9. Kapitel

Das Haus war riesig und stand tief im Schatten. Von Palliotis Standort auf der anderen Straßenseite sah es so aus, als würde es von den hohen, ausladenden Zedern erdrückt. Deren Äste strichen über das Giebeldach, betasteten die verwitterten Ziegel und die schwarzen Dachrinnen.

Eigentlich hatte er nicht herkommen wollen, wenigstens nicht heute Abend. Er war auf dem Heimweg noch eingekehrt, hatte sein Glas an einen abgelegenen Tisch mitgenommen und das kleine rote Buch herausgezogen. Danach hatte er lange still dagesessen. Schließlich hatte er sein Handy gezückt, in der Polizeizentrale angerufen, seinen Rang angegeben und keine Ruhe gegeben, bis er bekommen hatte, was er suchte.

In den städtischen Adressbüchern gab es keine Cammaccios. Dafür hatte es die Banducci gegeben. Nur eine einzige Familie. Natürlich konnte es sich um eine andere Familie handeln – vielleicht waren es ganz andere Banducci, die nur zufällig denselben Namen hatten. Aber das glaubte Pallioti nicht. Ihr Grundstück lag am Hügel unterhalb des Hauses, auf das er jetzt blickte. Seit 1940 hatte es der Familie gehört. Ob die Banducci es nun bis nach Ravenna geschafft hatten oder nicht, jedenfalls hatten sie überlebt, wenigstens einige von ihnen, in ihren geliehenen Kleidern, und waren später heimgekehrt. Sie waren nach dem April 1945 zurückgekehrt, um Anspruch auf die Ruinen ihres ehemaligen Heims zu erheben.

Die Villa, die damals in Brand gesetzt worden und bis auf die Grundmauern abgebrannt war, hatte man, was vielleicht verständlich war, nicht wieder aufgebaut. Stattdessen hatten die Banducci die Wohnungsnot nach dem Krieg zu ihrem Vorteil genutzt. Laut der städtischen Unterlagen gab es in dem Haus, das sich jetzt auf dem Grundstück erhob – einem von Le Corbusier inspirierten Zeitzeugnis, das für Pallioti aussah wie eine zur Seite gekippte Schuhschachtel –, insgesamt drei Wohnungen. Eine oben, eine unten, dazu ein Penthouse, in dem die Banducci selbst wohnten. Wahrscheinlich, dachte Pallioti, der kleine Junge, den Caterina damals nicht hatte leiden können und der mittlerweile vermutlich ein Banker, Anwalt oder Geschäftsmann im Ruhestand war und selbst Kinder hatte, die wiederum Kinder hatten und mit diesen zusammen darauf warteten, dass er endlich starb – falls er nicht schon tot war –, damit sie endlich selbst in das Penthouse ziehen und die Küche renovieren und die Miete für die Wohnungen darunter erhöhen konnten.

Oberhalb des Wohnhauses befand sich ein kleiner Park hinter einem verschlossenen Tor. Danach folgte die dunkle Villa, die Pallioti gesucht hatte – jenes Haus, das laut der Adresse in Caterinas kleinem rotem Buch früher der Familie Cammaccio gehört hatte. Inzwischen war es im Besitz der University of Wisconsin und beherbergte etwas, das sich »Renaissance Foundation« nannte. Die Hände tief in den Taschen vergraben, stand er auf der leeren Straße und dachte an Krankenwagen. Und an eine verängstigte junge Krankenschwester mit einer Rotkreuzbinde am Arm. Sowie an einen großen, dünnen jungen Mann, der sich Il Corvo nannte und dessen Mutter Jüdin war.

Waren sie ein Paar gewesen? Hatte sie ihm das Buch als Geschenk überlassen? Zur Aufbewahrung? Hatte er darum ihr kleines rotes Buch bekommen? Warum hatte er es all die Jahre in seinem Safe aufbewahrt?

