5. Kapitel

Florenz, 10. November 1943

Ich kann nicht beschreiben, wie ich mich fühlte, als ich wieder in den Krankenwagen stieg und von Fiesole nach Florenz hinabfuhr. Als wir uns eine Stunde zuvor durch die Straßensperre geschmuggelt und zugeschaut hatten, wie die Schranke angehoben wurde, damit wir mit – nicht drei »armen Burschen« – sondern zwei amerikanischen und einem britischen Kriegsgefangenen hinten im Krankenwagen den Hügel hinauffahren konnten, hatte mich etwas ergriffen, das weit über bloße Erleichterung hinausging. Es war eine Art tiefer Dankbarkeit dafür, am Leben zu sein. Doch dann hatte ich Issa weggehen sehen, in die Berge, strahlend vor Freude, weil sie das tun konnte, was sie am allerliebsten tat, und auch weil sie in Carlo verliebt war – und im selben Moment hatte mir die Trauer die Luft abgeschnürt. Ganz und gar. Ich stand da, sah sie kleiner werden und fühlte mich, als wären wir beide zu einer Art Sanduhr verbunden, die das Leben auf den Kopf gestellt hatte, sodass mein ganzes Leben zu ihr hinabrieselte.

Deshalb empfand ich es, auch wenn das verrückt klingt, fast wie eine Erlösung, als Il Corvo mir seinen Namen verriet. Als eine Art Bestätigung. Ein leises Flüstern – als hörte man ein zweites Herz in der Dunkelheit schlagen.

Fünf Tage wartete ich darauf, dass Issa heimkommen würde, und bis sie schließlich kam, schien sich erneut alles verändert zu haben. Nein, eigentlich nicht verändert – es war beklemmender geworden. Als hätten wir einen Druckverband angelegt bekommen, der allmählich die Blutzufuhr abschneidet.

Die faschistische Regierung hat verkündet, dass Sondertribunale eingerichtet werden sollen, um über jene Parteimitglieder zu richten, die »den Glauben verraten« haben, und auch alle anderen, die ihrer Meinung nach das Regime »in Sprache oder Tat« hintergangen haben. Das könnte, natürlich, jeden treffen. Sollte ein ehemaliges Parteimitglied schuldig gesprochen werden, droht ihm die Todesstrafe. Uns anderen drohen fünf bis dreißig Jahre Gefängnis. Papa fand tatsächlich etwas Gutes daran und behauptete, das zeige, wie verängstigt die Faschisten seien. Während er darüber dozierte, sahen Mama und ich uns über den Tisch hinweg an. Ich brauchte sie nicht zu fragen, ich wusste auch so Bescheid. Wir dachten beide das Gleiche – dass verängstigte Tiere sich am verbissensten wehren. Vor allem, wenn sie glauben, dass sie nichts mehr zu verlieren haben.

Seit jenem Abend in der Küche kommt das öfter vor. Meine Mutter, die mir bis dahin nie besonders nahestand, die zeit meines Lebens ihre ganze Liebe für Enrico zu reservieren schien, kommt mir plötzlich vor wie ein Teil meiner selbst. Manchmal meine ich in einen Spiegel zu blicken. Aus ihren Augen, unserer einzigen äußerlichen Gemeinsamkeit, blicken mich meine an. Zum ersten Mal verbinden uns hauchdünne Bande, feine, seidige Spinnweben der Angst und des Mitgefühls. Dieser Krieg hat meine Mutter und mich zu Spinnen gemacht, die gemeinsam an einem Netz weben. Oder, nicht ganz so optimistisch, zu Fliegen, die sich darin verfangen haben.

