10. Kapitel

»Fassen Sie noch einmal zusammen, was wir bis jetzt wissen.«

Pallioti sah aus dem kleinen Flugzeugfenster, während er das sagte. Unter ihnen lag ein Flickenteppich aus matten Grüntönen. Am Horizont verschmolz die weite, graue Adria mit einer Wolkenbank. Es war Montagmorgen kurz nach Sonnenaufgang. Sie waren noch im Dunkeln aus Florenz abgeflogen. In ein paar Minuten würden sie in Brindisi landen. Er und Enzo waren die einzigen Passagiere auf diesem Flug.

»Roberto Roblino.«

Enzo brauchte seinen Aktenkoffer nicht zu öffnen oder die Notizen und Ausdrucke zu konsultieren, die ihnen gestern Abend zugefaxt worden waren.

»Vierundachtzig Jahre alt. Wohnt seit ungefähr fünfzig Jahren in der Gegend. Eine Art örtliche Berühmtheit. Er wurde am Sonntagnachmittag in seinem Garten aufgefunden. Offenbar von seiner Haushälterin, die vorbeikam, um nachzusehen, ob alles in Ordnung sei, nachdem er nicht ans Telefon gegangen war. Die Obduktion ist für heute Vormittag angesetzt, aber der Gerichtsmediziner schätzt, dass er schon seit vierundzwanzig Stunden tot war, als sie ihn fand. Ein einzelner Schuss in den Hinterkopf, und sein Mund war voller Salz.«

Enzo sah Pallioti an. »Das ist nicht die einzige Parallele«, sagte er dann. »Roberto Roblino war ebenfalls bei den Partisanen. Wurde gleichfalls zum sechzigsten Jahrestag ausgezeichnet. Im Unterschied zu Trantemento hat er gern darüber gesprochen. Immerzu. Er war praktisch der örtliche Kriegsheld.«

Pallioti nickte. »Was ist mit Ihrem Reporter?«, fragte er.

Enzo sah ihn verblüfft an. Im ersten Moment verstand er die Frage nicht. Dann sagte er: »Ach ja. Die Neonazis.«

Das Gespenst der katastrophalen Pressekonferenz, durch die sich Pallioti am Samstagabend gequält hatte, erhob sein Antlitz wie ein blinder Passagier.

»Hatte er irgendwas für Sie?«

»Vor ein paar Jahren«, sagte Enzo, »kam es zu ein paar dämlichen Übergriffen. Offenbar war in einer IT-Firma, die auch für eines der Ministerien arbeitete, ein kleiner Hitlerverehrer beschäftigt. Er hackte sich in einige Datenbanken und versuchte, die Pensionszahlungen zu manipulieren, hauptsächlich von jüdischen Überlebenden aus den Vernichtungslagern, aber vermutlich auch von einigen Partisanen. Er wurde erwischt, und man machte dem Spuk ein Ende, bevor wirklicher Schaden entstand. Trotzdem war es eine gute Story, die beste in der Laufbahn unseres kleinen Reporterfreundes, nehme ich an. Und Sie wissen selbst, wie so etwas läuft. Wenn der Funke schon einmal gezündet hat, wieso dann nicht auch ein zweites Mal?«

»Aber das hat er doch nicht, oder?« Pallioti hatte angestrengt aus dem Fenster geblickt und drehte sich jetzt zu Enzo um.

»Hat was nicht?«

»Beim ersten Mal gezündet? Ich kann mich nicht erinnern.«

Enzo schüttelte den Kopf. »Nein. Die Sache wurde mehr oder weniger unter den Teppich gekehrt. Offenbar griff der Minister ein, bevor die Story veröffentlicht wurde. Die Firma führte interne Ermittlungen durch und klärte angeblich alles auf. Viel mehr gab es nicht zu sagen.« Er zog die Brauen hoch. »Ehrlich gesagt glaube ich, dass es von Anfang an nur ein Gerücht war. Eine Art modernes Journalistenmärchen. Als ich unserem kleinen Nachrichtenfuchs auf den Zahn fühlte, musste er zugeben, dass es kaum konkrete Anhaltspunkte gab. Natürlich«, wandte er ein, »würde weder das Ministerium noch die betroffene Firma gern darüber sprechen, falls tatsächlich etwas vorgefallen wäre. Ich würde darauf wetten, dass es sich diesmal mit den Neonazis ähnlich verhält. Mehr Inspiration als Substanz.«

Pallioti seufzte. Das überraschte ihn nicht.

»Also, was wissen wir sonst noch hierüber?« Er nickte zum Fenster hin, als meinte er nicht nur den Tod des zweiten alten Mannes, sondern ganz Apulien.

