39. Kapitel

Langsam wich der Winter dem Frühling. An Ostern eröffnete Saffy eine neue Ausstellung und kündigte an, dass die Familie Benvoglio, die sonst im September in den Bergen Urlaub machte, im kommenden August zum ersten Mal ans Meer fahren würde. Sie hatten eine Villa auf Sardinien gemietet, die weit mehr Platz als benötigt bot. Saffy wollte in den Bergen auf der Insel Aufnahmen machen und hätte es gern gesehen, wenn Pallioti mitgekommen wäre. Wenigstens eine Woche lang. Am besten den ganzen Monat. Als er einwandte, dass er am Meer nicht »besonders gut aufgehoben« wäre, erklärte sie ihm, er solle sich nicht so anstellen. Woraufhin er meinte, dass er möglicherweise vergessen hatte, was man während der Ferien so macht, und sie erwiderte, dass es genau darum ginge.

Schließlich schlossen sie einen Waffenstillstand. Aber als es schließlich wärmer wurde, merkte er, dass er immer wieder vor Schaufenstern stehen blieb, in denen Strandspielsachen für kleine Jungen ausgestellt waren.

Er hatte gerade eine dieser Stöbertouren beendet und war auf dem Rückweg ins Büro, als er an einem Zeitungsstand vorbeikam und wie angewurzelt stehen blieb. Die Wochenzeitung, die nicht nur Fußballtermine und Filmkritiken bot, sondern auch Promiklatsch und eine Glosse darüber, wen man wo in welchen Klamotten gesehen hatte, war am Vorabend erschienen. Ein Stapel Zeitschriften lag gebündelt auf dem Gehsteig. Donata Grandolos Gesicht starrte zu ihm auf. Das Foto war von einem schwarzen Trauerrand umgeben. Darüber stand in dicken Lettern: Bekannte Wohltäterin und Witwe des Bankers Grandolo stirbt friedlich im Bett.

Die Straße erstarrte um ihn herum. Sie zerbröckelte und löste sich auf wie ein Bild aus Zucker. Stattdessen machte sie dem eleganten Wohnraum Platz, dem Knistern und Knacken der Flammen, dem Schimmern eines libellenblauen Schals. Um ihn herum stieg, warm und scharf zugleich, in einer Wolke von leisem Gemurmel der Duft eines Blumenstraußes auf.

Pallioti schluckte. Er angelte ein paar Münzen aus der Hosentasche, sah zu, wie der Straßenverkäufer die Schnur durchtrennte und ihm ein Exemplar reichte. Dann ging er weiter, die Zeitung fest an die Brust gepresst. Aber er las sie nicht, er sah sie nicht einmal an. Er war zu beschäftigt damit, der Gestalt eines Mädchens zu folgen, das ihm zu entschwinden drohte, das sich in Männerkleidung und schwerem Pullover durch die Menge schlängelte oder das mit offenem Mantel über der Schwesternuniform um die Ecke eilte, ein weißes Band mit einem aufgestickten roten Kreuz um den Arm gewunden.

Erst im Büro las er den dazugehörenden Artikel. Er sagte kaum etwas aus. Ihre Familie hatte gestern Abend erklärt, dass sie gestorben war. Irgendwann im Lauf der vorangegangenen Nacht hatte ihr Herz aufgehört zu schlagen. Sie war zweiundachtzig Jahre alt geworden, hinterließ zwei Töchter, zwei Schwiegersöhne, drei Enkelkinder und zahlreiche Großnichten und Großneffen. Die Trauerfeier würde in San Miniato abgehalten.

Pallioti faltete die Zeitung zusammen und steckte sie in die unterste Schreibtischschublade. Er hatte an diesem Morgen zwei Besprechungen. Enzo war zurzeit mit Ermittlungen beschäftigt, die möglicherweise den nächsten großen Betrugsfall betrafen. Und er war mal wieder mit dem Bürgermeister zum Mittagessen verabredet.

Erst als er davon zurückkam und um kurz nach drei in sein Büro trat, entdeckte er den Brief. Er lag mitten auf seiner Schreibunterlage. Auf der Vorderseite stand nur sein Name ohne eine Adresse. Er kannte die Handschrift nicht, trotzdem wusste er sofort, wer ihn geschrieben hatte.

Pallioti griff nach dem dicken, cremefarbenen Umschlag, blieb stehen und wog ihn in seiner Hand. Er sah aus dem Fenster. Es war ein klarer, wunderbarer Maitag. Kleine weiße Wölkchen ballten sich zusammen und verwehten im nächsten Moment. Als Kind hatte man ihm erzählt, dass die Wolken von den Schlägen der Engelsflügel über den Himmel getrieben wurden.

Er trat aus seinem Büro. Guillermo sah auf. Als er den Umschlag sah, zog er die Stirn in Falten.

»Ich weiß nicht, wie der hierhergekommen ist, Dottore. Ich nehme an, der Wachdienst weiß Bescheid. Jedenfalls lag er hier, als ich aus der Mittagspause kam.«

Pallioti nickte.

»Hoffentlich ist er nicht … vielleicht sollten Sie ihn lieber nicht öffnen. Ich bringe ihn nach unten und lasse ihn noch einmal durchleuchten. Oder ich rufe den Wachdienst. Diese Vollidioten.«

Guillermo griff schon nach seinem Telefon, aber Pallioti schüttelte den Kopf.

»Machen Sie sich keine Gedanken, Guillermo«, sagte er. »Das ist schon in Ordnung.«

»Woher wollen Sie das wissen? Dottore, es könnte …«

»Es ist nichts weiter«, sagte Pallioti. »Wirklich nichts. Nur ein Brief aus dem Jenseits.«

Auf der Piazza tummelten sich die Tauben und die Touristen. Der Blumenverkäufer hatte eine neue Reihe von bunten Zinkeimern aufgestellt. Leuchtendes Rot und Gelb und das tiefe Violett der ersten Irisblüten erstrahlten über den grauen Steinplatten. Unter der Loggia stand auf einer Holzkiste ein lorbeerbekränzter Pantomime in einem weißen Bettlaken. Als Pallioti an ihm vorbeiging, wandte er sich um, ein Dante mit ausgestreckter Hand.