In der letzten Stunde war das Wetter umgeschlagen. Regen wehte von den Bergen herab, allerdings nicht so heftig wie an dem Tag, an dem Giovanni Trantemento gestorben war, sondern in dünnen, nadelstichfeinen Tropfen. Pallioti fragte sich, ob Trantemento – falls er recht hatte und Il Corvo in Wahrheit Giovanni Trantemento hieß – dieses Haus gekannt hatte. Ob er wohl, vielleicht als alter Mann, hergekommen war und hier gestanden hatte, um sich zu erinnern – genau dort, wo Pallioti jetzt stand?

Der Eisenzaun zwischen der Straße und dem Garten vor dem Haus wurde von einer kränklichen Lorbeerhecke verstärkt. Durch die toten und laublosen Lücken konnte Pallioti den verblassten Verputz an der Fassade erkennen. Am Ende der kurzen, gewundenen Einfahrt erhob sich eine Haustür mit zwei Stufen und dunklen Lampen. Links und rechts reihten sich verschlossene Fensterläden. Wenn er etwas hügelabwärts ging, konnte er gerade noch die Steinbrüstung einer Terrasse erkennen, die sich auf der Rückseite des Hauses entlangzuziehen schien und von der aus man einen freien Blick über die Stadt hatte. Im ersten Stock standen die Fensterläden offen. Die Scheiben leuchteten hinter den Zedern hervor. Der Wind fegte in die Äste und brachte sie zum Schwanken, bis es fast so aussah, als würden ihm die Fenster zublinzeln.

Auf der Straße rührte sich nichts. Die Straßenlaternen brannten. In einem Viertel wie diesem war sonntags jeder zu Hause, der überhaupt noch nach Hause kam. Hinter den zugezogenen Vorhängen im Mietshaus der Banducci glühten Lichter. Zwei Smarts, ein Fiat und ein Alfa standen säuberlich auf ihren gekennzeichneten Stellplätzen. Drei Fahrräder waren an ihrem Ständer festgeschlossen. Auf dem Flachdach zeichnete sich das Eisengeländer der Dachterrasse in silbernem Zickzack gegen den dunkler werdenden Himmel ab.

Das Mietshaus der Banducci war weder schön noch romantisch, doch hinter den Panoramascheiben stritten Kinder, sie gingen zur Schule, kamen nach Hause, aßen zu Abend und sahen fern. Eltern stritten, gingen zur Arbeit, kamen nach Hause, machten Abendessen und hatten wütenden oder erfüllenden oder gelangweilten Sex. Es wurde Fußball geschaut. Zeitungen wurden gelesen. Hunde wurden ausgeführt. Kurz gesagt, das Leben ging seinen Gang. Hier lebten Menschen. Anders als in der Villa der Cammaccios, wo niemand mehr wohnte.

Pallioti trat vom Bordstein und überquerte die menschenleere Straße. Er spähte durch den Zaun. Der Garten stieg neben dem Haus steil an. Am Fuß einer weiteren riesigen Zeder mit ausladenden Ästen kauerte, so wie es aussah, eine Garage. Die Straßenlaterne leuchtete immerhin so hell, dass er eine neue Asphaltschürze erkennen konnte, die man um die Garage herum gegossen hatte, um Stellplätze für mehrere Autos zu schaffen, sowie einen überwucherten, unter einer Winterdecke liegenden Rasenfleck. Die Zedern erbebten. Sie kratzten über den Verputz und klopften gegen die blinden Scheiben.

Das Tor war verschlossen, aber nicht mit einer Kette gesichert. Es gab kein Vorhängeschloss. Er musste sich beherrschen, um nicht die Hand aus der warmen Tasche zu ziehen und nach dem nasskalten Riegel zu greifen. Festzustellen, ob er ihn anheben konnte, um ihn dann, falls er sich bewegen ließ, zurückzuschieben und in den Garten zu treten, wie Caterina es Tausende Male getan haben musste, wenn sie erschöpft von ihrer Arbeit im Krankenhaus heimkam. Oder unterkühlt und übermüdet, aber zu verängstigt – oder erleichtert –, um Schlaf zu finden, nachdem der Krankenwagen sie von Fiesole zurückgebracht und abgesetzt hatte, damit sie wieder, mit ihrer Uniform getarnt, in der Stadt untertauchen konnte. Er fragte sich, wie sie wohl an jenem Abend nach Hause gekommen war, im Schnee – und ob sie dabei Il Corvos Finger auf ihren Lippen gespürt hatte. Ob ihr seine Absolution, falls man es so nennen wollte, für das, was sie getan, wozu sie sich gezwungen hatte, in den Ohren geklungen hatte.