»Also, zuständig für den Fall ist ein gewisser Cesare D’Aletto«, eröffnete ihm Enzo. »Ich habe gestern Abend mit ihm telefoniert. Er hat mit uns Verbindung aufgenommen, sobald er die Datenbanken abgefragt und von unserem Fall erfahren hatte. So wie er es sieht, laufen höchstwahrscheinlich keine zwei Leute durch Italien, die so etwas anstellen.«

Pallioti wollte gar nicht darüber nachdenken, was das bedeutete. Stattdessen fragte er: »Ist er kooperativ?«

»D’Aletto? Auf einer Skala von eins bis zehn?«, fragte Enzo. »Elf. Er wurde erst vor drei Monaten nach Brindisi versetzt. So wie ich es sehe, gab es ein mittleres Erdbeben, als er ankam. Er sagt, er hat dort alle Hände voll zu tun. Menschenhandel. Drogen. Illegale Einwanderung. Schwarzbauten. Schwarzarbeit. Was Sie nur wollen. Er will keinen Orden, er will nur seine Fälle vom Tisch bekommen.« Enzo zuckte mit den Achseln. »Andernfalls hätte er sich alle Zeit der Welt gelassen, bevor er uns angerufen hätte. Oder es ganz vergessen. Ich glaube, wir werden feststellen, dass er gern jede Hilfe annimmt.«

»Und woher kommt dieser Tugendbold?«

»Aus Turin.«

Pallioti kannte seine Turiner Kollegen. Sie waren hoch angesehen.

»Und die Kugel?«

Enzo nickte. »Der Pathologe ist sicher, dass sie noch im Kopf steckt. Nach der Obduktion werden sie sie haben. D’Aletto meinte, dass Sie die Kugel vielleicht vom selben Team untersuchen lassen möchten, das auch Ihre Kugel untersucht hat.«

Pallioti zog die Augenbrauen hoch.

»Ich habe es Ihnen doch gesagt«, sagte Enzo. »Er ist kooperativ.«

Das Flugzeug flog in eine Kurve. Regen klatschte gegen die Fenster, verwischte die Küstenlinie und tauchte die Landschaft unter ihnen in ein dumpfes Industriegrau. Windböen schüttelten das kleine Flugzeug durch, sobald es zum Landeanflug ansetzte. Die Triebwerke heulten auf. Das Fahrwerk fuhr knarrend aus und rastete ein. Sekunden später landeten sie unter lautem Fauchen, und die aufspritzende Gischt ließ den dunklen Wagen verschwinden, der auf dem Flugfeld parkte und neben dem eine dunkle Gestalt stand.

Bis das Flugzeug vom Ende der Rollbahn zurückgefahren war, die Triebwerke abgestellt waren und die Stewardess die Tür geöffnet hatte, wartete Cesare D’Aletto bereits am Fuß der Treppe. Seine Miene – eine Mischung aus Anspannung und Nervosität – erinnerte Pallioti an die Eltern, die ihm begegneten, wenn er ab und zu Tommaso aus dem Kindergarten abholte. Vor dem Tor stehende junge Frauen im Mantel und Väter im Anzug, die es einerseits kaum erwarten konnten, ihre kostbaren Sprösslinge zu begrüßen, und gleichzeitig fürchteten, sie könnten nicht herausgelaufen kommen.

»Danke«, sagte er und gab erst Pallioti und dann Enzo die Hand. »Vielen Dank, dass Sie den langen Weg auf sich genommen haben. Und so schnell.« Lächelnd führte er sie zu seinem Wagen.

Sobald sie geborgen auf dem Rücksitz saßen, drehte sich Cesare D’Aletto auf dem Beifahrersitz um und erklärte über die Rückenlehne hinweg: »Am Samstagabend ist das Wetter umgeschlagen, und seither gießt es ununterbrochen. Es sind keine idealen Bedingungen. Trotzdem dachte ich mir, dass Sie den Fundort so bald wie möglich sehen wollen.«

Er war jünger, als Pallioti erwartet hatte, und schien sich fast für die widrigen Umstände entschuldigen zu wollen, als könnte er über das Wetter oder den Fundort oder beides gebieten. Eine blonde Strähne fiel ihm vor das blaue Auge. Er warf sie zurück. »Es sei denn«, schränkte er ein, »Sie möchten vorher kurz haltmachen? Um etwas zu essen oder auf einen Kaffee?«

»Nein.« Pallioti schüttelte den Kopf. »Machen wir uns gleich an die Arbeit.«

»Gut.« Cesare D’Aletto drehte sich wieder nach vorn und schnallte sich an. »In diesem Fall sollten wir in ungefähr vierzig Minuten dort sein.«

Irgendwo hinter der Wolkenbank, die über dem Meer hing, ging die Sonne auf. Pallioti konnte sie nicht sehen, während sie die Stadt umfuhren und dann auf eine Straße abbogen, die so gerade verlief, dass noch die Römer sie gebaut haben mussten. Der Regen kam in schweren Güssen, er wehte seitlich heran und ließ die Landschaft verschwinden, die, soweit Pallioti das erkennen konnte, hauptsächlich flach und grün und struppig war. Ein- oder zweimal sah er von der Straße zurückgesetzt kleine Häuser stehen. Sobald sie von der Schnellstraße abbogen, ging es deutlich langsamer voran. Noch langsamer wurden sie, als sie durch eine Kleinstadt kurvten, die im Grunde aus einem Haufen weiß gekalkter Mauern an einem Hügel bestand. Auf der Piazza erhob sich eine Kirche. Ein paar durchnässte Marktstände scharten sich mit durchhängenden, wassertriefenden roten Planen um den Brunnen.