Die Bank stand am anderen Ende des Platzes. Die meisten Menschen wussten nichts von ihr, weil sie im Schatten und halb verdeckt hinter der nicht besonders ansehnlichen Statue einer Persönlichkeit aus dem Mittelalter stand, deren Name, falls ihn je jemand gekannt hatte, längst vergessen war. Pallioti wischte ein paar Krümel beiseite. Dann setzte er sich und riss den Umschlag auf. Das kleine rote Buch glitt in seine Hand. Er ließ es in die Tasche gleiten und zog den Brief heraus. Er war mehrere Seiten dick. Ihre Initialen waren in dezentem Grau in das elegante Pineider-Papier geprägt. Diesmal hatte sie mit dunkelblauer Tinte geschrieben. Die Buchstaben waren fest und wankten nicht.

Mein lieber Freund, hatte sie geschrieben.

Ich hoffe, ich darf Sie so nennen. Ich glaube eigentlich schon, trotz unserer Differenzen – die alles in allem nicht besonders groß waren, nicht wahr? – und obwohl wir in diesem Fall auf verschiedenen Seiten standen. Ich kann mir keinen würdigeren Freund vorstellen. Zu einer anderen Zeit wären wir die besten Waffenkameraden gewesen. Vielleicht sogar mehr. Aber die Zeit verteilt die Karten auf eigensinnige Weise. Wir müssen das Blatt nehmen, das uns das Leben in die Hand gibt.

Wenn Sie das lesen, dann, weil ich nicht mehr bin. Und ich nehme an, Sie haben inzwischen erraten, wer ich bin. Oder eher, wer ich war.

Sie hatten natürlich recht, und zwar in praktisch allem – und vor allem in den entscheidenden Punkten. Ich hätte Ihnen gerne alles erzählt. Wirklich. Und ich hätte es auch getan, wenn ich allein davon betroffen gewesen wäre – einer alten Frau wie mir macht es nicht mehr viel aus, Zeit im Gefängnis zu verbringen. Und ich bin sicher, dass die Gefängnisse inzwischen entschieden angenehmer sind als damals die Villa Triste. Aber es geht nicht nur um mich, müssen Sie verstehen. Da sind meine Töchter. Schwiegersöhne. Enkel. Meine Familie. Sie sind mein ganzer Schatz. Cosimo überließ sie meiner Obhut, und ich kann nicht zulassen, dass ihre Mutter und Großmutter hinter Gittern landet. Bitte verzeihen Sie mir das.

Was das andere angeht, hatten Sie, wie erwähnt, fast in allem recht. Allerdings könnte ich mir vorstellen, dass Sie gern die ganze Geschichte erfahren würden – etwas sagt mir, dass Sie nur schlecht mit Ungewissheiten leben können –, und um ehrlich zu sein, möchte ich sie auch ein einziges Mal erzählen dürfen. Darum werde ich, wie es alle guten Geschichtenerzähler empfehlen, am Anfang beginnen. Oder eher gesagt dort, wo Sie zu lesen aufgehört haben.

Nur wenige Minuten, nachdem Caterina jene letzten Worte geschrieben hatte, klopfte es. Sie wurde gerade noch fertig. Sie huschte ins Schlafzimmer, weil sie etwas vergessen zu haben behauptete, und versteckte notdürftig ihr kleines rotes Buch. Nicht dass es einen Unterschied gemacht hätte. Ich hätte es auf jeden Fall gefunden. Ich habe immer alles gefunden. Caterina war nie besonders gut darin, etwas zu verbergen. Ich war in unserer Familie die Lügnerin.

Sie müssen allerdings verstehen, und das ist mir wichtig – meine Schwester irrte sich damals. Sie war weder sorglos noch feige. Sie war einer der umsichtigsten, tapfersten Menschen, die mir je begegnet sind. Enrico und ich, wir waren da anders. Vielleicht einte uns eine Art genetischer Defekt. Wir empfanden einfach keine Angst. Vor nichts – ob ich nun vom Baum fallen oder auf dem Dach über der Terrasse erwischt werden oder in den Bergen erfrieren könnte. Gefahren waren uns lästig, aber sie machten uns keine Angst.

Das hat nichts mit Mut zu tun. Man braucht keinen Mut, um sich Dingen zu stellen, die einem keine Angst machen.

Im Gegensatz zu uns fürchtete sich Cati vor allem. Vor der Dunkelheit. Vor Mäusen. Davor, dass Papa im Regen von der Straße abkommen könnte. Dass Mama im Winter auf einer Eisplatte ausrutschen könnte. Dass sie sich den Arm oder den Fuß brechen könnte. Sie ging nie eislaufen, ging nie mit uns Ski fahren, wenn wir über Weihnachten in die Berge fuhren. Am meisten Angst hatte sie davor, etwas zu verlieren – einen geliebten Ort, ihr Heim, einen Menschen. Ich glaube, sie wurde vor allem Krankenschwester, um uns alle in einem Stück zu erhalten. Um uns wieder kitten zu können, falls wir auseinanderbrachen. Darum war ihr Mut … ihr Mut war außergewöhnlich. Ich hatte keine Sekunde lang Bedenken, ihr meinen Sohn anzuvertrauen. Ich vertraute meiner Schwester uneingeschränkt. Ich tue es immer noch.

Und das ist einer der Gründe, warum ich so handeln musste, wie ich es getan habe. Es ging dabei nicht nur um Mama und Papa und Rico und Carlo und die anderen Jungen, die sterben mussten. Es ging auch um Cati – die vielen Jahre, ihr ganzes Leben, das sie, so wie ich sie kenne, in dem Glauben verbrachte, sie sei für alles verantwortlich. In denen sie sich die Schuld an allem gegeben haben muss. Aber wie Sie es ausdrücken würden, ich greife vor.

