27. Kapitel
Es war Freitagmorgen. Der Wetterbericht im Radio prophezeite Schauerliches. Es würde schneien. Graupeln. Hageln. Das Ende der Welt! Pallioti stand unbewegt da. Er schaute aus seinem Bürofenster auf die Piazza, aber er sah sie nicht. Vor seinen Augen standen die korrekten Buchstaben in den Aktenbüchern aus der Villa Triste und, aus einem unerfindlichen Grund, Cavicallis Katze.
Sie war fleckig und vielfarbig wie ein Puzzle gewesen, mit großen, kugelrunden goldenen Augen. Als sie wieder in den Laden gehuscht war, hatte sie sich so schnell bewegt, dass sie wie ein Schatten vorbeigezogen war. Hätte er nicht gespürt, wie sie an seinem Bein vorbeistrich, hätte er sie vielleicht gar nicht bemerkt.
Etwas entging ihm, und ihm wollte einfach nicht in den Kopf, was es war.
Er trommelte mit den Fingern aufs Fensterbrett und gestand sich widerwillig ein, dass es wahrscheinlich belanglos war. Als er Enzo am Mittwochabend angerufen hatte, direkt nachdem dessen Flugzeug im wärmeren, trockeneren Süden gelandet war, und ihm die Namen genannt hatte, die er ausgegraben hatte, hatte sich Enzo zwar dankbar, aber nicht besonders interessiert gezeigt. Höflich, aber deutlich hatte Enzo Saenz ihm klargemacht, dass es ihm egal war, wie Giovanni Trantemento oder Roberto Roblino vor sechzig Jahren geheißen hatten. Er interessierte sich für die Gegenwart.
Cesare D’Aletto hatte währenddessen die Genehmigung eingeholt, den charmanten Bruno Torricci und seine nicht minder charmante Freundin weitere achtundvierzig Stunden im Polizeigewahrsam zu behalten. Sie hatten einen Zeugen aufgetrieben, der die beiden an jenem Samstagnachmittag, an dem Roberto Roblino getötet worden war, keine zehn Kilometer von dessen Haus entfernt in einer Bar gesehen hatte. Außerdem hatten sie in Bruno Torriccis Portemonnaie eine auf den 3. November datierte Quittung gefunden, der zufolge er bei einem Juwelier in Bari ein silbernes Armband für dreihundertzwanzig Euro erstanden und bar bezahlt hatte. Wichtiger war jedoch, dass sie auch eine Spur zu der Waffe gefunden hatten.
Als Cesare D’Aletto eine Woche zuvor die forensischen Berichte aus Roblinos Haus erhalten hatte, war ihm etwas Merkwürdiges aufgefallen. Zu den wenigen Fundstücken aus dem Garten gehörte auch ein Bruchstück eines Materials, das als »bakelitähnlich« bezeichnet worden war. Ihm war das bemerkenswert vorgekommen, weil das in den Dreißiger- und Vierzigerjahren verbreitete Bakelit ab 1950 kaum noch verwendet worden war. Eine Überprüfung hatte bestätigt, dass nichts in der Masseria Santa Anna aus Bakelit bestand. Roberto war kein passionierter Sammler von Dingen wie alten Funkgeräten. Trotzdem hatte das Fragment bei D’Aletto eine alte Erinnerung wachgerufen, woraufhin er einen Kollegen in Turin angerufen hatte, der ihm von einem Fall erzählt hatte, bei dem eine uralte Pistole verwendet worden war. Diese Pistole hatte einen Griff aus Bakelit gehabt. Im Lauf der Jahre wurde das Material bröselig. Auf diesen Hinweis hin hatte D’Aletto die Kugel an einen Ballistiker in Neapel geschickt, der sich auf alte Waffen spezialisiert hatte. Der Ballistiker hatte ihm bestätigt, die Spuren auf der Patronenhülse würden darauf hindeuten, dass die Kugel aus einer kleinen Handfeuerwaffe vom Modell Sauer 38H abgefeuert worden war. Die fragliche Waffe war offenbar besonders bei Nazi-Freunden beliebt. Im Krieg waren die SS, der SD und die Fallschirmjäger damit ausgerüstet gewesen, und ein Teil der Waffen war dafür ausgelegt gewesen, Kugeln vom Kaliber .22 abzufeuern.
Cesare war noch gar nicht dazu gekommen, Enzo all das zu erzählen, als Bruno Torricci schon auf die Standardfrage, ob er je eine Schusswaffe besessen habe, hin zu einem Vortrag über die Schönheit alter Naziwaffen angesetzt hatte. Die Wortwahl hatte vermuten lassen, dass ihm dabei eine ganz bestimmte Waffe vorschwebte.