»Es sieht nicht überall so aus.« Cesare D’Aletto sah nach hinten und lächelte. »Brindisi ist eigentlich ganz hübsch«, sagte er. »Zum Teil wenigstens.«

Pallioti war nie dort gewesen und hatte daher keine Ahnung, ob das stimmte oder ob der junge Mann einfach das Beste aus seinem neuen Wohnort zu machen versuchte. Vielleicht war die Versetzung von Turin hierher eine Beförderung gewesen, auf jeden Fall musste es ein Kulturschock sein. Ganz zu schweigen von dem geografischen Schock, falls es so etwas gab. Der nächste schneebedeckte Gipfel war von hier aus der Ätna. Selbst im Regen war es hier deutlich wärmer als der frühe Herbstmorgen, aus dem sie in Florenz gestartet waren. Im Sommer war der ganze Landstrich eine einzige Bratpfanne. Fast als würde man in der Wüste wohnen. Pallioti wusste, dass der Mezzogiorno in den letzten Jahren bei den Engländern modern geworden war, die endlich der Toskana überdrüssig geworden waren, vielleicht sogar bei ein paar Italienern, aber er für seinen Teil konnte sich nicht vorstellen, hier zu leben. Was sollte er hier anfangen? Und wo sollte er es anfangen?

»Stammt Roberto Roblino von hier?«, fragte er.

Cesare D’Aletto drehte sich wieder kurz um und schüttelte den Kopf.

»Das wissen wir nicht«, sagte er.

»Verzeihung?«

»Soweit wir seine Lebensgeschichte kennen, und das tun wir zurzeit vor allem durch seine Haushälterin, kam er vor fünfzig Jahren hierher. Aus Spanien.«

»Er ist Spanier?«

Pallioti hatte von vielen Italienern gehört, die nach Spanien gegangen waren und dort im Bürgerkrieg gekämpft hatten, aber dass dieser Gefallen erwidert worden war, hatte er noch nicht gehört.

»Hier steht«, Enzo sah in die Akte, die er aus seinem Koffer gezogen hatte, »dass er italienischer Staatsbürger war.«

»O ja«, bestätigte D’Aletto. »Das ist er. Ohne Frage. Wir haben gestern seinen Safe öffnen lassen, und wir haben seinen Pass. Aber wir haben keine Geburtsurkunde gefunden, wenigstens nicht in seinem Safe. Die Haushälterin und ihr Mann haben ihn in den Fünfzigerjahren in Madrid kennengelernt. Er war damals im Import-Export tätig. Von Dachziegeln, Baumaterialien, solchen Sachen. Als er wieder nach Italien zog, nahm er seine Firma und das Paar mit. Und er hatte bei den Partisanen gekämpft. Er ist also Italiener. Wir wissen nur nicht, wo er geboren wurde. Offenbar gingen die Unterlagen während des Krieges verloren. Damals wurden viele Akten vernichtet.«

Der Fahrer bremste unvermittelt für zwei alte Damen, die vom Bürgersteig getreten waren und jetzt gemächlich die Straße überquerten, die Köpfe gegen den Regen gesenkt.

»Keine Familie?«

D’Aletto schüttelte den Kopf.

»Laut seiner Haushälterin nicht. In Spanien hatte er wohl eine Frau oder eher Freundin. Sie kam mit ihm hierher, blieb ein paar Jahre da und verschwand dann wieder. Davon abgesehen niemanden. In seinem Testament ist auch nichts vermerkt. Sein Erbe fällt an die Haushälterin und ihren Mann. Hauptsächlich an die Haushälterin.«

»Die ihn auch gefunden hat?«

Cesare nickte, während der Wagen durch mehrere Serpentinen bergab fuhr.

»Maria Grazia Franca. Sie und ihre Familie leben hier im Ort.« Er deutete auf die Häuser, die eben hinter ihnen verschwanden. »Sie kommt an fünf Tagen die Woche. Vor ewigen Zeiten haben sie die italienische Staatsbürgerschaft angenommen. Ihr Mann kümmert sich um den Garten. Ich habe mit dem Konsulat in Madrid gesprochen«, ergänzte er. »Aber Sie wissen selbst, wie so was läuft.«

Pallioti wusste es nicht, aber er konnte es sich vorstellen. Inzwischen waren sie am Fuß des Hügels angekommen. Der Wagen beschleunigte kurz und bremste dann ab.

»Wir sind da.«

Hinter der verregneten Scheibe sah Pallioti den Übertragungswagen eines Fernsehsenders und mehrere andere Autos am Straßenrand stehen. Dahinter versperrte ein Streifenwagen eine Abzweigung.

»Verflucht«, knurrte er.

