nacht kamen drei, manchmal vier von ihnen. Angeschossen, blutend, mit gebrochenen Gliedern oder Kiefern. Manchmal war ich so müde, dass ich mich kaum noch nach Hause schleppen konnte. Dass Weihnachten war, merkte ich erst, als mir jemand auf der Straße mit einem dünnen Lächeln Buon Natale wünschte.

Als ich an jenem Heiligabend nach Hause kam, war von Issa nichts zu sehen. Ich entdeckte nicht die kleinste Spur von ihr, und als ich das Licht einschaltete, stockte mir im ersten Augenblick das Herz vor Angst – ich war überzeugt, dass schließlich das eingetroffen war, was ich immer befürchtet hatte, was, wie ich mich beinahe überzeugt hatte, eines Tages geschehen musste. Sie war erwischt und verhaftet worden, ausgespäht von den Abwehr-Spionen, von deren Existenz wir gehört haben – Italienern, die für die Deutschen arbeiten, die aussehen und reden wie wir, die sich unerkannt und tödlich wie ein Virus unter uns bewegen. Oder sie war getötet worden, eine Bombe der Alliierten hatte sie zerfetzt. Oder eines der Maschinengewehre hatte sie erfasst, die alles niedermähen, was sich auf der Straße bewegt, die blindlings aus dem Himmel feuern, in der irrigen Hoffnung, dass die Niedergemetzelten Feinde sein mögen.

Ich setzte mich an den Küchentisch, und Angst und Müdigkeit überspülten mich in ebenjener Woge, die ich seit meinen Kindertagen gefürchtet hatte. Und ich wusste, während ich in Hut und Mantel dasaß, dass ich, wenn sich meine Ängste bewahrheiteten – wenn Issa mich wirklich verlassen hätte –, nicht die Kraft hätte weiterzumachen. Ich würde es nicht einmal versuchen.

Ich weiß nicht, wie lange ich so saß, bevor ich aufstand und ins Nebenzimmer ging. Wahrscheinlich war mir kalt geworden, und ich hatte beschlossen, dass ich mich ins Bett legen und dort die Nacht durchwachen würde, bis ich wusste, was mir der nächste Tag brachte. Ich schaltete das Licht nicht ein. Ich setzte mich nur hin und zog die Schuhe aus. Darum sah ich erst, als ich die Decke zurückschlug, das kleine Päckchen auf dem Kissen liegen. Es war in Geschenkpapier gepackt und mit einer Schnur verschlossen, und es machte mich unsagbar glücklich, weil es mir zeigte, dass sie immerhin da gewesen war. Als ich es aufhob, meinte ich, die Berührung ihrer Hand zu spüren.

Zu diesem Weihnachtsfest schenkte mir Issa ein weiteres Buch. Auf die erste Seite hatte sie geschrieben: »Für 1945 – ein neues Jahr und ein neues Leben.«

Etwa drei Wochen danach kam ich abends heim und fand sie in der Küche vor, wo sie wie ein eingesperrter Tiger auf und ab marschierte.

»Sie haben es mir verboten«, erklärte sie wütend. »Sie haben mir verboten weiterzuarbeiten. Sie meinen, es sei zu gefährlich!«

Sie sah mich zornig an, als wäre es allein meine Schuld, dass sie heimgeschickt worden war, um dort ihr Kind zu erwarten. Der Befehl machte sie rasend. Ganz offensichtlich hatte sie widersprochen und sich gewehrt – nicht nur, glaube ich, weil sie »den Kampf nicht aufgeben« wollte, sondern weil sie genau wie ich versuchte, vor der Vergangenheit davonzulaufen. Ich glaube, wir beide fürchteten die Untätigkeit mehr als alle Kugeln oder Bomben – denn wir hatten Angst davor zurückzublicken.

Ich dachte an jenen Tag im September, an dem ich in den Spiegel gesehen und Lots Frau erblickt hatte. Also hatte ich mich doch nicht getäuscht.

An jenem Abend blieben wir auf und spielten Karten. Issa gewann, sie sammelte einen ganzen Haufen Papierschnipsel ein, die wir als Geld verwendeten, und das munterte sie ein wenig auf. Dann, drei Tage später, wurde in den frühen Morgenstunden und ohne Vorwarnung mein Neffe geboren. Issa schrie nur ein einziges Mal auf, und da rief sie nach Carlo.

Issas Kind war ein einziges Wunder. Als ich am nächsten Morgen zur Arbeit gehen musste, starrte sie in sein winziges Gesicht und sah wie verzaubert zu, wie sich die winzigen Händchen um ihre Finger schlossen. Vier Tage später, am Sonntag, tauften wir den Kleinen heimlich. Wir warteten bis Sonnenuntergang, badeten ihn und zogen ihm dann eine meiner weißen Blusen als Taufkleidchen an. Ich hätte gedacht, dass Issa ihn nach Carlo nennen wollte, aber sie schüttelte den Kopf.

