14. Kapitel

Nach dem Gespräch mit Eleanor Sachs hatte Pallioti das Café mit einem zwiespältigen Gefühl verlassen. Er glaubte eigentlich nicht, dass sie die beiden Männer umgebracht hatte. Trotzdem sagte ihm sein Instinkt, und zwar eindringlich, dass sie gelogen hatte.

Er konnte Enzo anrufen und ihre Vergangenheit durchleuchten lassen, sie dann vorladen und ihr allgemein das Leben zur Hölle machen. Er konnte auch gar nichts unternehmen und abwarten, was sie als Nächstes tun würde. Oder er entschied sich für einen Zwischenweg – indem er sie überprüfen ließ und dann erst einmal abwartete.

Er merkte, dass er am ehesten zu dieser Möglichkeit neigte, auch weil ihm dieses Spiel insgeheim gefiel. Lügner interessierten ihn, vor allem, wenn sie solche Mühen auf sich nahmen wie Eleanor Sachs. Er hatte keine Ahnung, was sie eigentlich beabsichtigte, aber das würde er irgendwann herausfinden – und sei es nur, weil sie es ihm erzählen würde. Irgendwann begannen alle Lügner zu reden. Man brauchte nur Geduld. Denn im Grunde ihres Herzens waren sie alle Aufschneider.

Über dieses Paradox – dass der Reiz jeder Gaunerei zum guten Teil darin liegt, damit anzugeben, wodurch man gleichzeitig alles in Gefahr bringt – sann er nach, während er den Weg zu Saffys Galerie einschlug und sich dabei durch die nächtlichen Straßen der Stadt bewegte wie Jonas durch den Bauch des Wals.

Noch als er angekommen war und ein Glas Sekt in die Hand gedrückt bekommen hatte, überlegte er, wie sie die Verbindung zwischen Roberto Roblino und Giovanni Trantemento überprüfen könnten. Welches Spiel Dr. Eleanor Sachs auch treiben mochte, es war wahrscheinlich irrelevant. Im Gegensatz zu der Verbindung der beiden alten Männer, wenn es denn eine gegeben hatte. Während er an seinem Glas nippte, hatte er sich schon fast in die trübselige Erkenntnis geschickt, dass er oder wahrscheinlicher Guillermo viel Zeit am Telefon und/oder in einer Bibliothek und am Computer verbringen müsste, um festzustellen, ob sich auch nur eine der Behauptungen der guten Dr. Sachs belegen ließ, als sich ihm gänzlich unerwartet eine mögliche Lösung bot, und zwar in der Gestalt von Maria Grandolo.

»Alessandro!«

Obwohl es November war, trug Maria nur ein dünnes Fähnchen von einem Kleid. Sie hatte vielleicht ein Spatzenhirn, aber das steckte definitiv im Körper einer, nun ja, Göttin. Ihre absolut makellosen Beine schienen kein Ende zu nehmen. Ihr Bauch war flach. Ihr Haar glänzte, und ihr Gesicht bildete ein perfektes Oval. Am faszinierendsten jedoch fand Pallioti an ihr – tatsächlich war es das Einzige, was er faszinierend an ihr fand –, dass sie zwar jeden Mann für etwa drei Minuten bezaubern konnte, aber auch nicht länger. In der vierten Minute wich der Wunsch, mit ihr zu schlafen, unweigerlich einem panischen Fluchtreflex.

Maria hielt ihn an den Schultern fest – sie war kräftiger, als sie aussah – und küsste ihn überschwänglich auf beide Wangen.

»Alessandro!«, rief sie wieder aus und stellte damit unter Beweis, dass sie wahrhaftig wusste, wie er hieß.

»Hallo, Maria, du siehst gut aus.«

»Wir waren im Urlaub! Ein letztes Mal vor dem grässlichen Winter. Es war wunderbar! Wir haben das ganze Hotel übernommen. Du hättest dabei sein sollen! Wir hatten so viel Spaß. Im Spa. Ich wollte Seraphina überreden, aber du weißt selbst, wie sie ist. Immer nur arbeiten! Arbeiten! Arbeiten! Genau wie du, Alessandro.« Sie verstummte und holte Luft. »Aber wenigstens bist du heute Abend gekommen«, meinte sie dann. »Seraphina hat mir gar nichts davon erzählt. Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich dich eingeladen. Wir gehen danach noch essen.« Maria nannte eines der schicksten Restaurants in der Stadt. »Ich kann ja anfragen, ob sie noch eine Person hinzufügen können!«