Als ich sie aus dieser Tür gehen sah, als ich ans Fenster rannte und Cati und meinen Sohn immer kleiner werden sah, bis sie schließlich um die Ecke bogen und verschwunden waren – mir ist vieles im Leben schwergefallen, aber nichts war so schwer wie das. Es war schlimmer, als in die toten Gesichter in einem Graben zu blicken, die, auch wenn ich sie noch so liebte, tot waren. Ich konnte mich zu ihnen gesellen, aber ich konnte sie nicht zurückholen. Cati andererseits – ich hätte gegen das Glas trommeln können, hätte mich hinauslehnen und ihr nachrufen können. Ich hätte ihr nachlaufen können. Ich hätte nur die Hand heben, nur ein Wort sagen müssen, und sie wäre bei mir geblieben. Und dann fand ich ihr Buch. Sie können es sich vorstellen. Wie kann ich Ihnen je dafür danken, mein liebster Freund, dass Sie es mir zurückgegeben haben?

Nur wenige Tage nach Cati verließ auch ich Mailand. Wozu hätte ich noch bleiben sollen? Meine besonderen Fähigkeiten wurden in Bologna gebraucht, und ich wollte an Ort und Stelle sein, wenn der Sturm losbrach. Wir wussten alle, dass die Kämpfe von den Bergen ausgehen würden, und ich fühlte mich dort heimischer. Zumindest hatte ich das Gefühl, heimkehren zu können. Cati hatte recht. Damals hätte ich die Via degli Dei blind bewältigen können. Vielleicht könnte ich es immer noch. Es stimmt mich traurig, dass ich dazu keine Gelegenheit mehr haben werde.

Wenn Sie die Berichte des Roten Kreuzes und der CLN studiert haben, haben Sie sich wahrscheinlich zusammengereimt, was in jenem April geschah. Im Großen und Ganzen ist darin alles richtig dargestellt. Ich gehörte zu einer Sabotage-Einheit – allerdings bin ich nicht gestorben. Und Catis Buch wurde in einem Feldlazarett abgegeben – allerdings ohne sie. Bis dahin hatte man mich wissen lassen, dass sie sicher in Neapel angekommen war. Und so spielte sich die Sache damals ab …

Wir waren zu sechst nach Anzola geschickt worden. Anders als in Florenz kannte ich die Menschen, mit denen ich zusammenarbeitete, nicht besonders gut – obwohl mir das damals nichts genutzt hatte. Es fielen so viele von uns, dass die Einheiten ständig um- oder neu gebildet wurden. In jener Woche sollten wir dafür sorgen, dass die Eisenbahnstrecke nach Modena sabotiert wurde. Die Alliierten hatten endlich die Gotenlinie durchstoßen. Aber trotz ihrer Bombenabwürfe verlief der Feldzug nicht wie geplant. Sie rollten nicht einfach den Po entlang und scheuchten die Deutschen vor sich her. Immer wieder kam es zu schweren Gefechten. Wenn man tollwütige Hunde in die Ecke treibt, werden sie mit aller Kraft um sich beißen. Wir sollten darum sicherstellen, dass die Zugstrecke nicht dazu benutzt werden konnte, die deutschen Truppen zu evakuieren oder zu verstärken. Natürlich gab es Unterstützung aus der Luft. Mehr, als man sich vorstellen kann. Das, mein Freund, war die Hölle. Trotzdem wurde jemand gebraucht, der sich davon überzeugte, dass die Ziele tatsächlich getroffen worden waren – und nicht mehr zu reparieren waren. Und der alles Nötige unternahm, falls es nicht so war.

Es gab damals so viele verlassene Bauernhöfe und Häuser; alle, die konnten, waren geflohen. Auf jeden Fall hatten wir ein Haus nicht weit von der Bahnstrecke gefunden – was im Rückblick eine Dummheit war, aber wir waren so unendlich müde. Wir hatten seit fünf Tagen nicht geschlafen. Es gab immer noch Fascisti, und zwar genug, um uns gefährlich zu werden. Und natürlich die Deutschen. Eine ganze Armee auf dem Rückzug. Und Deserteure. Alle waren wütend und verzweifelt und verängstigt. Sie schossen auf alles, was sich irgendwo regte.

Das Haus, das wir gefunden hatten, war abgeschlossen. Wie nutzlos. Und wie menschlich. Der Schlüssel lag in der Scheune unter einem Blumentopf, in ein geöltes Tuch gewickelt. Wir benutzten ihn, statt einfach ein Fenster einzuschlagen.

Kurz nach Sonnenaufgang trafen wir dort ein. Wir wollten bis zum Abend warten und uns dann nach Westen durchschlagen, wobei wir Signale zerstören sowie Schienen und Brücken sabotieren würden. Das Haus hatte keinen Keller. Wir blieben im Erdgeschoss und schliefen auf der Stelle ein.

Wahrscheinlich kurz nach Mittag schreckte ich auf. Alles war still, trotzdem konnte ich etwas hören. Anfangs glaubte ich, es sei ein weinendes Kind – vielleicht war es in meinem Traum tatsächlich eines gewesen –, doch dann begriff ich, dass irgendwo ein Hund winselte. Es ist verblüffend, wie universal dieser Klang ist – der Klang von Angst und Einsamkeit. Ich nahm an, dass es der Hofhund war, den die Familie zurückgelassen hatte. Ich stand auf und ging in die Küche, und dort sah ich ihn am Fenster stehen. Der Hund war auf einen alten Trog gestiegen, der im Hof an der Hauswand lehnte, und sah durch die Scheibe herein. Er hatte weiße Vorderpfoten und war ungeheuer schmutzig. Ich glaube nicht, dass ich diesen Anblick je vergessen werde.

Weil ich das Fenster nicht öffnen konnte, ging ich durch die Speisekammer hinaus in den Hof und nahm ihn dort auf den Arm. So stand ich da, den kleinen Hund an mich gedrückt, tätschelte ihn und versuchte, sein Zittern zu lindern, als ich es hörte – das Brummen eines Flugzeuges. Ich sah auf, aber ich konnte nichts erkennen. Und dann war es da, unversehens, direkt über mir.