»Wir haben sie auf Abstand halten können.« D’Aletto sah zu ihm zurück. »Bis jetzt.«

Er hielt seinen Dienstausweis ans Fenster, als sie an dem Streifenwagen vorbeifuhren. Cesare D’Aletto wechselte ein paar Worte mit dem Fahrer, dann bogen sie auf einen Kiesweg voller Schlaglöcher ein, eine ärmliche Version der malerischen »weißen Straßen« in der Toskana. Nirgendwo war ein Haus zu sehen. Der Wagen schlingerte und holperte.

»Zum Glück«, sagte D’Aletto, während er seinen Dienstausweis wegsteckte, »ist die Zufahrt so lang. Etwa vierhundert Meter. Darum konnten wir sie bislang fernhalten. Aber«, er wiegte den Kopf, »inzwischen haben sie erfahren, wer er war, und dass er bei den Partisanen gekämpft hat. Also – nach Ihrer Pressekonferenz gestern Abend.«

Pallioti nickte. Sie hatten kaum damit rechnen können, dass sich das wiederholen würde – dass es sich genau gesagt bereits wiederholt hatte, als er in Florenz hinter seinem Pult gestanden und sich bemüht hatte, mit möglichst vielen Worten möglichst wenig zu sagen. Andernfalls hätten sie das vielleicht lieber für sich behalten.

»Aber niemand«, fragte er und hielt sich an der Tür fest, als der Wagen durch ein Schlagloch rumpelte, »weiß von dem Salz?«

Bei der Frage sah Enzo auf. Seinem Team war eingebläut worden, dass sie allesamt gehängt, gestreckt und gevierteilt würden, falls auch nur einer ein Wort davon verlauten ließ. Cesare D’Aletto schüttelte den Kopf.

»Niemand«, sagte er. »Das heißt«, schränkte er ein, »die Haushälterin hat es gesehen. Sie hat den Leichnam umgedreht, schließlich lag er auf dem Bauch. Und selbst im Regen … Aber ich habe mit ihr geredet, und sie ist nicht dumm. Sie wird nicht mit der Presse sprechen.« Er hielt kurz inne. »Mein Team?«, fuhr er schließlich fort. »Wir sind nur zu viert. Ich habe keine Mannschaft, die ich darauf ansetzen könnte. Dazu kommen noch die Leute von der Spurensicherung und der Gerichtsmediziner. Aber auch die werden niemandem etwas verraten. Sie wissen, dass sie das ihren Job kosten könnte.«

Pallioti hoffte es. Dass alternde Helden am helllichten Tag in der trügerischen Sicherheit ihrer eigenen Wohnung ermordet wurden, war schon schlimm genug, auch ohne dass sich die Neuigkeit von dem makabren Salzritual herumsprach. Das wäre ein gefundenes Fressen für die Presse. Ganz zu schweigen davon, dass es wahrscheinlich die Hälfte aller Verrückten inspirieren würde, die hier herumliefen. Italien war genauso wenig immun gegen eine »Serienmördermanie« wie jedes andere Land.

Der Wagen machte einen weiteren Satz, kam, so fühlte es sich an, einen Moment ins Schlittern und bog dann um eine Ecke. Pallioti überlegte, ob das mit dem Kaffee vielleicht doch keine so schlechte Idee gewesen wäre.

»Da wären wir«, sagte Cesare D’Aletto, als sie auf eine große, ungeteerte Parkfläche einbogen. »Willkommen in der Masseria Santa Anna. Auch bekannt als das Castello

Pallioti schaute durch das Fenster auf einen ockerfarbenen Kubus mit einem Zinnenkranz auf dem Dach. Zwei große Fenster starrten ihn links und rechts der breiten Tür an, zu der ein paar halbrunde weiße Stufen hinaufführten.

»Signor Roblino hat praktisch alles besessen, was Sie von hier aus sehen«, sagte Cesare D’Aletto und schwenkte die Hand über die niedrigen Hügel, die hinter den Terrassen und angepflanzten Büschen abfielen. »An die hundert Hektar. Olivenhaine hauptsächlich, und Gebüsch. Er hat das Haus selbst bauen lassen.« Er stieg aus, öffnete zwei Regenschirme und reichte erst Pallioti, dann Enzo einen. »Die Einheimischen meinen, er hätte es auch selbst entworfen.«

Trotz dieses tragischen Todesfalls, hörte sich Pallioti denken, konnte Italien sich glücklich schätzen, dass Roberto Roblino als Partisan erfolgreicher gewesen war denn als Architekt. Das Haus sah aus wie ein erschrockenes rotes Gesicht, dem die Haare zu Berge standen.

Er sah sich um. Sie befanden sich auf der Kuppe eines kleinen Hügels. Abgesehen von dem Städtchen, das zwei Kilometer hinter ihnen am Abhang eines größeren Hügels kauerte, und dem Band der Straße wellte sich das Land staubig grün dem Horizont entgegen, so weit das Auge reichte. Kronen von unzähligen Olivenbäumen bedeckten die Hänge, durchkreuzt von den weißen Linien der Steinmauern. Der Wind, der an der Küste geweht hatte, war im Inland nicht mehr zu spüren. Der Regen fiel in weichen, sanften Tropfen. Der Fahrer blieb im Auto, während Pallioti und Enzo ihrem Kollegen an den unvermeidlichen Polizeiabsperrungen vorbei folgten und über mehrere Stufen erst in einen Terrassengarten und danach ins Haus gelangten.