»Nein?«, fragte ich. »Bist du dir sicher?«

Sie nickte.

»Ich weiß, wer sein Vater ist.« Sie sah erst ihren Sohn, dann mich an und lächelte – nicht so wie früher, sondern anders, von Trauer umsäumt. »Er wird in einer anderen Welt aufwachsen«, sagte sie. »Das wünsche ich mir für ihn. Carlo würde sich das auch für ihn wünschen. Er sollte mit seinem eigenen Namen sein eigenes Leben beginnen.«

Das neue Buch, das sie mir geschenkt hatte, hatte einen Anhang, in dem alle Namenstage aufgeführt waren. Wir entzifferten mit zusammengekniffenen Augen die winzigen Buchstaben, fanden den richtigen Eintrag und tauften den Kleinen nach dem Heiligen für den Tag seiner Geburt.

Ab da begann sie, sich zu verändern. Anfangs fiel mir das kaum auf. Ich war zu beschäftigt, oft arbeitete ich die Nächte durch. Und Issa, die mit ihrem Sohn zu Hause blieb, lächelte weiter. Sie lachte sogar. Trotzdem hatte sich ein Schatten über sie gelegt. Solange sie als Kurier gearbeitet und gleichzeitig darauf gewartet hatte, dass ihr Kind zur Welt kam, hatte sie sich auf diese beiden Dinge konzentrieren können. Auf das nächste Treffen, auf die Informationen, die sie weitergeben musste, auf Namen und Gesichter. Darauf, am Leben zu bleiben, bis sie Carlos Kind das Leben geschenkt hatte.

Eines Nachmittags kam ich nach Hause und ertappte sie dabei, wie sie am Tisch saß und auf etwas in ihrer Hand starrte. Als ich zu ihr ging, erkannte ich, dass es eine Fotografie war: winzig und mit eselsohrigen Ecken. Offenbar war ich nicht die Einzige, die Dinge in ihren Kleidern zu verstecken verstand. Ohne dass ich gefragt hätte, hielt sie mir das Bild hin. Aus ihrem Haarschnitt schloss ich, dass es im Frühling des Vorjahrs aufgenommen worden war, irgendwo in den Bergen, wahrscheinlich ungefähr zu der Zeit, als sie herausgefunden hatte, dass sie schwanger war. Sie stand mit Carlo auf einer Wiese. Sie hielten sich in den Armen und sahen ungeheuer glücklich aus. Und ungeheuer jung. Sie strich mit dem Finger über das Bild.

»Ich hatte ja keine Ahnung«, sagte sie. »Solange ich mit ihm zusammen war, hatte ich keine Ahnung, wie sehr ich ihn liebte.«

Ich hielt die Einkäufe in den Händen, die dürftigen Krumen, die ich mit unseren Lebensmittelkarten zusammengekratzt hatte, aber ich hatte sie völlig vergessen, als ich Issa so sah. Plötzlich konnte ich nur noch daran denken, was ich ihr angetan hatte. Was ich Carlo und Mama und Papa und Rico angetan hatte. Uns allen. Allen, die an jenem Tag dabei gewesen waren, und auch dem Kind, das jetzt aufgewacht war und strampelnd nach seiner Mutter fassen wollte – dem einzigen Elternteil, den es je kennen würde, nur weil ich damals nicht vorsichtig genug gewesen war.

Issa schob das Bild in die Tasche, stand auf und ging an das Körbchen, während ich mich abwandte und etwas vom Abendessen murmelte, damit sie mein Gesicht nicht sah.

In jener Nacht träumte ich wieder einmal von der Via dei Renai. Ich sah, wie sich die Läden scheinbar aus eigenem Antrieb öffneten und schlossen. Wie der Blumentopf umkippte und seine Erde über die Stufen ergoss. Ich sah, wie Mama vom Fenster aus auf mich herabblickte, eine Hand an die Scheibe gedrückt. Sie versuchte, mir etwas zu sagen. Ihre Lippen bildeten Worte, doch ich hörte sie nicht. Sie wurden übertönt vom Hall meiner Schritte auf dem Straßenpflaster.

Ich schreckte aus dem Schlaf und setzte mich auf. Schweiß rann mir vom Hals zwischen meine Brüste, dabei war es kalt im Zimmer. Dann merkte ich, dass Issa nicht in ihrem Bett lag. Als ich den Kopf hob, sah ich sie barfuß in der Tür stehen, den Kleinen in ihren Armen.

»Was ist? Was ist?«, fragte ich. »Was ist passiert?«

Ich nahm an, das Kind sei krank, es habe Fieber oder es hätte einen Bombenalarm gegeben.

Doch sie schüttelte den Kopf. »Nichts.«

Kalt und silbern strömte der Mondschein durchs Fenster herein.