Inzwischen waren Cesare wie auch Enzo überzeugt, dass er sich über sie lustig machen wollte – mit Sicherheit wusste Torricci längst, dass Roberto Roblino mit einer Sauer 38H umgebracht worden war. Sie reagierten darauf, indem sie die Zeugensuche ausweiteten, um im Idealfall nachweisen zu können, dass er auch in Florenz gewesen war. Gleichzeitig beantragten sie Durchsuchungsbefehle für seine Wohnung in Rom und das Elternhaus seiner Freundin am Stadtrand von Bari. Enzo blieb vorerst in Brindisi. Er hoffte, noch am Abend oder spätestens morgen mit einem Geständnis in der Tasche zurückzukommen.
Die Tür ging auf.
»Verzeihung.« Guillermos kahle Birne erschien in der Tür und spiegelte die Deckenbeleuchtung. »Ich habe Sie auf der Gegensprechanlage angerufen«, sagte er, »aber Sie haben mich nicht gehört. Dr. Eleanor Sachs ist am Telefon.«
Pallioti nickte. Während er zum Schreibtisch ging, drückte ihm Guillermo einen Notizzettel in die Hand.
»Der ist für Sie.«
Pallioti warf einen Blick darauf. Es war eine Nachricht der Londoner Botschaft mit der Handynummer von Lord David Eppsy, dem aristokratischen und verreisten »Erotikasammler«, den Pallioti ehrlich gesagt völlig vergessen hatte. Er steckte sie in die Jackentasche.
»Verzeihen Sie«, sagte Eleanor Sachs. »Ich störe hoffentlich nicht.«
Am Telefon klang sie genauso wie im persönlichen Gespräch. Palliotis Erfahrung nach kam das wesentlich seltener vor, als man gemeinhin angenommen hätte. Aus irgendeinem Grund ließ ihn das lächeln.
»Ganz und gar nicht«, sagte er. »Im Gegenteil, ich wollte Sie schon anrufen.«
»Wirklich?«
Er hörte das Zögern und die Nervosität darunter und spürte, wie ihn das schlechte Gewissen stach.
»Allerdings nicht, weil ich Il Spettro gefunden hätte«, schränkte er sofort ein. »Leider. Aber dafür bin ich auf drei Namen gestoßen. Ich habe mich gefragt, ob Ihnen einer davon schon einmal untergekommen ist. Bei Ihren Forschungen.«
»Ach so. Sicher«, sagte sie. »Natürlich. Wie gesagt, mein Gedächtnis ist nicht das beste. Trotzdem – schießen Sie los.«
»Giancarlo Menucci. Piero Balestro. Giovanni Rossi.«
Er hörte, wie sie die Namen notierte, wie der Stift über das Papier schabte.
»Nein«, sagte sie kurz darauf. »Auf Anhieb kommt mir keiner davon bekannt vor. Wer sind … waren sie?«
»Also, Giovanni Rossi war Giovanni Trantemento.«
»Wie bitte?«
»Rossi war der Name seines Vaters. Irgendwann im Frühling 1944 hat er ihn abgelegt und nannte sich fortan Trantemento. Einer der beiden anderen war, glaube ich, Roberto Roblino.«
Eleanor Sachs summte leise vor sich hin. »Also«, meinte sie dann, »das würde jedenfalls die Geburtsurkunde erklären. Beziehungsweise die nicht existierende Geburtsurkunde.«
»Genau«, sagte Pallioti. »Ich bin mir nicht sicher, wer der Dritte war. Aber ich weiß, dass sie alle in derselben GAP-Einheit kämpften. Ich glaube, sein Deckname lautete Massimo.«
»Massimo.« Wieder hörte Pallioti den Stift, während sie den Namen notierte. »Gut. Lassen Sie mich das wiederholen. Massimo war damals mit Beppe alias Roblino in einer Einheit. Und mit Trantemento, Il Corvo, der früher Giovanni Rossi hieß?«
»Genau.« Pallioti nickte. »Darum vermute ich, dass es sich bei Massimo und Beppe-Roblino um Giancarlo Menucci und Piero Balestro handelt oder umgekehrt. Ich weiß nicht, welcher von beiden welcher ist, aber ich weiß sehr wohl, dass sie diese Namen im Frühjahr 1944 verwendeten.«
»Interessant. Es gibt viele Gründe, seinen Namen zu wechseln. Ich frage mich, warum sie es getan haben.«
»Keine Ahnung«, bekannte Pallioti. »Aber alle drei wurden damals verhaftet und in die Villa Triste gebracht. Am 14. Februar 1944. Drei Tage später entkamen sie gemeinsam von einem Lastwagen, der sie zum Bahnhof bringen sollte. Der Laster kam ins Schleudern und prallte gegen eine Mauer. Am Abend des Siebzehnten.«
»In bocca al lupo«, murmelte sie, der Ausdruck für »Viel Glück!«.
