17. Kapitel
10. Juni 1944
Der Frühling kam ganz unerwartet. Aber erst, nachdem wir eine Dunkelheit durchgestanden hatten, die in ihren düstersten Momenten für mich kein Ende zu nehmen schien. Überlebt habe ich sie, nehme ich an, merkwürdigerweise dank JULIA.
Das Funken wurde für mich zur Obsession. Oder weniger das Funken selbst als das Sammeln dafür. Das Zählen. Es war – es ist – wie eine Krankheit, ein Zwang, wie der Zwang, sich immer nur nach links zu drehen oder jede Elster begrüßen zu müssen. Dreizehn Geländewagen in Richtung Süden unterwegs. Fünfzehn Panzer in Richtung Westen. Zwanzig Benzinkanister unter der Plane hinter der Kirche. Nachdem ich erst damit angefangen hatte, konnte ich nicht mehr aufhören.
Wenn ich auf meinem Fahrrad am Lungarno unterwegs war, zählte ich zwischen den silbernen Speichen die rauen Flecken im Asphalt, wo die Minen vergraben waren. Ich studierte Sandsäcke. Als es wärmer wurde, stieg ich auf jede Anhöhe und jeden Turm und suchte, während ich scheinbar die Aussicht genoss, die Gebäude nach Gewehrmündungen ab. Mit meinen neuen Augen sah ich eine auf den Tod gefasste Stadt. Maschinengewehrnester auf den Türmen. Im Dickicht der Boboligärten aufgestapelte Munitionskisten. Ich sah alles und zählte alles. Und nachts, kurz vor dem Einschlafen, trug ich alle Zahlen in meine imaginäre Karte ein. Ich wiederholte sie – fünfundzwanzig hiervon, sieben davon –, bis ich mir alles fest eingeprägt hatte. Bis ich JULIA häppchenweise damit füttern konnte.
Je kürzer die Nächte wurden, desto öfter heulten die Luftschutzsirenen. Rifredi wurde immer wieder bombardiert. Das Campo di Marte, die Porta al Prato und das Theater – unser so schönes Theater. Und dann, eines Morgens, änderten die Alliierten ihre Strategie. Statt Fabriken und Bahnhöfe zu bombardieren, beschlossen sie, einen Tag lang nur Villen zu beschießen. Ich nehme an, sie wollten nur jene treffen, die von den Deutschen beschlagnahmt worden waren. Bedauerlicherweise hatten sie wieder einmal ihre Brillen verlegt und schossen daneben.
Die Villa, in die man nach dem Bombenangriff im letzten Herbst die Kinder aus dem Kinderkrankenhaus evakuiert hatte, wurde schwer getroffen. Noch am selben Abend traf ich auf unserer Station die Oberschwester. Das Rote Kreuz sei informiert gewesen, erzählte sie. Der deutsche Konsul beteuerte, die Alliierten seien ebenfalls informiert gewesen, sie seien über alle Krankenhäuser informiert. Selbst jetzt werde ich so wütend, dass ich kaum noch schreiben kann, wenn ich nur daran denke. Ich muss Pause machen und meine Hände kneten, damit ich sie nicht zu Fäusten balle.
Überall lagen winzige Leichname. Zwischen Schutt und Feuer. Inmitten der Trümmer packte ein alter Mann meinen Arm. Er sagte mir, er suche nach seiner Enkeltochter. Dann brach er in Tränen aus und erzählte, dass seine Katze weggelaufen sei und er nur noch sterben wolle.
Dann, Ende März, attackierten die GAP in Rom eine Kolonne von deutschen Soldaten. Zweiunddreißig Männer wurden getötet, viele weitere verwundet. Am folgenden Abend gab das deutsche Oberkommando eine Erklärung ab. Von nun an würden für jeden getöteten Deutschen zehn Zivilisten exekutiert.
Mein Leben, Issas Leben, das Leben von Mama und Papa, von jedem Mann und jeder Frau auf der Straße – jetzt ist es offiziell. Jeder Deutsche ist zehnmal so viel wert wie wir.