Issa kam an mein Bett und setzte sich neben mich. Ihr Sohn starrte ihr ins Gesicht, und sie sah ihn an, wie ich es schon oft bei ihr erlebt hatte, sie musterte ihn ganz konzentriert, als würde sie in seinem kleinen Gesicht nach Carlo suchen – als könnte sie in den Kinderaugen, dem winzigen Mund, den runden Wangen jenen Teil von ihm wiederfinden, den sie in sich getragen hatte.

Ich beobachtete sie, beobachtete sie beide. Und als sie schließlich aufstand und ihn sanft in sein Körbchen legte, sah sie im kühlen Licht aus wie ein Phantom – sie sah aus, als würde sie langsam verblassen, sich mir unaufhaltsam entziehen.

»Er schläft jetzt«, sagte sie schließlich. Dann setzte sie sich wieder aufs Bett. »Ich muss mit dir reden.«

Ich schlug die Decke zurück, und sie legte sich hin. Ich spürte ihre Wärme, spürte ihr Herz an meinem schlagen, so wie früher in unseren Kindertagen. Aber dies hatte nichts Kindliches an sich. Es war, als wäre mein Traum durch die Dunkelheit zu ihr gereist.

»Denkst du manchmal daran?«, fragte sie. »An damals? An das, was damals passiert ist?«

»Ja«, sagte ich. »Ja, natürlich.«

»Ich auch. Ich kann es einfach nicht vergessen.«

»Du musst aber, Issa.« Ich wandte mich ihr zu. »Du musst es wenigstens versuchen.«

»Jemand wusste Bescheid.« Sie starrte an die Decke. Der Mond beschien ihre Wangen und ihre Nase, den Schwung ihrer Lippen und ihres Kinns. »Immer wieder gehe ich alles im Kopf durch«, sagte sie. »Alle, die dabei gewesen waren – wer es gewesen sein könnte. Ich rufe mir ins Gedächtnis, wie wir nacheinander eintrafen. Woher wir kamen. Wo wir am Vortag gewesen waren. In welcher Reihenfolge wir ankamen, und wo wir standen, als draußen der Lärm losging. Und warum. Warum könnte einer von uns das getan haben? Und wie?« Sie sah mir in die Augen. »Vor allem das verstehe ich nicht, wie? Wie? Wir kannten einander so gut. Wir waren eins.«

Der Kodex der GAP, dachte ich, die unerschütterliche Ehre und das absolute Vertrauen, auf das sie so fest gebaut hatte.

Ich hätte damals das Wort ergreifen können, hätte ihr erklären können, dass ich zu schnell gegangen war, dass ich es in meiner Zuversicht versäumt hatte, in die Schaufenster zu blicken oder nach Gesichtern Ausschau zu halten, die mir auffällig oft begegneten. Ich hätte ihr von der Hintertür erzählen können, hätte ihr klarmachen können, dass ich mit den Schlüsseln einen Fehler gemacht haben musste. Oder mit den Fensterläden. Ich hätte ihr erklären können, wie unvorsichtig ich gewesen war.

Aber ich tat es nicht. Denn in Wahrheit fürchtete ich mich. Vor der Nemesis. Vor dem, was sie sagen und was sie unternehmen würde. Ich hatte Angst, dass ich mit meinem Leichtsinn den Pakt gebrochen hatte und dass Issa mich darum mitsamt ihrem Kind verlassen würde. Dass sie mich allein zurücklassen würde. Schlimmer noch, ich hatte Angst, dass ich damit ihre Gefühle für mich abtöten würde.

So blieb ich liegen und ließ sie weiterreden.

»Wir waren so vorsichtig«, sagte sie. »Wir haben niemandem etwas verraten. Niemand außer uns wusste Bescheid, und wir waren alle dort. Und niemand außer uns. Und wir waren … wir hatten so vieles gemeinsam durchgemacht, wir wären füreinander gestorben. Immer wieder muss ich daran denken, wie sie in diesem Graben lagen. Jeder Einzelne …«

Sie zählte ihre Finger ab, so wie damals, als sie noch ganz klein gewesen war und zu zählen gelernt hatte. Neben mir im Bett liegend, hielt sie die Hände in die Luft und wiederholte wie eine Litanei: »Du warst da, und ich war da und Rico und Carlo und Mama und Papa und …«

Sie hörte auf zu zählen, aber ihre Hände verharrten über der Decke, die Finger ins Mondlicht gereckt. Als würde sie etwas zu greifen versuchen.

»Alle sind tot«, sagte sie. »Diese Stille, Cati. Sie will mir nicht mehr aus dem Kopf. Als das Klopfen aufhörte, hinter der Mauer. Und ich sehe sie immer noch. Papa und Rico und Carlo und die Arme und Beine … Sie wollten, dass ich es weiß.«

Sie sah mich im Dunkeln an.

»Darum fuhren sie mit mir hinauf, Cati, in die Hügel. Sie wollten, dass ich es weiß. Ich sollte es mit eigenen Augen sehen und erkennen: dass einer aus unserer Mitte uns verraten hat.«