»Der Tatort wurde bereits untersucht«, sagte Cesare D’Aletto, sobald sie das Haus betreten hatten.

Pallioti sah sich um. Er entdeckte nirgendwo einen Forensiker, aber zahllose Hinweise darauf, dass sie hier gewesen waren. Wahrscheinlich bis tief in die Nacht.

»Haben sie etwas gefunden?« Enzo stellte die Frage, aber noch bevor er sie ausgesprochen hatte, glaubte Pallioti die Antwort zu kennen.

»Es ist ein bisschen früh für ein abschließendes Urteil«, antwortete Cesare D’Aletto. »Aber auf den ersten Blick nein. Praktisch gar nichts.«

Von innen war das Castello schöner als von außen. Die Wände waren weiß verputzt. Ein gefliester Flur durchschnitt den mehr oder weniger quadratischen, zweistöckigen Bau. Vorn gingen links und rechts Wohnräume ab, durch deren vergitterte Fenster man auf die Biegung der Zufahrt und auf den Ort dahinter blickte. Im einen Wohnraum sah er eine Treppe an der Wand, die offensichtlich zu den Schlafzimmern hinaufführte. Hinter den Wohnräumen ging es links ins Esszimmer und rechts in eine geräumige Küche. Pallioti blieb in dem Bogen stehen, durch den man ins Esszimmer kam. Mindestens der halbe Tisch war mit Papieren, Büchern und Akten bedeckt.

»Die Haushälterin sagt, er hätte sein ›Archiv‹ geordnet.« D’Aletto blieb hinter ihm stehen. »Offenbar war er seit ungefähr einem Jahr ganz besessen davon. Seit er in Rom ausgezeichnet worden war. Den Orden hat er schon dem örtlichen Museum geliehen. Nach dem Jahrestag wurde er zu einer Art Lokalheld. Sprach vor Schulklassen und so weiter. Ich habe mir das Material kurz angesehen«, ergänzte D’Aletto. »Aber nicht genauer. Das meiste davon kommt mir wenig persönlich vor. Sie wissen schon, Zeitungsausschnitte und so weiter. Auszüge aus Büchern. Ein Unterrichtspaket, das er für die Schulklassen zusammengestellt hatte, um ihnen das Leben bei den Partisanen nahezubringen. Das war sein Hobby. Sie sagt, die Kinder konnten ihn gut leiden. Wahrscheinlich war er ein guter Geschichtenerzähler.«

Cesare D’Aletto wandte sich ab. Er zog einen Schlüsselbund aus der Tasche.

»Der Garten ist dahinten«, sagte er. »Dort hat sie ihn gefunden. Wir haben den Fundort gestern Abend provisorisch überdacht. Trotzdem ist er nicht mehr unberührt.«

Durch die Ornamentglasscheiben in der Gartentür konnte Pallioti die Spitze des Zelts erkennen, das, so wie es aussah, über der Leiche des alten Mannes und einem Stück Rasen errichtet worden war. Enzo war in die Küche getreten und stand jetzt an der Spüle.

»Genau von dort aus hat sie ihn gesehen«, sagte D’Aletto und blickte über die Schulter zurück, während er den Schlüssel ins Schloss schob. »Die Haushälterin. Gestern Nachmittag, als sie aus dem Küchenfenster sah. Sie hatte ihn am Samstag angerufen – ich schätze, das tut sie jede Woche –, um ihn zu fragen, was er unter der Woche essen wollte. Sie dachte sich nichts weiter, als er nicht ans Telefon ging. Aber als sie es am Sonntag nach der Kirche noch einmal probierte und er wieder nicht antwortete, machte sie sich Sorgen. Schließlich fuhr sie nach dem Mittagessen, gegen zwei Uhr, hierher.«

»Er wohnte also alleine hier?«

»Anfangs nicht. Offenbar lebte sie mit ihrem Mann früher bei ihm. Hinter dem Haus gibt es eine kleine Hütte. Dort haben sie gewohnt. Aber als sie Kinder bekamen, erzählte sie, wurde es ihm zu laut, und er kaufte ihnen ein Haus im Ort. In der Hütte brachte er sein Büro unter.«

»Warum liegen dann seine ganzen Unterlagen im Esszimmer?«

Cesare D’Aletto hatte die Tür endlich geöffnet und lächelte Enzo an.

»Also«, sagte er, »für mich sieht es so aus, als wäre vor zwanzig Jahren ein Teil des Hüttendachs eingestürzt und als hätte sich niemand je die Mühe gemacht, es zu reparieren. Inzwischen wird die Hütte hauptsächlich von Tauben und alten Rasenmähern bewohnt. Wie man so hört«, fuhr er fort, »lebte Roblino gern allein. Offenbar war er gesund wie ein Pferd. Und kräftig. Fuhr immer noch Fahrrad. Ging spazieren. Besuchte im Sommer das Freibad.«

»Er hätte sich also durchaus wehren können?«

»Man sollte es meinen. Wenn er gewollt hätte.«

»Gab es überhaupt Kampfwunden?«

Cesare D’Aletto seufzte. Zum ersten Mal wirkte sein Gesicht müde. Erst jetzt, im weichen Licht des Flurs, bemerkte Pallioti die feinen Fältchen um seine Augen, den Fleck auf seinem Kragen. Wahrscheinlich war er die ganze Nacht auf gewesen.