Etwa einen Monat danach nahmen wir die Fahrten mit dem Krankenwagen wieder auf, und ich sah Issa erstmals seit dem Februar wieder. Unsere »Päckchen« waren auch diesmal alliierte Kriegsgefangene. Mir war klar, dass wir tun mussten, was wir taten, dass wir keine Wahl hatten, aber wenn ich ihnen ins Gesicht sah, während ich ihnen Verbände anlegte und sie in Opfer ihrer eigenen Bomben verwandelte, konnte ich mir nur schwer das Lachen verkneifen. Es war kein fröhliches Lachen, sondern ein wahnsinniges. Denn eigentlich ist das Wahnsinn – dass wir diese Männer retten, damit sie wiederkommen und uns im Namen der Freiheit von Neuem bombardieren können.
Offenbar hatte Il Corvo mir das angesehen. Oder etwas in meinem Blick entdeckt. Ich hatte ihn seit jener grauenhaften Nacht im Dezember nicht mehr gesehen, als er beobachtet hatte, wie ich Dieters Umarmung erwidert hatte. Er war so still wie eh und je, eher noch mehr in sich gekehrt, als hätte ihn der Winter in sein Inneres zurückgetrieben. Als ich ihm ins Gesicht sah, konnte ich hinter der Brille keine Augen ausmachen. Doch als er mir die Hand auf die Schulter legte, war das ebenso befremdlich wie tröstlich, und das Lachen in meiner Kehle erstarb.
Er berührte mich wieder, als wir an die Straßensperre kamen; es war ein sanfter, aufmunternder Druck an meinem Ellbogen. Ich war vorbereitet. Ich dachte, Dieter wäre da. Ich dachte, ich müsste ihm ins Gesicht sehen. Ich dachte, ich müsste lächeln und seinen Namen aussprechen. Aber dann blieb mir all das erspart. An der Straßensperre tat ein unbekannter Soldat Dienst. Er hörte sich ungeduldig meine Erklärungen über das Kloster in Fiesole, über die Verwundeten und die fehlenden Betten an, warf dann einen kurzen Blick auf die Papiere und winkte uns weiter. Gerade als wir unter der erhobenen Schranke durchfahren wollten, beugte er sich in mein Fenster. Ich glaubte schon, das Herz würde mir stehen bleiben. Aber er wollte uns nur ermahnen, ohne Licht zu fahren, um den alliierten Bombern kein Ziel zu bieten …
Es war derselbe Schuppen wie damals. Alles war genau wie damals, nur dass es Frühling war und dass statt des nackten Geästs und des toten Laubs die Wälder oberhalb des Klosters in frischem Grün erblüht waren. Es dämmerte gerade erst, darum brauchten wir keine Lampe, nicht einmal im Schuppen. Wie gewöhnlich erwarteten uns Issa und Carlo, und sobald ich ausstieg, sie bei den Schultern nahm und sie an mich drückte, um sie zu küssen, spürte ich es. Sie sah die Frage in meinem Blick und nickte. Dann drückte sie mich ebenfalls und flüsterte: »Aber verrate es niemandem.«
»Weiß Carlo Bescheid?«
Sie lächelte. »Natürlich. Aber das genügt einstweilen.«
Ich wusste, warum sie das wollte – niemand sollte wissen, dass sie schwanger war, weil sie Angst hatte, dass die anderen sie dann davon abhalten könnten, über die Berge zu wandern, dass man sie daran hindern könnte, das zu tun, was sie am allerliebsten tat.
Wir fuhren im Lauf des Mais noch mehrere Male, und ich sah Issa öfter. Aber weil sie inzwischen nur noch Männerkleidung trug, ahnte niemand, dass in ihrem Bauch Carlos Kind heranwuchs. Carlo und sie waren so gut wie ständig beisammen. Alleine bekam ich Issa so gut wie nie zu sehen. Bei jedem neuen Treffen erschien sie mir strahlender, gesünder, in sich ruhender, und wieder hatte ich das Gefühl, dass wir gemeinsam eine Sanduhr bildeten. Je mehr mein Leben zerrann, je bleicher und gemeiner ich vor Angst und innerer Leere wurde, desto mehr blühte Issa auf. Sie drehte sich, wie eine wunderschöne Blüte, stets der Sonne zu.
Merkwürdigerweise schien vor allem Il Corvo zu spüren, was ich empfand. Ich weiß nicht, wie viel er wirklich wusste, aber uns einte etwas Ähnliches – ein natürlicher Fluchtinstinkt. So, als läge tief in unserem Herzen ein versteckter, niemals austrocknender Tümpel aus Angst, in den wir immer wieder abzurutschen drohten.