Ich lief nicht los, ich warf mich zu Boden. Danach glaubte ich, ich sei tot.

Mein Kopf dröhnte. Ich hörte nichts mehr und sah nichts mehr. Alles war voller Schutt: Steine, Balken, Erde. Dazu Geschirr – ich sehe heute noch diesen blauen Blechteller vor mir. Und den Hund. Der Hund war auch noch da. Er drückte sich an meinen Bauch, so fest er konnte, als könnte er sich irgendwie vor dem Tod schützen, indem er nur nah genug bei mir blieb. Dann kam nichts mehr. Ich muss ohnmächtig geworden sein. Ich war ganz sicher ohnmächtig, denn als ich die Augen wieder aufschlug, war es Nacht.

Die Stille war köstlich. Ich sah Sterne. Der Hund lag immer noch an meiner Seite. Es ist erstaunlich, wie tröstlich die Anwesenheit eines anderen Lebewesens wirken kann, wie sehr man sich danach verzehrt, ein Herz neben sich schlagen zu spüren.

So lag ich da und war beinahe glücklich. Ich weiß, das hört sich merkwürdig an, aber ich schaute zu den Sternen auf. Ich hörte, wie Papa sie mir erklärte, wie er mir den Oriongürtel zeigte. Die Plejaden. Wie er mich den Polarstern suchen ließ, damit ich mich nie verirren konnte. Dann leckte der Hund mein Gesicht und begann wieder zu winseln. Das Jaulen zog mich wie an einer Angelschnur aus meinen Träumen – und es ließ mich gleichzeitig begreifen, dass ich sterben würde, wenn ich nichts unternahm.

Ich wusste, dass ich verletzt war, aber nicht, wie schwer. Ich hörte deutlich, wie Caterina mir befahl, mich nicht zu bewegen, bis ich festgestellt hatte, wo die Verletzungen saßen. So ging ich den ganzen Körper durch, Körperteil für Körperteil – und fragte mich dabei jedes Mal, ob ich noch etwas spürte. Hand. Finger. Fuß. Zehen. Knie. Dann der eine Arm – aber der andere rührte sich nicht. Ich versuchte, mich zur Seite zu drehen. Es fühlte sich an, als würde mir der linke Arm abgerissen. Bestimmt habe ich geschrien. Ich bin ganz sicher. Wahrscheinlich habe ich dem armen Hund einen Todesschrecken eingejagt. Gott sei Dank hörte mich sonst niemand. Danach brauchte ich eine Weile zum Überlegen. Bis ich begriffen hatte. Mein Arm war eingeklemmt, wahrscheinlich unter einem Balken aus der Decke über der Speisekammer. Ich konnte ihn nicht mehr bewegen, und ich begriff recht schnell – mein Gehirn begriff –, dass ich etwas unternehmen musste. Mein Hirn begriff, dass ich nicht so liegen bleiben konnte, weil mich sonst jemand finden würde – jemand, der mich umbringen würde –, wenn ich bis dahin nicht langsam und grausam verdurstet, verblutet und an Erschöpfung gestorben war.

Ich fasste nach meinem Arm und versuchte, daran zu ziehen. Das war ein Fehler. Trotzdem bewegte er sich, wenn auch nur um ein winziges Stück. Nachdem sich nicht mehr alles um mich drehte, fiel mir ein, dass ich eine Jacke getragen hatte, eine Jagdjacke für Männer, und irgendwann, ich weiß nicht mehr genau, wann, kam mir der Gedanke, dass ich mich möglicherweise befreien könnte, wenn ich aus dieser Jacke schlüpfen konnte. Vielleicht würde ich den Arm durch den Ärmel schieben können wie durch ein Gehäuse. Genau das tat ich dann auch. Wahrscheinlich war ich über eine Stunde damit beschäftigt, aber irgendwann hatte ich ihn herausgezogen.

Als ich es endlich geschafft hatte aufzustehen, begriff ich, dass ich verschwinden musste. Also ging ich los. Der Hund folgte mir. Wir überquerten die zerfetzten Gleise und hielten auf die Berge zu. Weit kamen wir nicht. In einer Scheune brach ich zusammen. Und dort wurde das zweite – dritte, wenn man den Schusswechsel vor dem Theater mitrechnet – meiner neun Leben gerettet.

Die Familie war noch auf dem Hof geblieben, zu dem die Scheune gehörte. Sie hatten ihren Sohn in der Schlacht um Monte Sole verloren, darum brauchten sie nur einen Blick auf mich zu werfen und wussten Bescheid. Einen Monat lang versteckten diese guten Menschen mich und den Hund. Sie schienten und verbanden meinen Arm. Sie fütterten mich mit dem Löffel wie ein Baby. Einmal verlegten sie mich, gleich am Tag nach meiner Ankunft, als die Überreste der Fallschirmjägerdivision über den Hof getrottet kamen. Damals gaben sie mir die Waffe. Die Sauer. Ihr Sohn hatte sie ihnen dagelassen. Er hatte sie einem toten deutschen Offizier abgenommen. Letztendlich rettete sie ihm nicht das Leben, dafür hätte sie mir meines retten können. Einmal kamen Soldaten in die Scheune und machten eine Stunde Rast. Wir hörten sie direkt unter uns Deutsch sprechen, der Hund und ich. Ich drückte ihn an mich, aber er machte keinen Mucks. Falls sie uns hörten, falls sie das Stroh rascheln hörten, müssen sie geglaubt haben, es seien Ratten, oder aber sie waren zu erschöpft, als dass es sie noch gekümmert hätte. Zwei Tage und Nächte kauerten wir auf dem Heuboden – und lauschten den Unterhaltungen gebrochener Männer, dem Jaulen der Motoren, dem endlosen Getrappel einer Armee auf dem Rückzug.

