13. Kapitel
30. Januar 1944
Donata Leone ist gestorben. Vor drei Wochen. Ganz plötzlich ging es mit ihr zu Ende. Bisweilen kommt es so. Ich habe das schon öfter erlebt. Und trotzdem, muss ich zugeben, hatte ich mir eingeredet, dass es ihr allmählich besser ginge, dass sie irgendwie überleben würde. Sie war mir zur Freundin geworden, und ich vermisse sie.
In ihrer letzten Nacht saß ich bei ihr und hielt lange ihre Hand. Ich sah aus dem Fenster und hielt Ausschau nach dem grauen Schleier, der in diesen Stunden den Himmel durchzieht. Um die Wahrheit zu sagen, dachte ich dabei weniger an Donata, obwohl ich die ganze Zeit ihren Griff spürte. Ich dachte an das letzte Jahr, als wir noch offiziell »im Krieg« waren und als alles seinen halbwegs normalen Gang nahm. Und dann dachte ich an unsere Kindheit und an unsere Skireisen und daran, dass ich nie wirklich gerne Ski gelaufen war, aber die Berghütten und das Hotel genossen hatte, wo wir allabendlich gemeinsam vor dem Feuer saßen, während draußen der Schnee fiel. Damals, als der Winter noch etwas war, worauf man sich freuen konnte. Daran dachte ich, bis etwas mich nach unten sehen ließ und ich erkannte, dass sie gestorben war.
Sie sah so sehr nach Issa aus – einer dünneren, bleicheren Ausgabe meiner Schwester –, dass ich kurz dachte: »So wird es sein, wenn Issa stirbt, wenn sie schließlich gefangen genommen und erschossen wird oder wenn sie in den Bergen zu Tode stürzt. So wird sie dann aussehen.« Ich beugte mich vor und strich Donata das Haar aus der Stirn. Dann tat ich etwas, das ich noch nie getan habe. Ich öffnete ihren Nachttisch, nahm den kleinen Kamm heraus, den sie so oft benutzt hatte, und kämmte ihr Haar. Sie war so stolz auf ihr Haar gewesen. Als sie starb, war ihr nichts mehr geblieben. Sie sollte wenigstens ein letztes Mal schön aussehen.
Danach stand ich auf. Auf der Station war alles still – ich hörte die Patienten ruhig atmen, schlafen, gelegentlich abgehackt im Traum aufstöhnen, Schritte auf dem Gang. Niemand beobachtete mich. Niemand sah mich. Ich blickte auf Donata, dann zog ich behutsam die Decke über ihr Gesicht, kehrte ihr den Rücken zu und ging durch die Tür und über den Gang bis in meine kleine Kammer, ihre Handtasche unter dem Arm.
Ich will ganz ehrlich sein, ich weiß nicht, ob ich sie wirklich stehlen wollte. Ich weiß nicht, was ich damit vorhatte. Vielleicht wollte ich ihre Habseligkeiten in meinem Stationsbuch auflisten. Doch dann kam mir der Gedanke, dass das sinnlos war, denn sie hatte keine Angehörigen mehr. All ihre Verwandten waren bei dem Bombenangriff auf Genua ums Leben gekommen. Ich wusste, wie alt sie waren, wie sie hießen, als was sie gearbeitet hatten. Und ich wusste, dass sie alle tot waren. Darum behielt ich die Handtasche. Ich redete mir ein, dass Donata mir die Handtasche ohnehin geschenkt hätte. Und so schob ich sie unter das Kopfkissen auf meiner Pritsche.
Als ich an jenem Abend nach Hause kam, war Issa auch dort. Aus ihr und Papa sprudelten die Neuigkeiten nur so heraus – achtzehn jener neunzehn Mitglieder des Faschistischen Großrates, die im vergangenen Sommer für die Absetzung Mussolinis gestimmt hatten, waren nach einem Schauprozess in Verona hingerichtet worden. Noch mehr Männer, die für ihre Tapferkeit gefeiert worden waren und das mit dem Leben bezahlt hatten. Unsere Morgendämmerung hatte nicht lange angehalten.
Mama sagte nichts dazu, und ich wollte auch nicht darüber reden, darum dauerte es bis nach dem Essen, bevor Issa mich zur Seite zog und mir erklärte, dass das Funkgerät eingetroffen war. Sie nahm mich mit auf ihr Zimmer und zeigte es mir.
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, als ich es sah. Schließlich murmelte ich: »Ich weiß nicht, wie du mit diesem Ding unter deinem Bett schlafen kannst. Das ist, als würdest du auf einer Bombe schlafen.«
Und zu meiner Überraschung nickte Issa.