Ohne Palliotis Proteste zu beachten, hatte sie ihr Handy gezückt. Dann war ihm plötzlich die Organisation eingefallen, die Saffy erwähnt hatte – die von Marias Familie geleitet wurde und sich um ehemalige Partisanen kümmerte –, und er war abrupt verstummt. Natürlich hätte er seinen nicht unbeträchtlichen Einfluss spielen lassen können, oder er hätte sich persönlich an die Organisation wenden und um Hilfe bitten können. Aber damit wäre die Sache offiziell geworden. Und möglicherweise an die Öffentlichkeit gedrungen. Was nicht nur absolut unflorentinisch, sondern ein Gräuel für die so verschwiegenen Grandolos gewesen wäre.

Maria hatte ihn leicht verdattert angesehen, als er, statt zu protestieren, lächelnd die Hand an ihren Ellbogen gelegt und gesagt hatte: »Wie reizend. Ich würde liebend gern mitkommen.«

Später hatte er sich ermahnt, dass es nur ein geringer Preis war und dass er damit im schlechtesten Fall wenigstens das ausgefallene Sonntagsessen wettmachen konnte, weil er auf diese Weise den Abend mit Saffy und Leo verbrachte, die ihn während der folgenden Stunde immer wieder angestarrt hatten, als hätte er komplett den Verstand verloren.

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Wie erwartet war der Abend zu laut, das Restaurant prätentiös und das Essen mittelmäßig gewesen. Aber Pallioti hatte überlebt, und dafür hatte er bekommen, was er wollte. Geschmeichelt, dass er sich dazu herabgelassen hatte, mit ihr zu sprechen, hatte ihm Maria jede nur erdenkliche Hilfe angeboten. Als sie in ihrem Eifer noch angerufen hatte, bevor auch nur die erste Runde Champagner ausgeschenkt worden war, hatte er sich wie ein Heiratsschwindler gefühlt. Aber ihr Anruf hatte Früchte getragen. Als er am nächsten Morgen ins Büro kam, überreichte ihm Guillermo einen Zettel mit einer Adresse und eröffnete ihm, er habe einen Termin bei einer Wissenschaftlerin von »Gedenkt der Gefallenen«.

Jetzt stand er vor einer Büroflucht in einem teuren, anonymen Gebäude nicht weit von der Piazza D’Azeglio. Falls er erwartet hatte, hier auf vornehme Exzentriker zu stoßen, ältere Damen in Strickjacken oder kleine alte Professoren in speckigen Tweedanzügen, die mit alten Aktenordnern hantierten, dann hatte er sich getäuscht. Die junge Frau, die ihn empfing, wirkte frisch und professionell. Sie lächelte breit und streckte ihm eine gepflegte Hand entgegen.

»Ispettore«, sagte sie. »Wir haben Sie bereits erwartet.«

Sie geleitete ihn in einen Raum mit mehreren Sofas, niedrigen Tischen voller Zeitschriften und, so wie es aussah, ihrem Schreibtisch. Darauf lagen neben einem Blumentopf mit einer Orchidee und einem riesigen Computer ein paar akkurat gestapelte Papiere. Nirgendwo war auch nur ein Aktenordner zu sehen. Sie hätten sich im Vorzimmer eines teuren Psychiaters, eines Anwalts oder einer Immobilienfirma befinden können.

»Ich bin Graziella Lombardi«, stellte sie sich vor, während sie über den dicken blauen Teppich auf eine geschlossene Tür zusteuerte. »Die Verwalterin. Ich würde Ihnen natürlich gern helfen. Aber unsere Direktorin hat darauf bestanden, Sie persönlich zu empfangen.«

Sie klopfte an die Tür – die wie der übrige Raum blassgolden gestrichen war, wobei der Türstock blassblau hervorgehoben worden war –, drückte sie einen Spaltbreit auf und sagte: »Er ist jetzt da, Signora.«

Pallioti hörte ein Murmeln. Dann stand jemand aus einem Stuhl auf, die Tür schwang auf, und die Direktorin von »Gedenkt der Gefallenen« trat in den Raum.