Bis es mir wieder so gut ging, dass ich meinen Weg fortsetzen konnte, war es Juni. Als ich mich verabschiedete, bestand die Familie darauf, dass ich die Waffe mitnehmen solle. Der Hund und ich wanderten hauptsächlich nachts. Die degli Dei ist so schön unter dem Mond – falls Sie noch nie darauf gewandert sind, sollten Sie das unbedingt tun. Es war Sommer. Wir schliefen in Hütten oder im Wald. Diese guten Menschen hatten mir einen Rucksack voll Proviant mitgegeben. Ich brauchte sechs Tage, um nach Fiesole zu gelangen. In der Morgendämmerung stand ich endlich dort oben und blickte auf Florenz hinab.

Den Rest wissen Sie mehr oder weniger. Oder Sie ahnen ihn. Nebenbei bemerkt hatte ich das alles nicht geplant. Ich hatte nicht geplant, mich tot zu stellen oder mich in Donata Leone zu verwandeln. Ich wollte eigentlich nach San Verdiana, um meine Mutter zu finden. Dann wollte ich mich mit ihr nach Neapel durchschlagen und dort Caterina finden. Erst als ich zum Rathaus kam – ich brauchte Papiere: Meine hatte ich in der Jacke stecken lassen –, begriff ich, was passiert war.

Ich hatte inzwischen einen Strick als Leine für den Hund besorgt – bis dahin hatte ich ihn Piri getauft –, und wir standen wie alle anderen in der Schlange, Flüchtlinge, die alles verloren hatten, neben der Wand, an der die Listen der Toten aufgehängt waren. Mamas Namen entdeckte ich zuerst. Sie war im Winter 1944 in San Verdiana gestorben. Dann sah ich Caterinas Namen. Caterina Cammaccio. Und meinen – Laura Bevanelli.

Im ersten Moment geriet ich in Panik. Ich dachte, ihr müsste in Neapel etwas zugestoßen sein. Dann sah ich genauer hin und las, dass Cati angeblich in Bologna ums Leben gekommen war, und plötzlich wurde mir alles klar. Sie war damals schon längst nicht mehr Caterina Cammaccio – Caterina und Isabella Cammaccio hatten sich in Luft aufgelöst, die beiden waren nach Ravensbrück deportiert worden. – Falls man entkam, wurde man, wie ich Ihnen erzählt habe, trotzdem als »deportiert« geführt. Sie hätten auf keinen Fall zugegeben, dass ihnen jemand entkommen war. – Ich begriff sofort, was passiert war. Die CLN hatte mich als tot gemeldet, weil jemand nach unserer Gruppe gesucht hatte und bei dem Bauernhof meine Jacke gefunden hatte. Das rote Buch hatte in der Innentasche gesteckt, in der ich es immer aufbewahrt hatte, und der Finder hatte es ans Rote Kreuz weitergegeben, falls meine Familie irgendwann danach suchen sollte. Doch vorn in dem Buch stand Catis Name. Darum wurde auch sie als tot geführt.

Ich stand in der Schlange und dachte nach.

Natürlich hatte ich mir ununterbrochen den Kopf darüber zerbrochen – in Verona, in Mailand, in dieser Scheune –, was wohl in der Via dei Renai geschehen war. Und wenn ich ganz ehrlich bin, haben Sie wahrscheinlich recht – zum Teil kehrte ich tatsächlich zurück, um die Wahrheit herauszufinden. Aber ich hatte keine Ahnung, wer uns nun wirklich verraten hatte oder was er inzwischen trieb. Und als ich darüber nachdachte, was es bedeutete, dass Mama gestorben und Cati in Sicherheit war, erschien es mir plötzlich klüger und sicherer, ebenfalls tot zu sein.

Man sagt, das Leben würde sich nicht von einem Herzschlag zum anderen ändern. Aber meines änderte sich sehr wohl.

Nur ein paar Menschen warteten vor mir an dem Tisch, an dem die Namen aufgenommen wurden. Ein paar Minuten später war ich an der Reihe und sagte, als ich vortrat: »Donata Leone.«

Und das war alles. Damit war alles vorbei. Und alles Neue begann.

Ich weiß, was Sie sich fragen. Mein Sohn. Ich habe ihn sehr wohl geliebt, bitte glauben Sie mir das. Mehr als alles andere auf der Welt. Aber ich wollte auch, dass er in Sicherheit lebt. Und in Freiheit. Und glauben Sie mir, ich wusste, dass Caterina die beste Mutter war, die man sich nur vorstellen kann. Wahrscheinlich hatte sie schon erfahren, dass ich tot war. Lodovico hatte bestimmt seine Verbindungen zu den Alliierten und zum Roten Kreuz spielen lassen, und beide hatten ihm wahrscheinlich mitgeteilt, dass ich am 17. April ums Leben gekommen war. Ich wusste auch, dass Cati und Lodo nach Amerika auswandern wollten. Man hatte ihm mitgeteilt, dass sie ein Visum bekommen würden – auch darum hat er sie nach Neapel kommen lassen. So, wie ich es sah, standen die Chancen gut, dass sie Ende Juni schon abgereist waren. – Cosimo fand das später für mich heraus. Sie waren Ende Mai auf einem Lazarettschiff nach Amerika gefahren. – Ich weiß nicht, ob Sie das verstehen: Ich wollte, dass sie ihr eigenes Leben führen konnten. Das beste Leben, das sich ihnen bot. Und ich wusste immer – aber vor allem damals, als ich schließlich dazu in der Lage gewesen wäre, als ich Cosimo geheiratet hatte –, dass Caterina, sollte ich sie je ausfindig machen und Verbindung mit ihnen aufnehmen, darauf bestehen würde, dass ich mein Kind wieder zu mir nahm. Sie würde ihn aufgeben. Nachdem sie alles andere verloren hatte, würde sie damit auch ihr Kind verlieren. Und er würde seine Mutter verlieren. Ich würde ihnen das Einzige wegnehmen, was ich ihnen je geschenkt hatte.

Das konnte ich einfach nicht. Das wäre falsch gewesen. Darum ließ ich sie ziehen. Ich weiß, dass mein Sohn einen wunderbaren Vater und eine noch wunderbarere Mutter hatte. Eine, die ihn niemals auch nur für eine Sekunde aufgegeben hätte.