Sie waren wahrhaftig dem Rachen des Wolfs entkommen, dachte Pallioti. »Stimmt«, sagte er. »Schließlich waren sie auf dem Weg ins Arbeitslager.«
»Tja.« Eleanor Sachs blieb kurz still. »Danke dafür. Ich … ich werde der Sache nachgehen. Mal sehen, ob ich etwas finde.«
»Aber die Namen sagen Ihnen nichts?«
»So aus dem hohlen Bauch heraus?« Sie lachte kurz auf. »Sie meinen, ob einer davon in meiner Familie vorkommt? Ob mein Vater vielleicht mit zweitem Vornamen so hieß? Nein. Aber man kann nie wissen«, ergänzte sie, »was alles zum Vorschein kommt, wenn man erst einmal zu graben anfängt.«
»Da wäre noch etwas …« Pallioti zögerte, weil er nicht sicher war, ob es richtig war, ihr diesen Tipp zu geben, und kam dann zu dem Schluss, dass er sich nicht vorstellen konnte, inwiefern er damit Schaden anrichten sollte. »Vielleicht«, sagte er, »möchten Sie sich ja mit Signor Cavicalli unterhalten. Es gibt zwei davon, einen Senior und einen Junior. Der Vater hat ein Geschäft, das sich Patria Memorabilia nennt. Ich weiß nicht, wie viel dort noch umgesetzt wird, aber es ist auf Andenken aus der Partisanenära spezialisiert. Giovanni Trantemento hat dort mehrere Artikel gekauft«, erläuterte er. »Der Laden liegt in Santa Croce.«
»Ja«, bestätigte sie. »Ich habe schon davon gehört. Einmal war ich sogar dort, aber da war geschlossen. Ich werde es noch einmal versuchen.« Sie stockte. »Vielen Dank«, sagte sie dann wieder. »Für alles.«
»Eleanor …« Er bemühte sich, nicht allzu eindringlich zu klingen. »Falls Sie irgendetwas herausfinden«, bat er sie, »über diese drei Männer …«
»Natürlich«, versicherte sie ihm. »Natürlich. Keine Angst. Dann sage ich Ihnen sofort Bescheid. Ehrenwort.« Pallioti fragte sich, ob sie dabei ein X über ihrem Herzen zog. »Ehrlich gesagt«, meinte sie dann, »rufe ich deswegen an. Wegen der beiden Frauen, diesen Schwestern …«
»Ach ja«, sagte er. »Da habe ich Ihnen leider den falschen Namen genannt.«
»Ach ja? Denn ich wollte Ihnen gerade mitteilen, dass eine davon starb. Im Winter 1944 in San Verdiana.«
Pallioti dachte kurz darüber nach. »Ja«, sagte er. »Das müsste die Mutter gewesen sein. Es tut mir leid. Ich wollte Sie nicht in die Irre schicken.«
Eleanor Sachs lachte wieder. »Das macht doch nichts«, sagte sie. »Ich habe sowieso kaum ein Fitzelchen finden können. Wie hießen sie eigentlich wirklich, nur so aus Interesse?«
»Bevanelli. Chiara und Laura. Sie waren in Mailand aktiv. 1944 und 1945.«
»Aha. Okay.« Wieder hörte er ihren Stift kratzen. »Also«, sagte sie, als es still geworden war, »falls ich auf etwas stoße … Ich meine, falls ich über irgendwas stolpere – falls Sie interessiert sind. Sie wissen nicht zufällig«, fragte sie dann, »was nach dem Krieg aus den beiden geworden ist?«
»Nein.« Pallioti schüttelte den Kopf. Er legte seinen Stift ab. »Nein«, wiederholte er. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung.«
März 1945
Die Bombenangriffe wurden immer schlimmer.
Natürlich wussten wir alle, dass damit der Boden für den »letzten Ansturm« bereitet werden sollte, aber das machte sie nicht weniger schlimm. Oder die Zerstörungen weniger schrecklich. Hauptsächlich sollten natürlich die Eisenbahngleise, Bahnhöfe und Rangierbahnhöfe zerstört werden, aber auch die Kirche nahe unserem Haus wurde eines frühen Morgens von einer Bombe getroffen. Es tat einen ohrenbetäubenden Schlag wie bei einem Vulkanausbruch. Issa schnappte sich das Baby, dann rannten wir nach unten und auf die Straße, weil wir nicht sicher waren, ob unser altes Gebäude der Druckwelle standhalten würde. Es überstand den Angriff, aber die Arztpraxis, in der ich arbeitete, hatte weniger Glück. Sie wurde zwei Tage später komplett zerstört. Ich blieb nur verschont, weil ich erkältet und darum früher nach Hause gegangen war.