Sie trug einen blassrosa Pullover, dazu passenden Lippenstift und ein schlichtes Perlenkollier. Die weißen Haare umrahmten das Gesicht in losen, weichen Locken. Pallioti hatte keine Ahnung, wie alt sie war, und begriff sofort, dass das auch nicht zählte. Die Frau, die ihm die Hand entgegenstreckte, widerlegte alle Vorurteile, dass Schönheit etwas mit Jugend zu tun hatte.

»Ispettore Pallioti«, sagte sie, und auf ihrem Gesicht leuchtete ein Lächeln auf, »es ist mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen. Ihre Schwester ist meiner Nichte wirklich eine gute Freundin.«

Pallioti reichte ihr nervös die Hand. Er hatte nicht gedacht, dass Maria sich an ihre Großtante persönlich wenden würde. Ihm hätte ein Archivar genügt, mehr als genügt. Plötzlich hatte er Skrupel, Cosimo Grandolos Witwe wegen einer äußerst banalen Angelegenheit zu belästigen.

»Bitte, bitte.« Signora Grandolo deutete auf die offene Tür, die offensichtlich zu ihrem Büro führte. »Kommen Sie doch herein«, sagte sie. »Und sagen Sie mir, wie ich Ihnen helfen kann.«

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»Mein Mann gründete diese Organisation ziemlich bald nach dem Krieg. Haben Sie ihn je kennengelernt?«

Signora Grandolo hatte sich hinter ihrem ausladenden, blank polierten Schreibtisch niedergelassen. Der Nebel vom Vorabend hatte sich verzogen, und die Sonne, die durch die hohen Fenster hereinströmte, brachte die Büchervitrinen an den Wänden sowie das kastanienbraune Schlachtschiff von einem Schreibtisch zum Leuchten.

»Nein.« Cosimo Grandolo war erst wenige Monate zuvor gestorben. »Ich bedauere zutiefst«, sagte Pallioti, »dass ich nie die Ehre hatte. Es ist ein schrecklicher Verlust für unsere Stadt. Und bestimmt auch für Sie.«

Signora Grandolo nahm das Kompliment mit einem Lächeln zur Kenntnis.

»Damals litten so viele Menschen Not, müssen Sie wissen«, sagte sie, »nach dem Krieg. So viele Partisanen wurden in der Blüte ihres Lebens getötet, und viele von ihnen hatten Familie. Sie hatten Eltern, Großeltern, die von ihnen abhängig gewesen wären, hätten sie den Krieg überlebt. Und natürlich in vielen Fällen Kinder.«

Sie breitete die Hände aus, und die Sonne brach sich in ihrem Ehering.

»Cosimo begriff, dass sie Hilfe brauchten. Das ganze Land, die neue Regierung steckte noch in den Kinderschuhen. Deutschland hatte uns ausbluten lassen.« Sie sah ihn kurz an. »Das wissen nur die wenigsten – wie rücksichtslos uns die Besatzer damals ausgeplündert hatten. Ich rede dabei nicht von Gemälden oder Pelzmänteln. Sondern vor allem von Maschinen – sie raubten sie aus unseren Fabriken und transportierten sie ab, müssen Sie wissen. Genau wie unsere Goldreserven. Sprichwörtlich jede Münze. Als wir nach der Besatzung und nach zwanzig Jahren Faschismus endlich wieder befreit waren, hatte mein Mann das Gefühl, dass wir zumindest versuchen sollten, den Familien jener Menschen zu helfen, die dafür gekämpft hatten.«

Pallioti nickte. Er wusste so gut wie alle Italiener, wie sehr der Krieg das Land verwüstet hatte. Aber ehrlich gesagt hatte er nie einen Gedanken daran verschwendet, was aus den Familien geworden war, denen man jene Generation geraubt hatte, die eigentlich alle anderen hätte versorgen sollen – jene Menschen zwischen zwanzig und vierzig, die damals eigentlich die Rolle des Ernährers übernehmen sollten.

Er schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid. Wissen Sie, eigentlich habe ich nie darüber nachgedacht.«

Signora Grandolo sah ihn kurz versonnen an. Dann lächelte sie.