»Auf den ersten Blick nicht«, sagte er, »meint der Gerichtsmediziner. Natürlich könnte die Obduktion noch etwas ergeben.« Er sah auf die Uhr. »Sie sollte ziemlich genau jetzt vorgenommen werden. Also werden wir vielleicht schon mehr erfahren, wenn wir in die Stadt zurückfahren. Aber nichts, was man auf den ersten Blick sehen würde.«

»Wurde etwas gestohlen?«, fragte Pallioti plötzlich. »Irgendwas?«

»Nichts, was uns aufgefallen wäre. Wenigstens bis jetzt.«

Pallioti sah ihn an. »Gar nichts?«, fragte er. »Nicht einmal seine Brieftasche?«

Cesare D’Aletto schüttelte den Kopf. »Die Brieftasche steckte noch in seiner Tasche, und es waren siebzig Euro darin. Nichts deutet darauf hin, dass sich der Täter gewaltsam Zutritt verschafft hat, und der Wochenlohn für die Haushälterin, den Roblino aus irgendeinem Grund offenbar immer schon samstags bereitlegte, lag auf dem Küchentisch unter dem Salzstreuer.«

»Und was ist damit, mit dem Salz?«

»Das habe ich mich auch gefragt – ob es aus der Küche stammt. Aber der Haushälterin zufolge ist alles unberührt geblieben. Außerdem hat sie meistens bei sich zu Hause gekocht und das Essen dann hergebracht, sodass es im Haus kein Salz außer dem gibt, das hier auf dem Tisch steht. Also nur ein paar Löffel voll. Und nichts weist darauf hin, dass Roblino jemals eine Waffe besessen hätte«, fügte er noch hinzu.

»Also …« Der Regen trommelte gegen das Küchenfenster, er überschwemmte den Gully und fiel in einem Vorhang von grauen Schnüren. »Was ist Ihrer Meinung nach hier passiert?«, fragte Enzo.

Cesare D’Aletto holte tief Luft. »So, wie ich es sehe, ist am Samstagnachmittag jemand vorbeigekommen und hat ihn erschossen.« Er fuhr sich mit der Hand über die Augen und schüttelte den Kopf. »Und ich fürchte«, meinte er dann, »dass wir schuld daran sind.«

»Sie?«

D’Aletto nickte. »Ja«, bestätigte er. »Ja. Denn gestern Nacht, oder besser heute ganz früh, habe ich alles zusammengesucht, was wir über Roberto Roblino in den Akten haben. Vor über einem Jahr bekam er eine Drohung zugeschickt.«

Enzo sah ihn fragend an.

»Einen Brief«, führte D’Aletto aus. »Er übergab ihn der Polizei. Erstattete Anzeige. Soweit ich feststellen konnte, passierte daraufhin gar nichts. Ich habe den Brief für Sie kopieren lassen«, sagte er dann. »Genau wie den Rest der Akte, so dünn sie auch ist. Beides liegt in meinem Büro bereit.«

Cesare D’Aletto sah auf den sauber geschrubbten Küchentisch. Auf die vier Stühle, die ordentlich daruntergeschoben waren. Die blaue Schale mit Granatäpfeln auf der Küchentheke. »Niemand hielt das für wichtig«, sagte er leise. »Und jetzt sind zwei alte Männer tot.«

Der Garten war von einer Mauer eingefasst. Auf einem rechteckigen, akkurat gestutzten Rasen erhoben sich mehrere Obstbäume. Spalier-Aprikosen breiteten ihre Arme entlang der roten Mauer aus und trafen auf breites Weinlaub. Eingetopfte Zitronen- und Orangenbäume. In der Mitte des Rasens stand ein kleiner, tiefblau gekachelter Brunnen. Pallioti war nie in Granada oder auf der Alhambra gewesen, aber er hatte Bilder davon gesehen. Plötzlich verstand er, warum Roberto Roblino hierher in den Süden gekommen war. Die gnadenlose Sonne, die festgebackene Erde, die aus weißen Kuben zusammengesetzten Dörfer. All das war ebenso spanisch wie italienisch. Neben dem Zelt stand ein Granatapfelbaum.