Als ich am nächsten Tag hinging, um mir die Ruine anzusehen, traf mich die Trauer wie ein Schlag in den Magen. Das bezaubernde Gebäude lag in Schutt und Asche. Es gab keine Überlebenden. Es gab gar nichts mehr.
Wir waren erst seit Kurzem in Mailand, aber während jener Monate hatte ich zum ersten Mal tagein, tagaus mit einer Gruppe von Widerstandskämpfern gearbeitet, und zwar in jener Praxis, wo jeder wusste, was wir alle taten – wohin unsere überschüssigen Verbandsmaterialien gingen, was die Nächte bringen würden. Ich kann nicht sagen, dass diese Menschen meine Freunde waren – schließlich wusste keiner davon, wie ich wirklich hieß und woher ich kam, und wahrscheinlich wusste ich genauso wenig ihre wahren Namen –, aber zum ersten Mal hatte ich diese Kameradschaft erlebt, dieses Vertrauen, das Issa nicht nur bei Carlo und Rico, sondern auch bei den anderen in ihrer GAP-Einheit und in den Bergen empfunden haben muss. Als ich an diesem Abend heimging, wurde mir erstmals wahrhaft bewusst, wie tief der Verrat von Radio Julia sie getroffen haben muss, wie einsam sie sich danach gefühlt haben muss, wie verlassen sie sich immer noch vorkommen muss, wenn sie daran denkt.
Der Gedanke machte mich so krank, dass ich ihr in jener Nacht wieder einmal beinahe alles erzählt hätte. Um ein Haar hätte ich ihr gebeichtet, dass wir nicht von jemandem aus dem inneren Kreis verraten wurden – dass nicht sie, sondern ich allein die Schuld trug. Aber wieder einmal war ich im entscheidenden Moment zu feige. Ich brachte beim besten Willen nicht die Kraft auf. Stattdessen schwor ich, wie schon so oft, dass ich bis an mein Lebensende alles für sie tun würde, um das wiedergutzumachen.
Die Gelegenheit dazu kam früher, als ich gedacht hätte.
Ich hatte keine Arbeit mehr. Ich konnte nirgendwohin. Ich wollte freiwillig in einem Krankenhaus oder einer Klinik mitarbeiten, aber stattdessen bat mich Issa, ich solle mich um das Kind kümmern. Noch in diesem Frühling, wahrscheinlich schon im Lauf des nächsten Monats, werden die Alliierten einen weiteren Versuch unternehmen, die Gotenlinie zu durchbrechen. Alle glauben, dass es ihnen diesmal gelingen wird. Aber wir wissen auch, dass die Deutschen mit dem Rücken zur Wand stehen und sich mit aller Kraft wehren werden. Sie haben nichts zu verlieren.
Informationen sind alles, und natürlich haben die Alliierten längst nicht genug davon. Wieder einmal müssen sie genau wissen, wo sich jede MG-Stellung befindet, wo Panzerminen vergraben sind, welche Gleise vermint wurden. In den Bergen ist das besonders schwer herauszufinden. Issa hat mir erzählt, dass die Truppen, die rund um Monte Sole festsitzen, im Lauf des vergangenen Monats versucht hätten, deutsche Soldaten gefangen zu nehmen, um sie zum Reden zu bringen. Diese Anstrengungen waren zwar nicht völlig vergeblich, trotzdem sind Spione viel effektiver – Spione, die sich in den Bergen auskennen und sich nahe an die deutschen Stellungen heranschleichen können.
Als sie mir das erzählte, wollte ich im ersten Moment protestieren. Nein sagen. Sie anflehen, dass das zu gefährlich sei. Sie anbetteln, es nicht zu tun. Dann sah ich ihr in die Augen. Zum ersten Mal, seit das Kind geboren wurde, sah ich sie wieder leuchten.
Und so bildete sich eine neue Routine heraus. Issa war nicht ständig unterwegs, aber manchmal mehrere Tage lang. Ich blieb währenddessen in der Wohnung, in unseren beiden Zimmern, und versorgte meinen Neffen.