»Das haben die wenigsten«, sagte sie. »Über die praktischen Konsequenzen nachgedacht, meine ich. Nachdem alle Siegesparaden abgehalten waren. Und die es taten, sind inzwischen fast alle tot.« Sie zuckte mit den Achseln. »Warum hätte jemand in Ihrem Alter darüber nachdenken sollen? Sie haben andere Sorgen. Und der Staat hat immer für Sie gesorgt. Aber damals musste so vieles andere geregelt werden. Und woher sollten wir bis dahin die Anziehsachen für unsere Kinder nehmen? Ihnen Bücher kaufen? Wer sorgte dafür, dass die ausgebombten Nannas und Nonnos, für die so viele junge Menschen gefallen waren, ein Dach über dem Kopf fanden? Der Krieg zerstört nicht nur Länder und Fabriken und Brücken.« Sie sah aus dem Fenster. »Sondern vor allem Familien.«

Ein Sonnenstrahl fing sich in ihrem Haar und ließ es silbern aufleuchten. Unter ihrer zarten Haut konnte er den klaren Schnitt ihrer Wangenknochen und ihrer geraden Nase erkennen.

»Das Problem war weitaus größer, als irgendjemand damals vermutet hatte«, fuhr sie fort. »Haben Sie eine Vorstellung«, fragte sie und sah ihn wieder an, »wie viele Mitglieder von Widerstandsbrigaden, -organisationen und -gruppen – wie Sie es auch nennen wollen – es im Sommer 1945 gab?«

Pallioti schüttelte den Kopf. »Nein, muss ich zu meiner Schande gestehen.«

»Das ist keine Schande. Es tut mir leid, wenn ich belehrend wirke. Das möchte ich nicht.« Sie lächelte. »Es ist ein Privileg des Alters. Schätzungsweise waren es rund zweihunderttausend. Darunter rund fünfundfünfzigtausend Frauen. Von denen wiederum an die fünfunddreißigtausend im bewaffneten Widerstand waren.«

»Das hätte ich nicht gedacht.«

»Nein«, sagte sie. »Nun gut. In dieser Beziehung war Italien eine Ausnahme. Unsere Frauen übermittelten nicht nur Botschaften oder durchtrennten Telefonleitungen. Sie kämpften Schulter an Schulter. Und sie starben. Genau wie die Männer. Mein Mann war während des Krieges interniert. Er war in der Armee und wurde nur Stunden nach dem Waffenstillstand verhaftet und nach Deutschland abtransportiert. Er hatte zeitlebens Schuldgefühle, weil er damals nicht mitkämpfen konnte. Weil er nicht für sein Land gekämpft hatte. Sein ganzes Leben versuchte er, das wiedergutzumachen.«

Die Geschichte kam ihm nicht unbekannt vor.

»Ich glaube«, sagte Pallioti, »dass es vielen damals ähnlich ging. Vor allem Männern.«

Signora Grandolo lächelte. »Ja. Ich glaube, dieses Kreuz haben vor allem Männer zu tragen. Nicht ausschließlich. Aber ich war schon immer überzeugt, dass Frauen besser darin sind, ihre Reue irgendwann abzulegen. Jedenfalls«, meinte sie dann, »wollte Cosimo nach besten Kräften helfen. Daher«, sie schloss in einer ausgreifenden Geste das Büro ein, »›Gedenkt der Gefallenen‹. Inzwischen würde es natürlich auch ohne mich reibungslos funktionieren. Dass ich immer noch hier sitze und mich einmische, ist nur ein Zeitvertreib für eine alte Frau mit zu viel freier Zeit. Interessanter als Stricken oder Kartenspielen.« Sie lachte. »Und es ist gefahrloser, als mich in das Leben meiner Töchter einzumischen. Haben Sie Kinder, Ispettore?«

Pallioti schüttelte den Kopf.

»Nur die Polizei.« Signora Grandolo lächelte.

Und Seraphina, lag ihm auf der Zunge. Dann merkte er, dass sie ihn aufziehen wollte.

»Also«, sagte sie schnell, bevor er verlegen werden konnte, »ich nehme an, Sie sind nicht hergekommen, um über solche Themen zu sprechen – die Skrupellosigkeit der Frauen und die Empfindsamkeit der Männer.«

»Nein.« So unterhaltsam das auch gewesen wäre.