Cesare D’Aletto ging die Treppe hinunter. »Vorsicht«, warnte er. »Die Stufen sind rutschig.« Er stapfte über das durchnässte, schlammige Gras und hielt ihnen die Zeltluke auf. »Hier hat man ihn gefunden.«

Im faden grauen Licht wirkte die abgeklebte Silhouette des Leichnams merkwürdig solide. Sie streckte sich von ihnen weg, ein Arm reckte sich den Metallstühlen entgegen, die um einen kleinen Tisch herumstanden. Die Tischplatte war mit roten Mosaiksteinen gefliest, die ein verflochtenes Sternmuster bildeten. Auf zwei Sitzflächen waren weiße, noch nasse Kissen festgebunden. Auf dem dritten Stuhl stapelten sich Bücher. Daneben lag im Gras ein zerknitterter Panamahut, direkt neben der Silhouette der Hand, so als hätte der alte Mann danach zu fassen versucht. Pallioti ging in die Hocke. Die Bücher handelten allesamt vom Krieg. Die Seiten waren wellig und feucht. Die folienüberzogenen Umschläge ließen vermuten, dass sie aus einem Bibliotheksverkauf stammten oder ausgeliehen und nie zurückgegeben worden waren.

Pallioti stand auf und drehte sich um. Durch seinen Körper breitete sich eine Kühle aus, die nichts mit dem Regen zu tun hatte. Er sah auf das Haus. Durch die noch offene Tür konnte er in den Flur sehen und weiter bis zur Haustür. Vorausgesetzt, jemand war vorsichtig oder diszipliniert genug, jemand, der aus freien Stücken ins Haus gelassen worden war, der als Gast empfangen und in den Garten gebeten worden war, vielleicht um unter einem Granatapfelbaum den letzten Sommerhauch zu genießen – falls die Tür vom Gastgeber persönlich geöffnet worden war, hätte der Täter den Flur durchqueren können, ohne etwas zu berühren. Er – oder sie – hätte Roberto Roblino durch die bereits offene Tür zum Garten hinaus auf den Rasen folgen können. Dort hatte er ihm die Pistole ins Genick gesetzt und ihn hinknien lassen. Ihn Salz essen lassen. Dann eine einzige Kugel abgefeuert, um zuletzt den gleichen Weg zurückzugehen und die Haustür mit dem Handschuh zu öffnen und wieder zu schließen, sodass keine Spur zurückblieb. Die Täter waren gekommen, hatten ihr Werk verrichtet und waren wieder verschwunden.

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An diesem Tag, an dem sich Italiens Schande järt, sollen Alle es erfahren.

Die Flamme der Wahrheit und Gerechtigkeit brennt immer noch. Sie leuchtet in die dunkelsten Ecken.

Alle wahren Italiener werden ihr Licht sehen können.

Die Verräter denken vieleicht, sie können sich verstecken, aber der falsche Schuz ihrer Lügen wird sie nicht schüzen können.

Das alles reinigende Licht von Lauterkeit und Warheit wird sie erfassen.

Die Schatten werden besiegt werden. Solange es tapfere Männer und Krieger giebt, werden die Hallen von Walhall niemals leer stehen.

Das Schwert der Reinheit wird uns von den Verrätern erlösen und dann wird der Ware Ruhm Italiens Auferstehen.

Ihr seid gewarnt!

Das Original war mit rotem Kugelschreiber geschrieben. Selbst durch die Plastikhülle des Beweismittelbeutels hatte Pallioti erkennen können, dass die Zeilen auf billigem Papier verfasst worden waren, einem schmuddeligen blauen Zettel aus einem Notizblock, wie er am Kiosk verkauft wurde. Das Papier war mit dünnen Hilfslinien versehen, als hätte der Schreiber andernfalls Probleme, die Zeilen gerade zu halten.

Das Flugzeug war eindeutig kein komfortabler Privatjet, trotzdem hatte es einen halbwegs brauchbaren Klapptisch. Mit den Fingerspitzen hielt Pallioti die Kopie des Briefs fest, die Cesare D’Aletto ihm gemacht hatte, und las den Text erneut durch. In dieser Höhe waren sie über dem Regen. Die Wolken, über denen sie flogen, wurden von der Spätnachmittagssonne gelb getönt. Auf der anderen Seite des Gangs blätterte Enzo in der Akte, die D’Aletto ihnen überlassen hatte. Sie war irritierend dünn. Abgesehen von den üblichen Steuer-, Unternehmens- und Autoanmeldungsunterlagen gab es kaum etwas über Roberto Roblino zu erfahren. Tatsächlich hätte man glauben können, dass er 1957 als voll erwachsener Fünfunddreißigjähriger vom Himmel gefallen war. Nicht dass es viel zur Sache tat; falls Cesare D’Aletto recht hatte, war er nicht wegen eines so banalen Grundes getötet worden wie der Rachegelüste einer verstoßenen Geliebten oder eines unglücklichen Geschäftsabschlusses. Pallioti sah wieder auf den Drohbrief, den der alte Mann vor einem Jahr erhalten hatte.

Oben rechts standen das Datum, 28. April, und eine Reihe römischer Ziffern: LXXXIII. Eine Absenderadresse gab es nicht. Unten an der Seite prangte statt einer Unterschrift eine Art Stempelabdruck. Er war dunkel und verschmiert und sah aus, als hätte Tommaso ihn während einer Bastelstunde im Kindergarten angefertigt. Pallioti vermutete, dass er aus einem Radiergummi geschnitten worden war. An seinem Kühlschrank hingen mehrere derartige Meisterwerke. Er untersuchte den Stempel genauer und erkannte, dass es ein fettes Kreuz war, dessen dicker werdende Balken durch einen Kreis ragten.