Er ist ein braver Junge. Schon jetzt kann ich in seinem winzigen Gesicht Issa und Carlo erkennen. Er gurgelt, wenn ich etwas vorsinge, obwohl er dabei heftig mit den Händen wedelt, als hielte er nicht allzu viel von meinen Gesangskünsten. Wenn seine Mutter zurückkommt, reckt er sich ihr entgegen. Er kann seine Ärmchen und Beinchen noch nicht kontrollieren, aber seine Augen folgen ihrer Stimme und werden groß, sobald er ihr Gesicht sieht.
Die ganze Zeit über werden die Bombenangriffe fortgesetzt. Irgendwie wirken sie widersinnig, so als hätten die Alliierten jene Politik der verbrannten Erde übernommen, die eigentlich die Deutschen anwenden, wenn sie sich zurückziehen müssen. Vielleicht liefern sich die beiden Parteien einen Wettkampf darum, wer am meisten kaputt machen kann. Issa berichtete, dass der Brennerpass zu einem Todeskorridor geworden ist. Luftabwehrgeschütze feuern in den Himmel, und aus den Wolken fallen tödliche Bomben. Auch auf beiden Seiten des Po fallen Bomben, und alles, was sich auf der Straße bewegt, wird beschossen. Es gibt kaum noch Benzin und keine Kohle mehr. Also sind die Deutschen dazu übergegangen, zwei Laster an einen anzuhängen, der noch Benzin hat, oder sie setzen Ochsenkarren ein. Man erzählt sich, dass überall in den Straßengräben tote Tiere liegen.
Issa war meist bei Nacht unterwegs. Ich wusste nie, wann sie heimkommen oder weggehen würde. Vor ein paar Nächten hörte ich mitten in der Nacht Schritte und danach das Scharren des Schlüssels im Schloss. Erst am nächsten Morgen merkte ich, dass sie einen neuen Brief von Lodovico mitgebracht hatte. Bis ich ihn öffnete, war sie schon wieder verschwunden. Was gut war, wenn man bedenkt, was ich darin lesen sollte.
Lodo behauptete, dass der Angriff demnächst bevorsteht, wie jeder inzwischen weiß. Die Deutschen kämpfen mit dem Rücken zur Wand, genau wie die italienischen Faschisten. Sie werden sich wehren wie in die Ecke getriebene Hunde. Und die Alliierten ihrerseits werden alles in die Schlacht werfen, was ihnen zur Verfügung steht, um den Feind daran zu hindern, über die Alpen zu fliehen. Wir sind dann gefangen zwischen einem rücksichtslosen Sturmangriff und einem ebenso rücksichtslosen Rückzug.
Aber Lodo hatte einen Plan. Er konnte mich aus dem Land bringen. In Kürze würde ein Fischerboot namens Santa Maria in Genua ablegen. Der Kapitän würde nach mir Ausschau halten und mich an Bord nehmen. Lodovico hatte ihm bereits die Hälfte der Überfahrt bezahlt. Sobald ich sicher in Neapel von Bord ging, würde der Kapitän die andere Hälfte bekommen.
Ich starrte auf die Worte. Sie verschwammen vor meinen Augen, wollten nicht zur Ruhe kommen, wollten immer wieder vom Blatt rutschen. Bis zu dem von Lodo genannten Termin waren es nur noch drei Tage.
Ich faltete den Brief zusammen und versteckte ihn.
Mit einem hatte ich natürlich nicht gerechnet, und das war Issa.
Als ich am nächsten Tag nach Hause kam, saß sie am Küchentisch, das Blatt Papier glatt gestrichen und ausgebreitet vor sich. Sie hielt es mit beiden Händen auf der Tischplatte, als fürchtete sie, es könne wegfliegen.
»Was ist das?«
Ich blieb wie angewurzelt stehen. Dann schloss ich die Tür hinter mir.
»Du weißt, was das ist«, sagte ich und bemühte mich, dabei so gleichmütig wie nur möglich zu klingen. »Du hast es selbst gelesen.«
Ich hätte mich ohrfeigen können. Ich hätte das verflixte Ding bei mir tragen sollen. Ich hätte es sofort verbrennen sollen. Ich hätte mir nicht einbilden sollen, dass ich es vor Issa verstecken konnte.
»Es ist egal.«
Ich stellte meine armseligen Einkäufe ab, drehte mich um und sah sie an.
»Ich lasse dich nicht allein«, sagte ich. »Ich werde nicht fahren. Ich lasse dich nicht allein«, wiederholte ich noch einmal, um ihr zu zeigen, dass ich sie keinesfalls verraten würde.
»Wie meinst du das?«
Ich zuckte mit den Achseln und lachte dann. »Genau so, wie ich es gesagt habe. Ich werde nicht fahren«, bekräftigte ich. »Ich will nicht. Und selbst wenn ich wollte, käme ich nicht mehr rechtzeitig nach Genua. Außerdem werde ich nicht fahren. Ich lasse dich nicht allein.«
»Aber du musst. Du musst!«
Ich brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass sie wütend war.