Signora Grandolo betrachtete ihn aufmerksam. Dann sagte sie: »Also, erzählen Sie. Was kann ich für Sie tun? Maria meinte, Sie wollten mich um einen Gefallen bitten.«

»Ja.« Pallioti lehnte sich in den Sessel zurück, den sie ihm angeboten hatte. »In einem Wort: Giovanni Trantemento. Oder genauer gesagt in zweien.«

Signora Grandolo nickte. »Das habe ich mir fast gedacht.« Sie zog eine Schublade auf, nahm eine Akte heraus und legte sie auf ihren Schreibtisch. »Ich habe mir die Freiheit genommen und Graziella gebeten, alles zusammenzustellen, was wir über ihn wissen. Leider ist es nicht viel. Eigentlich beschäftigen wir uns weniger mit den Partisanen selbst als mit ihren hilfsbedürftigen Angehörigen – vor allem den Kindern. Die inzwischen selbst Eltern oder Großeltern sind. Wie es Kinder meistens werden.« Sie zauberte eine Brille hervor, setzte sie auf und schlug die Akte auf. »So wie es aussieht, hatte er keine.«

Von seinem Sitzplatz aus konnte Pallioti erkennen, dass die Akte nur ein einziges beschriebenes Blatt enthielt. »Nein. Eine Schwester und ein Neffe in Rom sind seine einzigen lebenden Angehörigen. Der Vater fiel in Russland. Die Mutter starb Ende des Krieges. In der Schweiz.«

Sie sah auf. »In der Schweiz?«

»Ja. Er hatte sie ins Ausland gebracht. Die Mutter starb dort in einem Sanatorium. Die Tochter heiratete später und zog dann nach Rom.« Nach allem, was er inzwischen über »Gedenkt der Gefallenen« erfahren hatte, war es höchst unwahrscheinlich, dass man hier mit den Trantementos zu tun gehabt hatte, ging ihm verspätet auf. »Verzeihen Sie«, sagte er. »Jetzt, wo ich weiß, womit Sie sich beschäftigen, bezweifle ich, dass Signor Trantemento ein Fall für Sie gewesen war.«

Sie nickte, schloss die Akte und schob sie ihm über den Tisch zu. »Dann«, sagte sie, »weiß ich nicht recht, wie ich Ihnen sonst noch helfen könnte.«

»Ehrlich gesagt«, meinte Pallioti, »gäbe es da noch jemanden.«

Ihre blauen Augen fixierten ihn. »Noch jemanden?«

Pallioti beugte sich vor. »Einen gewissen Roberto Roblino. Möglicherweise aus dem Süden. Er kämpfte ebenfalls bei den Partisanen und wurde, genau wie Trantemento, zum sechzigsten Jahrestag mit einem Orden ausgezeichnet. Wir haben Schwierigkeiten«, ergänzte er mit wohlüberlegten Worten, »seine Vergangenheit auszuleuchten.«

Während er das sagte, dachte er an Eleanor Sachs’ kleines, eindringliches Gesicht, das so ganz anders wirkte als das der Frau ihm gegenüber. Und an ihre Andeutung, dass Giovanni Trantemento und Roberto Roblino möglicherweise befreundet gewesen waren. Andererseits hatte er heute Morgen mit Enzo gesprochen, der ihm erneut erklärt hatte, dass sie keine Verbindungen zwischen den beiden entdeckt hätten. Genauso wenig, wie sie Roberto Roblinos Geburtsurkunde gefunden hatten.

»Soweit ich erfahren habe«, erläuterte er, »wurden nach dem Krieg viele offizielle Unterlagen … verwechselt.«

Seine Wortwahl ließ sie lächeln.

»Sehr diplomatisch, Ispettore. Verwechselt ist sehr höflich ausgedrückt. Verschlampt trifft es besser. Oder in vielen Fällen vernichtet.«

»Es wäre also nicht ungewöhnlich, wenn beispielsweise eine Geburtsurkunde verloren gegangen wäre?«

»Ganz im Gegenteil. Geboren, gestorben, verheiratet, getauft. In vielen Fällen gab es keine Unterlagen mehr, dass jemand irgendwas davon durchgemacht hatte.«

»Aber es ist Ihnen trotzdem gelungen, die Verwandten der Partisanen ausfindig zu machen?«