Dieses Gefühl, uns gegenseitig ins Herz blicken zu können und dort vertrautes Gebiet vorzufinden, verleitete mich eines Abends im Mai dazu, nach seiner Schwester zu fragen. Er hatte nie wieder von seiner Schwester oder seiner Mutter gesprochen, aber ich fragte mich, ob sie vielleicht ebenfalls jünger war als er, schöner und begabter – ob wir vielleicht auch das gemeinsam hatten. Darum erkundigte ich mich nach ihr. Erst fragte ich, ob die beiden in Sicherheit waren, und er nickte. Das gab mir Auftrieb, darum fragte ich ihn, ob sie ihm teuer waren. Wie ein Schatz, meinte ich, oder ein Edelstein, auf den man aufpassen musste. Wahrscheinlich war das eine törichte Frage, und er antwortete so lange nicht darauf, dass ich glaubte, er würde gar nichts dazu sagen. Dann sagte er etwas sehr Merkwürdiges und wahrscheinlich Wahres.
Er sagte: »Das tut nichts zur Sache, denn die beiden sind meine Familie.«
Hinter dem Lenkrad des Krankenwagens drehte er den Kopf zur Seite und sah mich an, und sein Gesicht, dieses lange, fremdartige Gesicht mit der kleinen runden Brille, wirkte wie verändert. Zu meinem Erstaunen sah ich darin weder Angst noch Liebe, sondern Trauer. Was wohl manchmal dasselbe ist.
»Sie sind meine Familie«, sagte er noch einmal, als wäre damit alles beantwortet.
Später bereute ich, dass ich ihn nicht gefragt hatte, ob er das vielleicht so gemeint hatte: dass in Zeiten wie diesen die Blutsbande mehr zählen als die Liebe, mehr als die hehre Absicht, ein Opfer zu bringen, mehr als die Freiheit der Entscheidung. Aber dazu bekam ich keine Gelegenheit mehr, denn dies waren die letzten Worte, die Il Corvo und ich wechselten.
Ende Mai kehrte Issa in die Stadt zurück und brachte die Neuigkeit mit, dass es an der Nordseite des Gebirges schwere Kämpfe gegeben hatte. Die Partisanengruppe, an die sie und Carlo die »Päckchen« ausgehändigt hatten und die sich Stella Rossa nennt, hatte gehört, dass es ein rastrellamento geben sollte – dass die Deutschen und die Faschisten Vorbereitungen trafen, um zum Angriff überzugehen und sie auszulöschen. Diesmal jedoch hatten die Partisanen beschlossen, nicht einfach unterzutauchen, sondern selbst anzugreifen. Die Nazis und Faschisten verloren zweihundertvierzig Mann und mussten sich schließlich zurückziehen. Die Stella Rossa verlor genau einen Kämpfer.
Die Nachricht wirkte elektrisierend auf uns – vor allem, da wir am nächsten Tag hörten, dass die Alliierten nach beinahe viermonatigem Stillstand praktisch über Nacht bei Anzio den Durchbruch geschafft hatten und die Deutschen jetzt nach Norden und in Richtung Rom trieben. Selbst ich war aufgeregt. Plötzlich sah es so aus, als würde rund um uns herum alles zersplittern, als würde ein riesiger Eisblock gesprengt. Zum ersten Mal erschien es wirklich möglich, dass die Alliierten in wenigen Wochen Florenz erreichen könnten. Niemand verschwendete noch einen Gedanken an Krankenwagenfahrten oder an Särge, in denen sich entflohene Kriegsgefangene versteckten – wie sie Issa transportiert hatte –, oder auch nur daran, deutsche Uniformen zu verwenden, um die »Überstellung« von Gefangenen zu verlangen. Inzwischen dachten alle ausschließlich an JULIA. Jede noch so kleine Information, jede Nachricht über einen Schützenposten oder eine verlegte Kolonne konnte entscheidend sein.
In den folgenden Tagen schwärmten die Deutschen aus wie wild gewordene Bienen. Die Banda Carita schien allgegenwärtig, und die Bombardierungen wurden immer schlimmer. Einen sicheren Ort zum Funken zu finden war von Beginn an schwierig gewesen, aber mittlerweile war es ein Ding der Unmöglichkeit. Dann, am 5. Juni, wurde Rom befreit. Die erste europäische Hauptstadt, die an die Alliierten gefallen war. Am nächsten Morgen hörten wir im Schweizer Radio von der Invasion in Frankreich. An jenem Abend bat uns ROMEO, alles und jedes zu senden, was wir wussten.