»Du kannst nicht meinetwegen hierbleiben.« Sie schüttelte den Kopf. »Das lasse ich nicht zu. Ich brauche dich nicht«, warf mir Issa an den Kopf. »Ich komme allein zurecht.«
Ich traute meinen Ohren nicht. Ich sah sie mit großen Augen an und entdeckte wieder die kalte Härte in ihrem Blick. Jene kalte Härte, die ich zum ersten Mal an einem Nachmittag auf unserer Terrasse entdeckt hatte – in einem anderen Leben. Nemesis.
»Ich würde das für dich auch nicht tun«, sagte sie.
Die Worte trafen mich wie ein Schlag ins Gesicht. Sie verschlugen mir den Atem. Ich starrte sie an, als hätte sie sich unversehens in eine Fremde verwandelt.
»Wenn Carlo noch am Leben wäre«, sagte sie ungeheuer ruhig, »und ich mit ihm zusammen sein könnte, würde ich sofort von hier verschwinden. Ich würde weggehen. Wenn ich müsste, würde ich auf allen vieren zu ihm kriechen. Ich würde dich, ohne zu zögern, verlassen.«
Ich merkte, wie ich zu zittern begann. Mein Blick verschwamm.
»Aber ich«, antwortete ich schwer atmend, »bin Gott sei Dank nicht du!«
Ich stieß sie beiseite und stürmte ins Nebenzimmer. Dann knallte ich die Tür hinter mir zu. Sofort begann der Kleine zu weinen. Ich hörte, wie Issa zu ihm ging, hörte, wie sie ihm etwas vorsang. Ich blieb stehen und merkte, wie die Wände um mich herum zu schwanken und zu kippen begannen. Ich setzte mich aufs Bett und wiegte mich – hin und her, hin und her, im Rhythmus ihres Gesangs, der durch die dünne Holztür drang. Dann weinte ich. Ich weinte, bis mir die Kehle wehtat und meine Augen geschwollen waren und ich endlich einschlief.
In der Küche stand, direkt neben dem Stubenwagen, ein alter Lehnsessel. Offenbar hatte Issa darin geschlafen, denn sie kam nicht zu mir ins Zimmer. Am nächsten Morgen hörte ich sie in aller Frühe herumgehen. Ich schlief wieder ein, in der Hoffnung, dass sie einfach gehen würde. Dass sie in die Berge verschwinden und den Kleinen und mich in Frieden lassen würde – um in ein paar Tagen als ein anderer Mensch zurückzukehren. Aber als ich schließlich die Tür aufzog, stellte ich fest, dass beide verschwunden waren. Mutterseelenallein stand ich in der Küche. Sie hat Wort gehalten, dachte ich, wenn auch nicht so, wie ich dachte. Sie hatte mich verlassen, damit mir nichts anderes übrig blieb, als sie ebenfalls zu verlassen.
Ich setzte mich an den Tisch. Ich hatte keine Ahnung, was ich jetzt tun sollte. Ohne sie trieb ich steuerlos auf hoher See. Selbst wenn ich nach Genua hätte fahren wollen, hätte ich beim besten Willen nicht gewusst, wie ich das anstellen sollte. Ich konnte schlecht zum Bahnhof gehen und in einen Zug steigen. Der Tag war klarer als die vorangegangenen. Die Sonne strahlte durch das kleine Küchenfenster. Ich saß da, sah die Sonnenstrahlen über das Fensterbrett streichen und stellte mir vor, wie mein Leben wohl ohne sie aussehen würde, wie die Jahre in der Leere verhallen würden. Ich versuchte immer noch, mir das vorzustellen, als ich ihre Schritte auf der Treppe hörte.
Ohne ein Wort zu sagen, trat sie ein, das Kind im Arm, und legte es in den Stubenwagen. Als sie sich umdrehte, hatte ihr Gesicht wieder diesen bestimmten Ausdruck – genau wie früher, wenn sie in die Berge ging oder wenn sie zu mir nach Florenz ins Krankenhaus kam, weil sie etwas von mir wollte. Sie war nicht mehr wütend, sondern ganz ruhig. Sie hatte einen Entschluss gefasst.
»Du musst weg«, sagte sie. Sie sah mich an. »Du musst weg von hier, Cati. Und du musst ihn mitnehmen.« Bevor ich auch nur den Mund aufmachen konnte, ergänzte sie: »Es ist schon alles arrangiert. Sie holen euch heute Nachmittag ab und bringen euch beide nach Genua.«
Ich starrte sie an. Dann schüttelte ich den Kopf.