Ich fand eine Wohnung. Eigentlich war es ein Loch. Und ich fand schnell wieder Arbeit, in einer Restaurantküche, wenn man es denn so nennen wollte. Florenz, vergessen Sie das nicht, war damals seit fast einem Jahr befreit. Ich schälte Gemüse. Wusch Teller ab. Meistens achtete ich darauf, nicht in Erscheinung zu treten. Aber Sie hatten recht. Ich hatte ständig Angst, dass man mich erkennen könnte. Darum änderte ich mein Aussehen. Ich hatte meine Haare kurz geschnitten. Das war einfacher. Und ich färbte sie dunkel. Wieder übte ich einen anderen Gang ein. Ich zog hauptsächlich Sachen an, die ich früher gehasst hätte. Ich änderte meine Aussprache. Ich hielt mich von den Plätzen fern, an denen ich als Studentin verkehrt hatte, und auch vom Haus meiner Eltern – das fiel mir am schwersten, und ich gestehe, dass der Hund und ich mehrmals nachts den Hügel erklommen. Und dann wurden wir zu Dieben.

Mir fiel ein, dass Cati beschrieben hatte, wie Mama ihren Schmuck im Garten vergraben hatte. Ich wusste, dass das Haus leer stand, weil ich es lange genug beobachtet hatte. Also kletterte ich eines Nachts durch die Hecke. Mein Freund, wie Sie gelacht hätten. Ich wusste nicht genau, wo sie die Sachen vergraben hatten, darum wühlte ich wie ein irrwitziger Maulwurf unter jedem Busch, während Piri brav Wache hielt. Ich brauchte drei Nächte, drei Anläufe, um die Sachen zu finden, aber schließlich hatte ich das in Öltuch eingeschlagene Paket ausgegraben. Im Lauf des nächsten Jahres verkaufte ich fast alle Stücke. Selbst Mamas Aquamarin. Papas Uhr behielt ich. Ich schenkte sie Cosimo. Er trug sie bis zu seinem Todestag. Und Caterinas Verlobungsring. Ich nahm ihn als meinen. Sie haben ihn ein Dutzend Mal an meiner Hand gesehen und mindestens ein Mal eine Bemerkung darüber gemacht, wie ich mich entsinne.

Letzten Endes bekam ich nicht viel für die Stücke. Ich musste sie versetzen, und Sie können sich vorstellen, wie der Markt direkt nach dem Krieg überschwemmt wurde. Aber das wenige, was ich bekam, erleichterte Piri und mir das Leben deutlich. Hauptsächlich, weil wir einen sicheren Platz zum Wohnen fanden. Einen Teil davon verwendete ich auf eine ganz neue Frisur – ich veränderte mein Aussehen von Grund auf. Und ich kaufte mir etwas Anständiges zum Anziehen.

Ich begegnete in all den Jahren nur zwei Menschen, die mich erkannten. Zum einen Signor Cavicalli – obwohl ich gestehen muss, dass ich nicht weiß, welcher es war. Auch da hatten Sie natürlich recht. Er und sein Bruder waren Zwillinge. Carlo und ich hatten sie mitsamt ihrer Familie während der letzten Fahrt im Winter 1943 aus Florenz herausgeschmuggelt. Das war jene Fahrt, für die Caterina so teuer bezahlen musste. Es war ein harter, mühsamer Marsch. Und gefährlich, weil unsere Päckchen so schlecht ausgerüstet waren, so ausgekühlt und übermüdet. Carlo trug das kleine Mädchen über große Strecken auf dem Rücken, und ich hatte Angst um die junge, kränkelnde Frau. Aber sie überlebten. Alle. Und wie Sie so richtig bemerkten, so etwas vergisst man nicht. Signor Cavicalli hatte es jedenfalls nicht vergessen. Er sah mich eines Nachmittags auf dem Markt. Damals war er schon ein junger Mann. Wahrscheinlich ein Student in den ersten Semestern und dünn und drahtig wie eine Bohnenranke. Trotzdem erkannte ich ihn sofort, so wie er mich erkannte. Unsere Blicke trafen sich. Wir wechselten kein Wort. Wir blieben nur kurz in der Menge stehen und gaben uns unseren Erinnerungen hin, bis seine Freunde ihn riefen und er sich mit einer kleinen Verbeugung abwandte.

Der zweite Mensch, der mich erkannte, war Emmelinas Nichte. Das war einige Jahre später, als ich gerade meine älteste Tochter bekommen hatte. Ich trat aus einem Laden, das Kind im Arm, als ich auf der anderen Straßenseite eine Frau bemerkte, die mich ansah. Im ersten Moment konnte ich sie nicht recht einordnen. Dennoch hatte sie mich erkannt. Das begriff ich sofort. Wir hatten uns beide so verändert. Wir hatten uns beide das letzte Mal als junge Frauen gesehen. Dann begriff ich – das war Emmelinas Nichte. Wir starrten uns kurz an, dann lächelten wir und gingen jeweils unserer Wege. Ich kann Ihnen nur sagen, ich war felsenfest überzeugt, dass mein Geheimnis bei beiden sicher aufgehoben blieb.

Ich spitzte die Ohren, ich hielt immer die Augen offen und bewarb mich um eine Anstellung in Cosimos Bank, sobald ich erfahren hatte, was er plante. Schließlich wurde ich als Sekretärin genommen. Und dann hörte ich, dass Cosimo Freiwillige suchte, Angestellte, die ihm in ihrer Freizeit halfen, Papiere zu sichten und Menschen für »Gedenkt der Gefallenen« aufzuspüren. Also meldete ich mich. Ich warf mich ihm nicht an den Hals. Aber ich machte mich nützlich und arbeitete mich durch die Unterlagen. Akte um Akte, Karton um Karton.