»Das Keltenkreuz«, sagte Enzo, ohne aufzusehen. »Es wird von italienischen und spanischen Neonazis verwendet.«

Pallioti zog die Brauen hoch.

»Um ihre, ich zitiere, Reinheit zu beweisen.« Enzo legte die Steuerunterlagen, die er studiert hatte, auf dem Klapptisch ab. »Damit reagieren sie auf ihre österreichischen und deutschen Kollegen, die ihnen vorwerfen, ›verdorbenes‹ lateinisches Blut zu haben. Sie behaupten, sie seien in Wahrheit Kelten.«

Pallioti nickte, als wüsste er, wovon Enzo redete, während er sich wieder einmal wunderte, was alles an bizarren Informationen in seinem Kollegen steckte. Aber, dachte er, vielleicht mussten verdeckte Ermittler solche Sachen wissen. Sie sammelten Fakten, um sie gegen andere einzutauschen wie Kinder ihre Sammelbildchen.

»Und das Datum?«, fragte er. »Italiens Schande?«

»Der 28. April – der Jahrestag von Mussolinis Tod. 2005«, eröffnete Enzo ihm daraufhin, »ist in faschistischer Zeitrechnung das Jahr 83. Die Puristen rechnen vom Jahr 1922 an, der glorreichen Morgendämmerung, als der Duce die Macht übernahm.«

»Ich verstehe.«

»Genau.« Enzo sah sich den Brief an und verzog dann das Gesicht. »Ich habe mich getäuscht«, sagte er. »So, wie es aussieht, war es doch nicht nur dummes Gerede.«

»Nein.«

»Ich habe schon in Florenz angerufen. Wir fangen mit den bekannten rechten Gruppierungen an und arbeiten uns von dort aus zu den Extremisten vor. Und wir bestellen den Reporter noch einmal ein. Vielleicht können wir noch mehr Leute ausgraben, die über solche Sachen Bescheid wissen. Wir rütteln kräftig am Baum und schauen mal, was alles zu Boden purzelt.«

»Gut.«

Pallioti legte den Brief beiseite und räusperte sich. Das Flugzeug konnte zwar mit einem Klapptisch aufwarten, aber nicht mit Wodka, was im Moment wirklich bedauerlich war. Die Tatsache, dass sie möglicherweise endlich eine echte heiße Spur hatten, war eindeutig eine gute Nachricht. Aber ihm ging etwas anderes im Kopf herum. Seit er am Morgen Roberto Roblinos Kollektion von Partisanen-Souvenirs auf dem Esstisch hatte ausliegen sehen, plagte ihn sein Gewissen.

»Ich muss etwas gestehen«, sagte er. Er griff in die Innentasche, wo er inzwischen immer Caterinas kleines rotes Buch trug, und legte es neben Enzos Akte. »Das habe ich mir ausgeliehen«, murmelte Pallioti. »Aus Giovanni Trantementos Besitz. Aus dem Safe.«

Enzo nickte.

»Ja«, sagte er und zog ein Blatt aus der Akte. »Ich weiß.«

»Sie wissen das?« Pallioti sah ihn bestürzt an. Er hatte pflichtbewusst den Mut aufgebracht, sich seinem Kollegen zu offenbaren, und war schnöde abgeblitzt. Es schien Enzo nicht zu interessieren, dass er bereit war, Reue zu zeigen. Sich für seinen Übergriff zu entschuldigen. Ihm zu versichern, dass er nicht »seinen Rang ausgespielt hatte« und dass er natürlich vorgehabt hatte, es sofort zu sagen, falls die Lektüre etwas ergab, was auch nur entfernt mit ihren Ermittlungen zu tun haben könnte. »Sie wissen das? Woher wissen Sie das?« Er fragte sich, ob Enzo ihm vielleicht etwas vorspielte.

Enzo lächelte.

»Ich habe gesehen, wie Sie es genommen haben.«

Pallioti seufzte. Das war das Problem, wenn man mit einem Ex-Engel arbeitete. Denen entging kaum etwas. Sie waren professionelle Beobachter, fast so etwas wie staatlich sanktionierte Spanner. Pferdeschwanz hin oder her, manchmal vergaß er nur zu gern, dass Enzo ein paar höchst delikate und höchst erfolgreiche verdeckte Einsätze geleitet hatte. Und zwar auf Palliotis Anweisung hin. Womit er ihn nicht nur verletzt, sondern auch beleidigt hatte.

Enzo ließ das Blatt sinken. »Es ist ein Tagebuch, nicht wahr?«

»Ja«, sagte Pallioti. »Eines von Trantementos Erinnerungsstücken. Aus dem Krieg. Geschrieben von einer Frau, die er damals kannte.«

»Seiner Freundin?«

»Möglich. Ich bin mir nicht sicher. So weit bin ich noch nicht.«

»Ist es wichtig?«

Pallioti zog die Schultern hoch. »Ich glaube nicht.«