Die Lichter eines vorbeifahrenden Autos bohrten sich wie Suchscheinwerfer durchs Dunkel. Einen Augenblick lang glitzerte der Schotter auf der Einfahrt. Pallioti sah auf und fragte sich, hinter welchem Fenster wohl Caterinas Zimmer gelegen hatte. Dann fiel es ihm wieder ein. Natürlich, es war auf der anderen Seite des Hauses gewesen. Von ihrem Fenster aus hatte sie über den Garten auf die Stadt geblickt, sie hatte die Berge sehen können und sich ausgemalt, wie ihre Schwester dort unter den Sternen wanderte.

Er konnte erklären, dass er Polizist war. Behaupten, dass er Ermittlungen durchführte. Seine Finger stahlen sich aus der Tasche, lösten sich aus den tiefen Kaschmirfalten. Der Regen fühlte sich kalt auf seinem Handrücken an, fast so kalt wie der mit Rost besprenkelte Eisenriegel. Das Tor war abgeschlossen.

Pallioti drehte sich um und ging schnell weg, und seine Schritte hallten hohl über den Asphalt.

Auf der Via Romano strahlten die Schaufenster hinter dem Muster der Rollgitter hervor. Ein paar Läden hatten noch geöffnet. Der Supermarkt. Die Weingenossenschaft, deren Tafel auf der Straße anzeigte, dass es heute eine Weinprobe gab. In der Apotheke suchte ein kleiner Asiat angestrengt ein Regal mit beschrifteten Schachteln ab, während eine Frau im dunklen Kostüm vor der Theke stand, den tropfenden Regenschirm fest in der Hand, und ihn streng beobachtete. Der Polsterer schloss gerade seine Werkstatt ab. Er zog den Reißverschluss seiner Jacke hoch, ließ die Schlüssel in die Tasche gleiten, bog in eine kleine Gasse ein und eilte in die Dunkelheit davon. Pallioti ging weiter. Fünf Minuten später stand er vor San Felice. Die schwere Tür war nur angelehnt. Ohne lange nachzudenken, trat er ein.

Die Kirche war eine von flackernden Kerzen erhellte Höhle. Pallioti schloss die Tür und spürte, wie sich die Kälte gleich einem Mantel über ihn legte. Die feuchte, leicht nach Weihrauch duftende Luft schien seit hundert Jahren nicht bewegt worden zu sein. Allmählich gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit. Er war nicht der einzige Besucher, in den Kirchenbänken entdeckte er mehrere zusammengekauerte Schatten. Vor ihm schien ein mattes Licht auf den Altar. Neben ihm, gleich hinter dem Taufbecken, flackerten und tanzten die Flammen über einer Reihe von Opferkerzen. Als er eine Münze in den Opferstock warf, hallte das Scheppern wie ein Schuss durch die Kirche. Er wartete kurz ab, bis der Lärm verhallt und erstorben war, dann zündete er mit einem Span eine der Kerzen im roten Glas an und sah auf zu Giottos Kruzifix über dem Hochaltar.

Das Blattgold auf dem Rahmen leuchtete im Lichtspiel der Kerzen. Es hätte vulgär gewirkt, wären die Winkel in der Umrandung nicht so spröde und scharf gewesen. Das Kruzifix selbst war in tiefem Rotbraun gehalten, der Farbe von Holz oder Blut. Christi Heiligenschein hob sich strahlend davon ab, umrahmte den gesenkten Kopf mit dem kupferfarbenen Haar und schien auf die schmalen, nackten Schultern wie auch auf die gestreckten Sehnen in seinen Armen. Neben seiner rechten Hand war seine weinende Mutter abgebildet. Zu seiner Linken bedeckte einer der Jünger, in einen roten Umhang gehüllt, gepeinigt sein Gesicht. In der Cimasa darüber fütterte ein Pelikan sein Junges. Pallioti hatte irgendwo gelesen, dass es ein Symbol für Christi Opfer an die Welt war.