»Nun ja«, bestätigte sie, »zumindest in vielen Fällen. Wir werteten damals alle noch verfügbaren Unterlagen aus. Und ja, wir haben uns oft auf mündliche Auskünfte verlassen. Auf Briefe, die nach Hause geschickt worden waren, auf Berichte von Kameraden oder Kommandeuren – alles Mögliche. Trotz alledem«, seufzte sie, »würde ich nicht vor Überraschung vom Stuhl fallen, wenn wir das eine oder andere Buch und so manches Paar Socken für Kinder gekauft hätten, deren Eltern sich nicht wirklich heldenhaft verhalten haben. Aber was diesen Mann angeht – wenn er aus dem Süden stammt, lebte er damals hinter den Linien der Alliierten. Falls er mit den Partisanen gekämpft hat, dann nicht in seiner Heimat. Wie gesagt, wir befassen uns fast ausschließlich mit den Angehörigen von Partisanen, die aus dieser Gegend stammen. Es gibt woanders ähnliche Organisationen. Eine leistet in Turin exzellente Arbeit – im Piemont war man natürlich sehr aktiv. In Padua gibt es eine weitere.«

Sie griff nach einem Füllfederhalter, schraubte den Deckel ab, legte ihn dann wieder ab und ballte mehrmals hintereinander die Hand zur Faust. »Arthritis«, sagte sie und schüttelte den Kopf. »Wirklich ermüdend. Ich nehme an, darüber brauchen Sie sich noch keine Gedanken zu machen.« Ehe Pallioti etwas darauf erwidern konnte, griff sie erneut nach dem Stift und zog dann einen Notizblock heran. Während sie schrieb, sagte sie: »Ich kenne die Leiter der Organisationen in Turin und Padua persönlich. Bestimmt werden sie Ihnen gern weiterhelfen.«

»Ich weiß leider nicht«, gestand Pallioti, »wo Roblino damals aktiv war.«

Signora Grandolo hielt inne und sah auf. »Sie meinen, Sie halten es für möglich, dass er damals in Florenz war?«

Pallioti nickte. »Vielleicht ist er mit mindestens einem Partisan von hier in Verbindung geblieben. Also, ja, ich halte das für möglich.«

»Also, in diesem Fall«, sagte sie, »sollten wir nachsehen.« Sie wandte sich ihrem Computer zu. »Nachdem Sie mich und nicht den Mann selbst fragen, gehe ich davon aus, dass Signor Roblino nicht mehr unter uns weilt?«

Es überraschte ihn nicht, dass sie offenbar keine Boulevardblätter las, die auch heute Morgen darüber berichtet hatten. Pallioti schüttelte den Kopf.

»Leider nein.«

Im Gegensatz zu dem Schlachtschiff auf Graziella Lombardis Schreibtisch war Signora Grandolos Computer schlank und silbern und sah aus, als wöge er höchstens ein Pfund. Sie tippte kurz auf der Tastatur herum und starrte dann auf den Bildschirm. Von seinem Platz aus konnte Pallioti nicht erkennen, was darauf zu sehen war. Jedenfalls ließ es sie die Stirn runzeln.

»Neeein«, erklärte sie gedehnt, während sie mit dem Finger langsam am Computerrand abwärtsstrich. »Roberto. Robbicci. Robeno. Aber kein Roblino. Nein, tut mir leid. Bei uns ist niemand mit diesem Namen verzeichnet. Natürlich«, sie sah ihn über die Brille hinweg an, »könnte ich mich für Sie umhören, wenn Sie das möchten. Sie benachrichtigen, falls sich irgendwas ergibt. Wenn er hier«, sie tippte auf den Computer, »nicht auftaucht, bezweifle ich allerdings, dass wir etwas finden. Graziella hält unsere Dateien fortwährend auf dem neuesten Stand.«

Das überraschte Pallioti nicht sonderlich. Trantemento und Roblino hätten sich überall kennenlernen können. Vielleicht in einem Netzwerk für ehemalige Partisanen – schließlich deuteten die Erinnerungsstücke, die Giovanni Trantemento aufbewahrt hatte, darauf hin, dass er nicht ganz und gar mit der Vergangenheit abgeschlossen hatte –, oder sie waren sich zum ersten Mal in Rom während der Feiern zum sechzigsten Jahrestag begegnet. Oder Dr. Sachs hatte ihn angelogen. Eigentlich fühlte sich Pallioti, statt enttäuscht zu sein, eher bestätigt.

»Verzeihen Sie«, sagte er und rätselte gleichzeitig, ob er damit nicht zu weit ging, »ich möchte Ihnen nicht die Zeit stehlen, Signora. Aber haben Sie jemals Berichte oder Geschichten über eine Gestalt namens Il Spettro gehört?«

Noch während er das sagte, begann sie zu lächeln.