»Ich will es auch nicht hierhaben.« Sie lachte, aber ich sah ihr an, dass sie das nicht komisch fand. Dann sagte sie: »Du hattest recht. Mama und Papa mögen zwar behaupten, dass sie helfen wollen, trotzdem ist es zu gefährlich. Ich weiß nur nicht, wo ich es stattdessen hinbringen soll.« Sie seufzte. »Ihnen kann ich wenigstens trauen.«
Ich sah sie prüfend an. Unter ihren Augen lagen dunkle Ringe, und ihre Wangen waren eingefallener als bei unserer letzten Begegnung. Vielleicht hatte es etwas mit Donata zu tun, doch ich spürte, wie mich heiße Angst durchbohrte. In einem grellen Stich, fast wie ein Blitz. Erst in diesem Augenblick ging mir auf, wie sehr ich mich immer darauf verlassen hatte, dass Issa stärker war als ich. Stärker als wir alle.
»Du siehst müde aus.« Ich setzte mich neben sie.
»Wir haben viel gestritten.« Sie lächelte, aber auch diesmal wirkte ihr Lächeln unecht. »Die Männer streiten andauernd, seit sie in der Stadt festsitzen. Ich will zurück in die Berge. Aber das wäre Irrsinn, solange der Schnee nicht geschmolzen ist, und das hier?«, sie beugte sich vor und tätschelte die Kiste, »Das hier ist wichtiger. Es wird bald etwas geschehen.« Sie sah mich an. »Ich weiß zwar nicht, was, aber die Amerikaner haben etwas angedeutet. Es ist bald so weit.«
Sie hatte recht. Etwas lag in der Luft. Wir alle konnten es spüren. Die Bombenangriffe waren heftiger geworden. Livorno war praktisch zerstört, und überall wurden die Bahngleise beschossen. Inzwischen schienen die Alliierten genauer zu zielen, denn die Nachschublinien waren schwer getroffen. Auch darum waren die Lebensmittel so teuer geworden.
Aber mich beschäftigte etwas anderes. Ich zerbrach mir den Kopf über ihre Bemerkung, wem sie alles nicht trauen konnte. Ich wollte sie nach den Streitereien fragen, aber ehe ich dazu Gelegenheit bekam, sagte sie: »Du musst anfangen, dir alles einzuprägen, Cati.« Sie drückte meine Hand. »Du musst anfangen, dir alles einzuprägen, was du siehst. Und alles zu zählen.«
Wie die Tropfen, dachte ich. Wie die zäh dahintropfende Zeit, die ich während der letzten Anprobe meines Hochzeitskleids gezählt hatte. Damals hatte ich das Zählen, allerdings vergebens, unterbinden wollen, weil im Krankenhaus nur die Hysterikerinnen ständig zählten – sie gingen händeringend auf und ab und zählten Stufen, Krankenschwestern, Betten, Fenster. Sie zählten die Schritte in den Wahnsinn. Jetzt bekam ich den Befehl, absichtlich eine von ihnen zu werden – meinen Verstand aufzugeben, für die Alliierten. Enrico würde natürlich sagen, das sei meine Pflicht.
Ich hätte fast aufgelacht und Issa von meinen Ängsten erzählt, aber sie war schon aufgestanden, streckte sich und fuhr sich mit den Händen durchs Haar.
»Papa muss mir helfen«, sagte sie. »Wir müssen ein Versteck finden, in das wir JULIA bringen können. Ein Versteck, in dem es …« Sie schüttelte lächelnd den Kopf. Ich wusste, dass sie »sicher« sagen wollte und dass sie sich darüber amüsierte, dass es nirgendwo mehr sicher ist. Darum sagte sie einfach: »Wir müssen sie von hier wegbringen.«
Und in diesem Moment öffnete ich den Mund und hörte mich sagen: »Ich kann euch helfen.«
Issa blieb stehen und sah mich an.
»Ich kann euch helfen«, sagte ich noch einmal.
Und so begann es.
Ausnahmsweise tat Issa das, was ich ihr auftrug, und kam am nächsten Nachmittag ins Krankenhaus. Sie saß auf meiner Pritsche, als ich meinen Nachmittagsrundgang beendet hatte.
»Rutsch rüber«, sagte ich schnell, und bevor ich es mir anders überlegen konnte, hatte ich sie zur Seite geschoben und Donata Leones Handtasche unter meinem Kissen hervorgezogen.
Ich wusste, wo Donata wohnte und dass ihre Wohnung unter dem Dach lag, weil sie mir das erzählt hatte, während wir gemeinsam Laken geflickt hatten. Sie hatte mir von ihrem kleinen Zimmer erzählt und von ihren Büchern und von den wenigen Erinnerungsstücken, die sie aus den Ruinen ihres Hauses in Genua gerettet hatte. Ich glaube, sie hatte in Worten den Zufluchtsort wiedererschaffen, den sie sich hier gebaut hatte, weil sie Angst hatte, dass sie ihn nie wiedersehen würde.