Er dachte an Caterina, die sich nicht umzudrehen gewagt hatte, die vor Schaufenstern stehen geblieben und schließlich hierhergekommen war, wo sie sich in eine der klammen Kirchenbänke gesetzt und gespürt hatte, wie ihre Hände und Füße allmählich einfroren.

Natürlich hatte damals das Kruzifix nicht hier gehangen. Giottos Christus mit dem grauen Teint war bestimmt abgehängt und versteckt worden, so wie alle anderen Kunstschätze in der Stadt. Ein Florenz ohne seine Madonnen und Heiligen war für Pallioti unvorstellbar. Ohne Cherubim. Geister und Engel. Leer wie eine Muschelschale musste sich die Stadt angefühlt haben. Der wahllosen Bosheit der Menschen ausgeliefert.

In der zweiten Reihe bewegte sich jemand. Einen Moment lang glaubte er, es sei eine Frau. Aber er hatte sich getäuscht. Ein alter Mann rutschte aus der Bank. Er sah nach oben und beugte vor dem großen Goldrahmen das Knie. Giottos Christus hatte die Augen geschlossen. Eine Locke strich über seine Schulter. Der alte Mann drehte sich um und wackelte langsam durch den Mittelgang davon. Er nickte Pallioti zu. Als er die Tür aufzog, brach der Lärm der Stadt herein. Das Tröten einer Hupe, Stimmengeschnatter. Aufgeregt umflatterten die Geräusche das Kruzifix. Dann verhallten sie und sanken langsam auf den kalten Steinboden herab.

Als Pallioti wieder im Freien stand, fühlte er sich schlagartig todmüde. Er würde im Lupo Zuflucht suchen, dort etwas essen und danach nach Hause gehen. Die Piazza vor San Felice war früher vielleicht ein richtiger Platz gewesen, inzwischen war es nicht mehr als eine breitere Stelle auf dem Gehsteig. Ein paar Autos schossen vorbei, so nahe, dass er sie hätte berühren können. Es nieselte immer noch. Der kürzeste Weg hätte durch die Via Romano geführt, aber nach der dunklen Kirche waren ihm die Lichter zu grell, der Lärm zu laut. Er brachte nicht die Energie auf, sich zwischen den Menschen durchzudrängen oder sich an nasse Mauern zu drücken, um nicht auf die Fahrbahn geschubst zu werden. Also bog er in die kleine Gasse neben San Felice ein, froh, der modernen Welt zu entkommen und ins Mittelalter zurückkehren zu können.

Auf der einen Seite erhob sich eine Brandmauer. Aus ein paar kleinen Fenstern hoch oben im Haus gegenüber drang Licht und legte einen öligen Schimmer auf die nassen Pflastersteine. Pallioti ging mitten auf der Straße. Hier konnten keine Autos fahren – es hätte kaum ein Pferd durch diese Gasse gepasst –, und die Vespas waren schon von Weitem zu hören. Im Regen klangen sogar seine Schritte gedämpft. Er wanderte durch die Stille und trieb fast schlafwandlerisch dem Borgo Tegolaio entgegen. Dort musste er einen Wagen der Elektrizitätswerke vorbeilassen. Dann überquerte er die Fahrbahn und verschwand in der nächsten Gasse.

Anfangs hörte er es nur ganz leise. Wie ein Klacken. Dann steigerte es sich zu einem Rattern, als würde ein Kind mit einem Stock an der Wand entlangschaben. Pallioti blieb stehen und drehte sich um, doch hinter ihm war niemand. Offenbar war das Geräusch von oben gekommen. In der Stadt konnte die Nacht oft täuschen. Er ging weiter und hörte es gleich darauf wieder. Diesmal konnte es keinen Zweifel geben. Es war das scharfe Klicken von Absätzen – von Frauenschuhen auf dem Pflaster.