Mama, Papa, Issa, Carlo, Enrico und ich trafen uns zu Hause. Die Männer und Issa kamen einzeln nach Einbruch der Dunkelheit und schlüpften wie Schatten auf unsere Terrasse. Es war eine warme Nacht, trotzdem wagten wir nicht, die Fenster oder die Fensterläden zu öffnen. Wir saßen in der Küche, bei geöffneten Speisekammer- und Kellertüren, falls jemand vorbeikam und wir uns verstecken mussten, verbarrikadiert wie Tiere in ihrem Bau.
Alle wollten nur so kurz wie möglich bleiben, darum blieb keine Zeit für Plaudereien. Ich hatte keine Gelegenheit, mit Issa zu tuscheln und sie zu fragen, wie es ihr ging – allerdings sah ich Mamas Blick geschickt wie Finger über Issas Leib wandern und war überzeugt, dass sie etwas ahnte. Als sie mich ansah, spürte ich die Frage in ihrem Blick und musste das Gesicht abwenden. Papas gedämpfte Stimme ersparte es mir, zu Issas Judas zu werden.
Er wies darauf hin, dass es trotz meiner Bemühungen immer schwieriger wird, einen Platz für JULIA zu finden. Wir können von jeder Wohnung aus nur einmal senden, aber bei jedem Umzug gehen wir ein Risiko ein. Papa hielt inne und sah sich um. Dann schlug er vor, dass wir alles sammeln sollten, was wir wissen – über die Stadt, über die Befestigungen, über die Eisenbahnstrecken und Minen und Elektrizitätswerke –, um dann ein letztes Mal auf Sendung zu gehen. Eine letzte Übertragung zu wagen, bevor die Alliierten eintrafen. Ein letzter Liebesbrief von JULIA an ihren ROMEO.
Als er zu Ende gesprochen hatte, wurde es still. Mama und Papa saßen an entgegengesetzten Enden des Tischs. Ich hatte neben Enrico Platz genommen, Carlo und Issa uns gegenüber. Wir hatten kein Licht gemacht und waren so nicht mehr als vertraute Schatten, Umrisse im Halbdunkel der Sommernacht, die sich durch die Schlitze in den Fensterläden ins Haus stahl. Ich schaute auf meine Hände, die gefaltet auf dem vertrauten Holztisch lagen, an dem ich früher täglich nach der Schule bei Emmelina gesessen hatte und später dann mit Mama, wenn ich tatsächlich einmal nach Hause gekommen war. An dem ich dem armen Kind der Banducci Kekse zu essen gegeben hatte. An dem wir kaum sechs Monate zuvor mit den ersten Kriegsgefangenen gesessen und ihnen einen Plan unterbreitet hatten, wie wir ihnen mit etwas Verbandsmaterial und einem Krankenwagen möglicherweise das Leben retten könnten.
»Wir sollten abstimmen«, sagte Papa.
Ich wusste, dass Issa mich beobachtete. Ich spürte ihren Blick im Dunkeln. Papa hob die Hand. Dann hob Enrico seine. Dann Carlo, dann Mama und schließlich ich.
Wie brave Kinder in der Schule saßen wir im Dunkeln. Keiner sagte ein Wort. Wir warteten ewig. Aber Issas Hand blieb unten.
Schließlich stand Papa auf und sagte: »Nun denn, wir haben eine Mehrheit. Damit ist es beschlossen.«
Und das ist es. Das Datum steht. In zwei Tagen, am Montag, dem 12. Juni, wird ROMEO auf JULIA warten. Ich sollte einen Ort zum Senden finden, und ich habe einen gefunden.
Die alte Dame, der das Haus gehörte, starb vor einer Woche. Seit vier Tagen habe ich es beobachtet. Es steht leer, gar keine Frage. Ich war persönlich dort – es befindet sich abseits der Via dei Renai –, morgens, abends und am Nachmittag. Ich habe mich ins Haus geschlichen. Ich bin die Räume abgegangen, habe in alle Schränke geschaut und bin die Treppe hinaufgestiegen.