»Nein«, sagte ich. »Das kann ich nicht, Issa. Ich …«
Ehe ich sie daran hindern konnte, war sie vor mir auf ein Knie gegangen und hatte meine Hände genommen.
»Cati.« Sie sah mir eindringlich in die Augen. »Ich flehe dich an. Ich flehe dich um meines Sohnes willen an. Du kannst ihn vor alldem bewahren. Vor dem, was ihn hier erwartet. In Neapel ist er sicher.«
Ich klappte den Mund auf. Ich wollte etwas sagen, doch dann brachte ich kein Wort über die Lippen. Denn sie hatte recht.
»Nimm ihn mit«, sagte Issa. »Wenn du mich liebst, Cati, dann nimm ihn mit.« Ich hatte immer gewusst, dass sie keine Skrupel kannte. Dass sie vor nichts zurückschrecken würde, wenn sie etwas für richtig hielt. Sie presste meine Hände zusammen. »Ich komme nach. Ich komme zu euch, sobald ich kann.«
»Nein«, sagte ich schnell. »Nein.« Ich hatte ein Schlupfloch entdeckt und nutzte es sofort. »Wir müssen alle zusammen fliehen, wir alle drei.«
Issa schüttelte den Kopf.
»Auf dem Boot ist nicht genug Platz. Und selbst wenn, gibt es praktisch keine Zugfahrkarten mehr. Es war schon schwierig genug, eine für dich und ihn zu beschaffen. Noch eine werde ich keinesfalls bekommen.«
»Du könntest es versuchen. Du könntest …«
Wieder schüttelte sie den Kopf. »Der Kapitän wird nicht warten. Er legt morgen Abend ab. Er muss. Er muss aufs Meer, solange Neumond ist.«
»Dann fahr du«, sagte ich. »Dann fahr du an meiner Stelle, zusammen mit deinem Sohn. Ich komme euch später nach. Ich werde es schon schaffen. Lodovico wird sich um euch kümmern.«
Das ließ Issa tatsächlich lächeln. Sie wippte auf den Fußballen, ohne meine Hände loszulassen.
»Wenn du nach Süden willst, musst du über die Berge«, sagte sie. »Und wer von uns beiden wird das wohl eher überleben?«
Ich sah sie an. Wir wussten beide, dass ich es nicht war.
»Ich kann dich und ein Baby unmöglich über die Berge bringen, Cati. Und auf dem Boot ist nicht genug Platz, nicht für uns drei, und es wird nicht auf uns warten. Außerdem«, ergänzte sie, »habe ich hier eine Aufgabe zu erfüllen. Wenn die erledigt ist, komme ich nach. Ehrenwort.«
Wieder sah ich sie an, sah in ihrem Gesicht die stille Trauer über Carlos Tod und dachte an das Versprechen, das ich mir selbst gegeben hatte. An meinen Schwur – dass ich alles für sie tun würde.
Isabella schärfte mir ein, auf sie zu hören. Sie erklärte mir, dass sie die ganze Nacht nachgedacht hätte und dass sie bereits geplant habe, nach Bologna zu reisen. Sie sagte, sie würde dort in den Kampf eintreten – dort würde sie gebraucht, außerdem war sie dort nicht weit von den Bergen entfernt. Sobald sie nicht mehr gebraucht wurde, würde sie verschwinden, der Via degli Dei nach Hause folgen, dort Mama aufspüren und dann mit ihr nach Neapel weiterfliehen. Sie konnte die Berge mit verbundenen Augen durchqueren. Sie wusste, wo und von wem sie Hilfe erwarten konnte. Sie sah mich gespannt an.
»Würdest du das auch schaffen?«, fragte sie.
Ich schüttelte den Kopf.
»Und glaubst du nicht, dass ich das schaffen könnte?«
Schon als Kind hatte Isabella es immer verstanden, genau die Fragen zu stellen, die mir den Wind aus den Segeln nahmen. Und selbstverständlich hatte sie recht. Sie war eine Berühmtheit. Wenn jemand diesen Marsch überleben würde, dann sie.
»Du musst das Kind nehmen und mit ihm in den Süden fliehen«, sagte sie. »Das wird schwer genug werden. Bitte«, drängte sie. »Bitte, Cati. Ich flehe dich an, tu das für mich. Rette ihn. Bringe ihn von hier fort. Wenn du mich liebst.«
Ich sah ihr ins Gesicht. Ich spürte, wie ihre Hände meine umklammerten. »Wenn du mich liebst.« Was hätte ich darauf erwidern können?