Anfangs empfand ich die eigentliche Arbeit als Nebensache – das Bezahlen von Umzügen, Büchern und Kleidung und das Aufspüren von verschollenen Familienangehörigen. Ich hatte nur eines im Sinn. Ich war auf der Jagd. Ich wusste nicht, wonach. Ich wusste nur, dass ich eine Witterung aufgenommen hatte. Damit hatten Sie ganz recht. Als ich endlich auf jene Seiten aus der Villa Triste stieß, auf jene Einträge, die »bewiesen«, dass alle hingerichtet worden waren, war ich enttäuscht. Nicht wegen der beiden anderen – vor allem wegen Massimo. Ich wusste es. Ich hatte immer gewusst, dass etwas faul an ihm war. Er war ein Schwein. Ein aufgeblasenes, eitles, tyrannisches Schwein. Ich habe es genossen, ihn zu töten. Es tut mir leid, aber so war es. Aber das kam viel später.

Schließlich verliebte sich Cosimo in mich und ich mich in ihn. Nicht so wie damals in Carlo. Keine Liebe reicht an die erste große Liebe heran – und natürlich dauert die erste Liebe nie so lange an, dass es kompliziert werden könnte. Bei Cosimo war es anders. Er war ein wunderbarer Mann. Und falls Sie sich das fragen sollten, ich erzählte ihm alles. Wirklich alles. Bevor wir heirateten.

Beinahe fünfzig Jahre lang waren wir glücklich. Glücklicher, als es irgendwer verdient hätte. Vielleicht hörte ich insgeheim nie auf zu suchen, hörte ich nie auf, die Zeitungen nach Namen zu durchforsten, die mit JULIA zu tun haben könnten. Aber es war kein Zwang mehr. Es war einfach immer da, so wie mein steifer Arm – etwas, mit dem ich zu leben gelernt hatte. Ich hatte zwei schöne Töchter. Ich hatte ein schönes Leben. Selbst Piri genoss ein schönes Leben. Er liegt in unserem Garten begraben. Als Cosimo starb, war ich sehr traurig. Aber das war der natürliche Lauf der Dinge. Er war zehn Jahre älter als ich. Unsere Zeit war gekommen. Und wir waren gesegnet gewesen.

Und dann, eines Abends, vor zwei Jahren, saß ich vor dem Fernseher. Normalerweise sehe ich kaum fern. Aber man zeigte die Feiern zum sechzigsten Jahrestag, und wir waren wegen »Gedenkt der Gefallenen« eingeladen worden. Wir wären auf keinen Fall hingefahren – Sie verstehen, warum –, trotzdem war ich neugierig. Also schenkte ich mir ein Glas Wein ein, blätterte in einem Buch, das mir meine Tochter geschickt hatte, und ließ nebenher den Fernseher laufen, bis ich diese Stimme hörte. Bis ich Massimo hörte.

Eigentlich hörte ich zuerst sein typisches Wiehern. Dieses Lachen. So voller Hass.

Ich sah auf. Um ein Haar hätte ich den Wein verschüttet. Da standen sie auf dem Bildschirm. Alle zusammen. Massimo, Beppe und Il Corvo. Drei tote Männer mit einem Orden an der Brust.

Das Merkwürdige war, dass ich gar nicht nachzudenken brauchte. Es war, als hätte etwas all die Jahre tief in mir gewartet. Ich wusste genau, was ich zu tun hatte.

Ich nehme an, dass ich die Sauer all die Jahre für so einen Fall aufbewahrt hatte. Vielleicht genau für diesen Fall. Merkwürdig, wie das Gehirn arbeitet, ohne dass man sich dessen bewusst ist.

Den ganzen Herbst und Winter über plante ich – auch das haben Sie richtig erfasst –, nicht weil ich nicht gewusst hätte, wie ich es anstellen sollte, sondern weil ich es auf jeden Fall richtig machen wollte. Noch etwas bremste mich. Ich konnte mir nicht vorstellen, etwas zu unternehmen, bis Cosimo gestorben war. Ich konnte nicht riskieren, dass ich verhaftet und eingesperrt würde. Er war damals schon todkrank. Ohne mich wäre er nicht mehr zurechtgekommen. Das war ich ihm schuldig – sicherzustellen, dass ich in seiner letzten Stunde an seiner Seite wäre.

Doch gleichzeitig begann ich zu planen. Ich studierte die Karten, suchte vor allem nach Nebenstraßen. Ich begann wieder zu schwimmen, um meine Schulter und meine Hand zu kräftigen. Ich ging sogar ein-, zweimal mit meinem Schwiegersohn jagen. Damit ihm die fehlende Schachtel Munition nicht auffiel.

Trantemento tötete ich als Ersten. Eine Weile beobachtete ich nur sein Haus. Wie Sie richtig bemerkten, sind alte Frauen praktisch unsichtbar, und so konnte ich mich allmählich daran gewöhnen, meinen alten Mantel zu tragen und eine grässliche alte Tasche mit mir herumzuschleppen. Dann, am 1. November – ich war froh über den Regen, Regen bietet eine gute Tarnung, weil die Menschen kaum aufsehen, wenn sie durch den Regen eilen –, schlüpfte ich in sein Haus und ging direkt nach oben.

Ich brauchte nur an seine Tür zu klopfen. Und wissen Sie, was merkwürdig ist? Er erkannte mich. Auf den ersten Blick. Ich glaube, er wusste sogar, warum ich gekommen war. Wenn er laut geworden wäre, hätte ich ihn einfach erschossen. Aber er gab keinen Ton von sich. Er sagte kein Wort. Als ich ihm befahl, sich hinzuknien, wirkte er beinahe erleichtert.

Bei Beppe hatte ich alle Vorarbeiten längst erledigt. Ich wusste, wann er am ehesten zu Hause und allein sein würde. Von mir stammte der Vorschlag, dass wir mit der Familie nach Apulien fahren sollten, und bei so vielen Menschen kann man leicht für ein paar Stunden aus dem Hotel verschwinden. Ich hatte ihn am selben Tag von einer Bar aus angerufen. Natürlich wollte ich nicht, dass seine Nummer in meinem Handy gespeichert wurde, und ich achtete darauf, keinen Namen zu nennen, darum behauptete ich, dass ihn mein Mann von den Partisanen gekannt hätte. Das reichte schon. Vollauf sogar. Er lud mich nicht nur zu sich ein, der arme Narr hatte uns sogar im Garten den Tisch gedeckt.