Die nächste Straße war belebt, doch die danach war wieder leer und wurde hauptsächlich von den Schaufenstern der Antiquitätenhändler und Polsterer erhellt. Auf halber Strecke bog Pallioti in die kleine Gasse ein, die ihn zum Lupo führen würde. Er konnte schon die kleine Piazza sehen. Der Widerschein der Restaurantbeleuchtung spiegelte sich in dem regennassen Mauerwerk der abgeschlossenen Kirche gegenüber. Er wurde schneller. Plötzlich merkte er, wie hungrig er war, und fragte sich, was Bernardo ihm wohl heute Abend auftischen und welchen Wein er dazu empfehlen würde. Eine Windbö kam auf, blies über die Dächer, fegte durch die Gasse und klatschte feine Regentröpfchen gegen seinen Hinterkopf.

Pallioti blieb stehen und drehte sich um.

Hinter ihm haftete die Dunkelheit an den hohen, fensterlosen Mauern. Verwirrt starrte er in die Schatten. Der schmale Lichtfleck am Eingang der Gasse waberte, und kurz meinte er, etwas oder jemanden zu sehen. Er blieb ganz still stehen. Wie von selbst wanderten seine Finger in die Manteltasche. Dort ertasteten sie den abgewetzten Einband des kleinen roten Notizbuchs. Er war sicher, dass sich die Dunkelheit in der Gasse an einer Stelle verdichtete. Dass sich irgendwo ein Schatten bewegte. Ohne dass er es wollte, begannen seine Lippen zu flüstern, einen Namen zu bilden. Dann, noch bevor er ihn aussprechen konnte, begann etwas laut und wild zu piepen.

Ein paar Tauben flogen auf. Sie machten einen solchen Lärm, dass Pallioti ein paar Sekunden brauchte, um zu begreifen, dass das infernalische Piepen aus seinem neuen Handy drang, und ein paar weitere Augenblicke, um sich ins Gedächtnis zu rufen, in welcher Tasche es steckte, es herauszuziehen und das verdammte Ding aufzuklappen. Gleich darauf hörte er Enzo Saenz’ Stimme.

»Können Sie noch einmal herkommen?«

»Jetzt?« Pallioti sah auf das hell erleuchtete Fenster des Lupo. Es war Sonntagabend, er hatte den ganzen Tag gearbeitet. Und er war halb verhungert. »Was gibt es denn?«, fragte er. »Können Sie mir das sagen?«

»Klar.« Enzo Saenz stieß ein Bellen aus, das vielleicht ein Lachen sein sollte. Unwillkürlich drehte Pallioti dem Fenster des Restaurants den Rücken zu. »Sie haben eine Leiche gefunden«, erklärte Enzo. Pallioti hatte sich bereits in Bewegung gesetzt. »In einem gottverlassenen Kaff im Süden, in der Nähe von Brindisi.«

Pallioti merkte, wie er schneller wurde.

»Der Tote ist ein gewisser Roberto Roblino«, fuhr Enzo fort. »Vierundachtzig Jahre alt. Man hat ihm in den Hinterkopf geschossen. Und ihm den Mund mit Salz vollgestopft.«

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1. Dezember 1943

Ich habe mein Hochzeitskleid weggepackt. Schwer wie ein Leichnam lag es in meinen Armen, als ich es vom Bügel hob.

Ich wartete, bis Mama ausgegangen war, dann stieg ich auf den Speicher, suchte mir einen alten Koffer und schleppte ihn nach unten. Jetzt ist alles verschwunden – der glatte Satin, die venezianische Spitze, die winzigen Nadelstiche, das strenge Gesicht und das leise Getuschel der Signora und ihrer Mädchen. Zusammen mit Lodovicos Briefen. Und seinem Foto. Ich ertrage seinen Blick nicht mehr.

Ich habe alles in das Seidenpapier gehüllt, in das meine Aussteuer gepackt wurde. Schließlich nahm ich einen letzten Bogen und breitete ihn so glatt wie möglich über das Kleid. Ich kniff die Kanten fest, damit das Papier möglichst ordentlich und glatt anlag. Danach strich ich immer wieder darüber, ich bügelte es mit der flachen Hand, bis alle noch so kleinen Falten ausgemerzt waren und nicht einmal die kleinste Welle zu sehen war. Zuletzt holte ich die winzigen weißen Satinknöpfe aus meiner Kommodenschublade und verstreute sie wie Blütenknospen auf dem Seidenpapier.