Also fahren wir. In einer Stunde. Oder zweien. Ein Mann wird mit Papieren kommen, in denen steht, dass ich seine Frau bin und wir mit unserem neugeborenen Kind nach Genua fahren, wo wir bei Verwandten unterkommen wollen. Jedes einzelne Papier ist unterschrieben, besiegelt, gestempelt. Nur dafür war Isabella heute Morgen unterwegs. Bisweilen vergesse ich, wer und was sie ist. Dass es Menschen gibt, die ihr etwas schulden. Einen Gefallen. Ihr Leben.
Vor ein paar Minuten zog sie mich ins Schlafzimmer, als könnte uns der Kleine belauschen, und nahm mir noch einen letzten Eid ab: Falls ihr etwas zustoßen sollte, dürfte ich dem Kind nie verraten, dass es nicht mein Sohn ist.
»Ich will, dass du mir eines schwörst«, sagte sie. Diesmal hatte sie wirklich die Hand erhoben. »Wenn ich es nicht schaffe, wenn mir irgendwas zustößt, dann musst du ihn mitnehmen und bei dir behalten und ihn wie deinen Sohn erziehen und ihn nie wissen oder auch nur ahnen lassen, dass seine Mutter ihn weggegeben hat. Dass sie sich von ihm abgewandt hat. Und sei es noch so kurz. Ich möchte nicht, dass er mit diesem Wissen lebt. Das musst du mir versprechen.«
Ich sah ihr in die Augen. Ich wollte ihr schon sagen, dass das Unfug war – dass der Junge sie bestimmt verstehen würde, dass ich, falls ihr tatsächlich etwas zustoßen sollte, ihm bestimmt begreiflich machen könnte, wie sehr sie ihn liebte.
»Bitte«, sagte sie. »Tu es für mich, Cati. Schwöre es mir.«
Und so hob ich die Hand. Ich legte sie auf ihre.
»Blutsbande, Cati«, flüsterte Isabella.
Ich nickte.
»Blutsbande, Issa.«
Selbst jetzt weiß ich nicht, ob ich die Kraft aufbringen werde, sie allein zurückzulassen. Es ist ein Gefühl, als hätte man mir die Eingeweide aus dem Bauch gerissen. Der Schmerz wird nur erträglich, wenn ich das Kind ansehe – denn ich tue all das nur für ihn. Und für sie. Weil sie mich darum gebeten hat.
Trotzdem ertrage ich das Gefühl nicht, dass sie völlig allein zurückbleibt, verlassen und verraten wie damals, als sie vor jenem ausgehobenen Graben stand. Darum werde ich etwas unternehmen.
Ich werde mich ein letztes Mal gegen dich zur Wehr setzen, Isabella. Mit Arglist. Und dieses Mal werde ich gewinnen. Hast du gehört? Wenn dir das nicht gefällt, kannst du niemandem außer dir selbst die Schuld geben. Du hast mich gelehrt, ganz langsam zu gehen und mich nicht umzudrehen – du hast mich gelehrt, mutig zu sein. Und du hast mich gelehrt, trotzig zu sein. Wenn du also wütend auf mich bist, kannst du niemandem als dir selbst die Schuld daran geben. Du hast mir gezeigt, wie es geht.
Inzwischen bin ich am Ende dieses Buches angekommen. Anders, als ich es mir vorgestellt hatte, wird es das Kriegsende nicht mehr erleben. Ich habe kein Foto von mir, das ich dir hinterlassen könnte, das du an deinem Herzen tragen könntest, dicht neben Carlos Bild. Stattdessen wirst du dich mit diesen »Wortbildern« begnügen müssen. Gleich werde ich aufstehen und dieses Buch im Schlafzimmer verstecken, aber nur notdürftig. An einem Fleck, wo du es – morgen oder spätestens übermorgen, so, wie ich dich kenne – finden wirst. Und dann wirst du es für mich aufbewahren, bis wir uns wiedersehen, und du wirst wissen, dass dich meine Worte begleiten werden und dass du nicht allein bist, auch wenn wir nicht mehr in deiner Nähe sind.
Ich wünschte, ich hätte etwas anderes, etwas Besseres, aber mehr kann ich dir nicht geben – als dieses Stück von mir. Und dieses letzte Bild.
Wir sitzen hier, zu dritt inzwischen, an einem wackligen Tisch in einer kleinen Wohnung, die früher fremden Menschen gehörte und die wir zu unserem Heim gemacht haben. Die Sonne scheint durch das Fenster, und du singst dem Kleinen etwas vor. Du siehst ihm in die Augen und wiegst ihn in den Armen. Du hältst deinen Sohn in den Armen, während wir darauf warten, dass jemand an die Tür klopft.