Bei Massimo habe ich so etwas nicht einmal versucht. Mir war von Anfang an klar, dass es bei ihm am schwierigsten würde, dass er sich am ehesten wehren würde. Er hatte kein Gewissen, müssen Sie wissen. Er war ein arroganter Tyrann. Selbstgerecht und eitel.

Sie waren mir inzwischen dicht auf den Fersen, aber es war Jagdsaison, darum hoffte ich, dass er morgens auf die Jagd gehen würde. So wie meistens. Ich war auf alles vorbereitet – wenn er an jenem Morgen nicht jagen gegangen wäre, wäre ich einfach zu seinem Haus oder den Ställen gegangen und hätte ihn dort erschossen. Ich musste es zu Ende bringen, bevor Sie es taten, verstehen Sie? Aber letzten Endes blieb mir das erspart. Meine Tochter besitzt ein Landhaus in der Nähe von Siena, wo ich ihn im letzten Herbst zu beobachten begann. Trotz all seiner Überwachungskameras beging er den dümmsten Fehler überhaupt. Er ließ sich von seinen Gewohnheiten leiten. Ich kannte inzwischen die Nebenstraßen hinter seinem Anwesen und hatte ein Versteck gefunden, von dem aus ich sein Tor beobachten konnte. Bei Anbruch der Dämmerung machte ich mich auf den Weg und kam dort im ersten Tageslicht an. Ich sah ihn aus dem Haus kommen und war kurz darauf selbst hinten am Waldrand. Ich wartete schon auf ihn, als er aus dem Wagen stieg. Als ich ihn rief, drehte er sich zu mir um, und ich schoss. Ich hatte keine Zeit, ihn hinknien und Salz essen zu lassen. Weil die Gefahr bestand, dass er an seine Waffe kam, musste ich mich darauf beschränken, das Salz in seinen Mund und in seine Taschen zu füllen. Übrigens vielen Dank für das Kompliment wegen der Handschuhe. Das Paar gehörte meinem Schwiegersohn und ging vor über einem Jahr verloren. Ich zog sie über meine eigenen Handschuhe und übte sogar, damit zu schießen. Denn schon der erste Schuss musste treffen. Nachdem er tot war, zog ich sie aus, streifte sie über seine Hände und legte den Leichnam zurecht.

Den Hund band ich an. Dann, zuletzt, ließ ich die Waffe liegen. Damit war es vorbei.

Da wäre noch eines. Ihre Eleanor Sachs. Oder Faber, wie sie sich inzwischen nennt, glaube ich. Der Name Fabbionocci sagte mir tatsächlich etwas. So hieß Lodovico mit Nachnamen.

Ich habe lange mit mir gehadert, doch letzten Endes habe ich sie nicht angerufen. Wahrscheinlich war das egoistisch, aber ich wollte die wenige Zeit, die mir noch verblieben war, ungestört mit meinen beiden Töchtern verbringen. Cosimo hatte ich damals alles erzählt, aber meine Töchter hatten nie etwas von meiner Vergangenheit erfahren. Cosimo sagte immer, er würde es mir überlassen, wie viel ich ihnen erzählte und wann ich es tun würde. Ich habe nie etwas gesagt. Wir führten damals Krieg, um mit der Vergangenheit abzuschließen, nicht, um sie für alle Zeiten am Leben zu erhalten.

Sie werden feststellen, dass ich Catis Buch weder meinen Töchtern hinterlassen noch verbrannt habe – obwohl ich zugegebenermaßen mit dem Gedanken gespielt habe. Stattdessen gebe ich es Ihnen zusammen mit zwei weiteren Souvenirs zurück. Ich vertraue Ihrem Urteil, mein Freund. Tun Sie damit, was Sie für richtig halten.

Ich habe nie herausfinden können, wo Mama begraben wurde, aber ich habe Carlo und Papa und Rico nach jenem Morgen in Siena einen letzten Besuch abgestattet. Ich wollte ihnen erzählen, was ich getan hatte, und ihnen erklären, dass sie endlich frei waren.

Ich brachte ihnen ein letztes Mal Blumen. Lauter Rosen. Falls Sie dorthin kommen, werden Sie dort eine Karte finden – die inzwischen wohl ziemlich mitgenommen aussieht. Aber wenn Sie den Text noch entziffern können, werden Sie feststellen, dass sie dieses Mal nicht von »Gedenkt der Gefallenen«, sondern von mir stammt – Issa.

Oder, wenn Sie es vorziehen, Il Spettro.

Eine Weile blieb Pallioti wie erstarrt sitzen und blickte ins Leere. Der Brief lag in seiner Hand, der Umschlag neben ihm auf der Bank. Er hob ihn auf und wollte ihn schon zu dem kleinen roten Buch in die Tasche stecken, als er merkte, dass noch etwas darin lag. Zwei weitere Souvenirs.

Er drehte den Umschlag um und klopfte auf den Boden. Ein Ring fiel in seine Hand, ein ihm wohlbekannter Reif voller Rubine und ein Foto.

Das Fotopapier war brüchig geworden. Pallioti nahm es an einer Ecke zwischen Daumen und Zeigefinger und hob es vorsichtig an. Auf der Rückseite stand in verblichener Tinte: Issa und Carlo, 10. Mai 1944.

Er drehte es um und sah, dass die Gestalten ausgeblichen waren. Sie wirkten fast geisterhaft, so, als würden auch sie nun endlich gehen können. Aber sie waren immer noch zu erkennen. Ein Mädchen mit kurz geschnittenen Haaren, in Männerhosen und Hemd stand vor einem großen, blonden Jungen. Die aus den aufgekrempelten Ärmeln ragenden Arme waren fest um ihre Schultern geschlungen. Sie sah lachend zu ihm auf. Um sie herum blühte eine Wiese. Hinter ihnen ragten die Berggipfel in einen Himmel auf, der damals bestimmt in strahlendem Blau geleuchtet hatte.