»Ach, Ispettore«, sagte sie. »Da hat Sie jemand zum Besten gehalten. Diese alten Räuberpistolen über den geheimnisvollen Rächer von Florenz.«

»Das ist leider gut möglich«, bekannte er. »Sie glauben demnach nicht, dass irgendetwas an diesen Geschichten dran ist?«

Sie lächelte. »Nein. Es tut mir leid. Jeder liebt Geschichten. Vor allem, wenn sie spannend sind, nicht wahr? Aber nein …« Sie schüttelte den Kopf. »Vielleicht ist das der Zynismus des Alters. Vielleicht«, schränkte sie ein, »glaube ich auch lieber an wahre Helden. Es gab damals viele Helden, müssen Sie wissen. Und die meisten von ihnen vollbrachten außergewöhnliche Dinge. Aber für mich war und bleibt das Außergewöhnlichste daran, dass sie allesamt erschreckend gewöhnliche Männer und Frauen waren.«

»Bitte entschuldigen Sie«, sagte er. »Das hätte mir klar sein müssen. Die Quelle war nicht besonders zuverlässig.«

»Nun, das sind die wenigsten. Ganz besonders, wenn es sich um den Krieg dreht. Das liegt in der menschlichen Natur. Jeder möchte sich selbst als Helden im Gedächtnis behalten. Ich weiß zum Beispiel, dass man vor dem sechzigsten Jahrestag große Schwierigkeiten hatte, all die Geschichten zu verifizieren, die mit einem Orden belohnt werden sollten.«

»Hatten Sie damit zu tun?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Wie gesagt, wir widmen uns vor allem den noch lebenden Angehörigen. Und den Gedenkstätten hier in der Stadt. Natürlich waren wir zu den Feierlichkeiten eingeladen. Cosimo wäre für sein Leben gern hingefahren. Aber damals war er schon zu krank. Letztendlich verfolgten wir die Feier im Fernsehen, so wie fast das ganze Land.«

Pallioti nickte. Signora Grandolo war entschieden zu höflich, um nervös zu werden oder auf die Uhr zu blicken, aber ihm war klar, dass er ihre Zeit stahl. Er hatte ihre Freundlichkeit bereits überstrapaziert.

»Signora«, verabschiedete er sich. »Vielen Dank. Für Ihre Hilfsbereitschaft.«

Sie sah lächelnd zu, wie er aufstand. »Es war mir ein Vergnügen.« Sie erhob sich ebenfalls und kam hinter ihrem Schreibtisch hervor. »Ich hoffe, Sie zögern nicht zu fragen, falls ich irgendwann noch einmal etwas für Sie tun kann. Wie gesagt, das ist mein persönliches Hobby. Bitte.« Sie überreichte ihm die Unterlagen, die sie über Giovanni Trantemento zusammengestellt hatten. »Meine Karte liegt bei. Mit meiner Durchwahl. Falls ich irgendwie helfen kann.«

»Danke.«

Ihre Hand war weich und fest; ihr Händedruck unerwartet kräftig.

»Es ist sonst nicht meine Art, Polizisten zu ermahnen«, sagte sie und lächelte. »Aber ich bin eine alte Frau, und Sie sind jung genug, um mein Sohn zu sein. Also ein Wort – sobald es um den Krieg geht, schwimmen plötzlich verdächtig viele große Fische im Teich. Mich hat die lebenslange Erfahrung gelehrt, dass besonders große Geschichten oft einen faulen Kern haben.«

Er seufzte. »Da haben Sie bestimmt recht. Gestern Abend habe ich so eine gehört.«

»Neben der über Il Spettro?«

»Genau. Etwas über eine Belohnung für jeden verratenen Partisan. Jemand hat mir erzählt, dass man dafür fünf Pfund Salz bekam.«

Sie hielt immer noch seine Hand. Ihre Augen blickten ihn an.

»Das war leider keine faule Geschichte.«

»Sie meinen, das ist wahr?«

Sie nickte. »O ja. Kaum vorzustellen, nicht wahr? In der Stadt von Botticelli und Michelangelo. Obszön. Aber ich fürchte, vor sechzig Jahren betrachteten viele das als angemessenen Preis für ein Menschenleben.«