Jetzt überließ ich ihn Issa.
»Niemand weiß, dass sie gestorben ist«, sagte ich. »Es gibt niemanden, den wir benachrichtigen konnten. Ich habe sie nicht ins Buch eingetragen. Sie hatte keine Familie. Das Zimmer steht leer.« Dann zog ich in einer Eingebung Donatas Papiere und ihre Lebensmittelkarten aus der Tasche. Ich sah auf ihren Namen. Donata Maria Leone. Es gab niemanden mehr auf dieser Welt, der sie vermissen würde.
»Hier.« Schnell legte ich alles in Issas ausgestreckte Hand. »Vielleicht«, sagte ich, »könnt ihr die hier brauchen.«
Und so wurde ich zur Diebin.
Vor acht Tagen haben wir erfahren, worauf wir so lange gewartet haben. Die Alliierten haben knapp fünfzig Kilometer südlich von Rom einen zweiten Brückenkopf gebildet. Er wird hart umkämpft. Deutsche Truppen werden nach Süden verlegt, und JULIA will alles darüber erfahren. Darum sammeln wir alles, was wir an Informationen zusammenkratzen können, alles, was wir finden können, und schicken es in, wie ich es nenne, »Liebesbriefen« an ROMEO.
Donatas Zimmer war ein großer Erfolg. Alles klappte so wie erhofft. Issa und Papa gingen einfach in das Haus, stiegen die Treppe hinauf und schlossen die Tür auf. JULIA fühlte sich dort ausgesprochen wohl – sie wohnt gern weit oben, weil dann ihre Antenne am besten funktioniert. Das Problem ist nur, dass es zu gefährlich ist, öfter als ein- oder zweimal vom selben Fleck aus zu funken. Die GAP haben ihr Versprechen gehalten und den Krieg »in die Heimat getragen«, sodass der Feind keine Nacht ruhig schlafen kann – zum Beispiel, indem sie vergangene Woche auf dem Bahnhof eine Gruppe deutscher Offiziere mit Handgranaten in die Luft gesprengt haben, genau wie eine Woche davor vor dem Excelsior. Infolgedessen gibt es viel mehr faschistische Patrouillen als früher. Jeder verdächtigt jeden. Und die Deutschen können Funksignale aufspüren. Sie sind gut darin.
Darum muss JULIA ständig weiterziehen, wenn sie weiterfunken soll.
Leider gibt es nur wenige Gebäude, in die wir uns schleichen können, ohne Verdacht zu erregen. Mama hat vorgeschlagen, auf eigene Faust durch die Stadt zu pirschen und nach Verstecken zu suchen, aus denen JULIA senden kann – sie behauptet, Damen »eines gewissen Alters« würde niemand wahrnehmen, vor allem, wenn sie eine Einkaufstasche trügen. Aber das konnte ich nicht zulassen. Also habe ich mich bis zum Boden erniedrigt.
Inzwischen sterben viele unserer Patienten auf die eine oder andere Weise. Und wenn sie sterben, durchwühle ich ihre Sachen, bevor ich den Todesfall ins Stationsbuch eintrage. Ich durchwühle ihre Sachen, ich schreibe ihre Adresse aus ihren Papieren ab oder entlocke sie ihnen im Gespräch, und wenn sie allein gewohnt haben oder ich feststelle, dass ihre Familie gestorben oder geflohen ist, dann stehle ich ihre Schlüssel und gebe sie Issa. Wenn ich glaube, dass sie den Partisanen helfen könnten, stehle ich auch ihre Papiere. Und ihre Kleider. Ihre abgetragenen Stiefel. Ihre Handschuhe und Wollsocken und Mäntel, die nach Zigarrenrauch oder Parfüm riechen. Bis jetzt hat man mich noch nicht erwischt, aber wenn es passiert, werde ich lügen. Ich werde behaupten, ich hätte keine Ahnung, wohin die Papiere und Schlüssel verschwunden sind. Ich werde behaupten, dass im Krankenhaus viel verloren geht. Ich werde erklären, dass die Menschen in so schweren Zeiten traurigerweise zu stehlen beginnen.
Issa umarmt mich oft und versichert mir, dass ich dadurch zu einer Heldin geworden bin – einer richtigen Partisanin. Aber ich fühle mich nicht so. Ich fühle mich wie eine Lügnerin und Grabräuberin. Ich fühle mich wie eine Krähe, die an den Toten herumpickt.