Es ist ein altes Haus, in dem die Dienstbotenzimmer unten und die Wohnräume der Familie im ersten Stock liegen: Esszimmer, Wohnzimmer und Salons. Im zweiten Stock sind die Schlafzimmer untergebracht, und darüber gibt es einen Speicher. Ich hatte mir alle möglichen Lügen zurechtgelegt, falls mich jemand zur Rede stellen sollte. »Sie hat mir erzählt, sie hätte ihrer Familie Briefe hinterlassen.«, »Sie hat mir die Porzellankatze auf der Kommode vermacht.« Aber hier ist alles leer. Auch auf der Straße habe ich so gut wie niemanden gesehen. Die Menschen packen und fliehen. Nach Norden, um nicht unter Beschuss zu geraten, wenn die Alliierten vorrücken.
Ich habe niemandem gesagt, wo wir uns treffen werden, nicht einmal Mama oder Papa. Erst am Vorabend werde ich Issa die Adresse verraten. Sie wird wiederum alle informieren, die Bescheid wissen müssen. Vor allem wegen des Babys, glaube ich, ist sie argwöhnisch wie ein Fuchs. Mir tuschelt sie zu, dass bei jedem Treffen Gefahr droht. Uns allen erklärt sie, dass es zu riskant ist, sich an einem Ort zu versammeln. Ich weiß, sie denkt dabei an den letzten Februar. Aber ich habe ihr geantwortet, dass sie selbst erklärt hat, damals seien zu viele Gruppen, zu viele Menschen, die sich untereinander kaum kannten, in die Sache verstrickt gewesen. Diesmal ist es anders. Ich habe versucht, ihr Mut zu machen. Wir werden zu neunt sein, ja – aber fünf davon sind wir, Carlo ist der Sechste, und die anderen drei sind GAP-Mitkämpfer, mit denen sie von Anfang an zusammengearbeitet hat. Sie vertrauen einander. Und sie gehen ein ebenso großes Risiko ein wie wir.
Ich sage das Issa, und auch wenn sie das kaum beruhigt, so hat sie mir doch zugestimmt, dass wir ohnehin keine Wahl haben. Es ist zu gefährlich, mehrmals zu senden. Unmöglich. Dies wird das letzte Mal sein. Danach sollen Mama und Papa die Stadt verlassen, so möchte es Enrico. Ich versuche derweil, Issa zu überzeugen, dass sie mit ihnen flieht. Ich werde im Krankenhaus bleiben, aber sie darf nicht mehr nur an sich denken.
Ich war in letzter Zeit wieder öfter zu Hause. Plötzlich möchte ich wieder in meinem eigenen Bett schlafen. Ich wandere nachts durch die Zimmer. Ich präge mir die Schatten und die Formen der Bäume im Garten ein. Gestern kam ich kurz vor Sonnenuntergang heim und sah Mama und Papa im Garten unter den Kirschbäumen graben. Als ich sie fragte, was sie da täten, antworteten sie, dass sie das Haus vorbereiteten, falls alliierte Soldaten es besetzen sollten. Glas- und Silberwaren stehen verpackt auf dem Speicher. Papa hat seine Lieblingsbücher im Keller versteckt. Aber Mama möchte ihren Schmuck nicht aufs Spiel setzen, falls das Haus bombardiert wird, darum haben sie beschlossen, alles in Öltücher zu packen und es zu vergraben. Als ich sie ansah, stellte ich fest, dass ihre Hände nackt waren. Keine Eheringe. Kein Aquamarin. Mama erzählte, sie hätten einen kostbaren Teelöffel Öl und eine Stunde gebraucht, um ihn von ihrem Finger zu lösen. Um Papas Handgelenk läuft ein heller Streifen. Die Uhr, die ihm sein Vater zum einundzwanzigsten Geburtstag schenkte, ist verschwunden. Mama sah zu mir auf.
»Was ist mit dir?«, fragte sie.
Ich sah meine eigene Hand an. Trotz allem trage ich noch den Verlobungsring, den Lodo mir geschenkt hat.
»Der ist hier sicherer«, sagte Mama.
Ich nickte. Während ich im warmen, honigweichen Licht stand, zog ich ihn ab und reichte ihn ihr. Sie wickelte ihn in einen Umschlag aus Ölzeug, rammte den Spaten in die dunkle Erde und begann zu graben.