Sie hat angefangen zu kochen. Ihre Opfergaben sind oft angebrannt oder noch blutig oder klumpig oder schlicht roh. Aber das ist mir egal. Gestern Abend kam ich sehr spät nach Hause. Die Straßen lagen im Dunkeln, und mir war kalt. Dank meiner Armbinde kann ich überall passieren, trotzdem habe ich inzwischen ständig das Gefühl, Schritte in meinem Rücken zu hören. Unter dem Surren meiner Fahrradreifen bilde ich mir Schreie ein. Mehrmals habe ich Bremsen quietschen und gleich darauf hastende Schritte gehört. Einmal sogar Schüsse. Mama hatte Karamellcreme gemacht. Ich will gar nicht daran denken, wie viel die Eier gekostet haben müssen. Papa war schon zu Bett gegangen, und das ganze Haus war dunkel. Sie saß mit mir am Küchentisch und verfolgte mit Blicken jeden Löffel, den ich zum Munde führte, und zwar so eindringlich, wie sie es nie getan hatte, als ich noch klein gewesen war. In der Creme war kaum Zucker, und die Milch hatte einen Stich und flockte aus. Trotzdem kratzte ich die Schale aus. Es war das Leckerste, was ich je gegessen habe.

Lebensmittel werden inzwischen immer teurer. Dank Großvaters Vermögen und des Schwarzmarkts kommen wir dennoch über die Runden. Solange man weiß, wo man suchen muss, findet man immer noch alles Notwendige und sogar einige Annehmlichkeiten. Aber es wird immer schwieriger, weil die Banken inzwischen keine Schecks mehr einlösen wollen und die Abhebungen beschränken. Und manche Dinge sind mit oder ohne Geld kaum noch zu bekommen. Benzin gibt es so gut wie keines mehr. Die Deutschen beschlagnahmen alles. Gestern hörte ich, dass ein Lastwagen die Via Tuornabuoni hinabgefahren sei und man alle Läden geplündert, sämtliche Wollwaren, Handschuhe, Schuhe und Stiefel aus dem Regal geräumt habe. Unsere Ausgrabungsarbeiten im Krankenhauskeller erscheinen mir jetzt nicht mehr so albern wie noch vor zwei kurzen Monaten. Ich habe es aufgegeben, mir einen neuen Mantel kaufen zu wollen. Mama hatte noch einen alten übrig, den ich jetzt benutze. Wenn ich den Kragen hochschlage, rieche ich ihren Puder und ihre Seife, fast als würde sie ihre Hand an meine Wange legen.

Ich habe begonnen, auf der Straße nach Issa Ausschau zu halten. Aus irgendeinem Grund wusste ich, dass sie nicht zu uns nach Hause kommen würde, dass sie nicht einfach vor unserer Tür stehen und eintreten würde. Tief im Herzen weiß ich, dass diese Wanderungen durch die Berge, die Entscheidungen, die sie inzwischen getroffen hat, sie für alle Zeiten verändern werden. Ich glaube, hauptsächlich wollte ich sie nicht gehen lassen, weil ich wusste, dass ein Teil von ihr – die kleine Issa, die ich immer gekannt hatte – nicht zurückkehren würde. Natürlich liegt das allein an Carlo. Das Herz, das Isabella so fest verschlossen hatte, ist plötzlich weit aufgeblüht. Jeder, der sie kennt, sieht ihr das an. Aber das ist nicht alles. Mama, Papa und ich – wir werden kämpfen. Unser Bestes tun. Uns so wenig fürchten wie möglich, weil wir überleben wollen. Isabella jedoch führt einen ganz anderen Kampf. Sie liebt diesen Krieg genauso wenig, wie wir es tun, aber durch ihn hat sie ihren Platz in der Welt gefunden.

Ich fing an, nach ihr Ausschau zu halten, wenn ich zur Arbeit radelte, ich suchte die Gesichter der Passanten ab und wartete darauf, ihre Hand auf meiner Schulter zu spüren, wenn ich auf der Straße stand. Und genau so habe ich sie gefunden.

Es war früh am Morgen des fünften Tages. Das Licht lag noch perlend auf dem Fluss, und ich stand mit meinem Fahrrad auf der Brücke und wartete darauf, die Uferstraße überqueren zu können. Dann war die Straße frei, ich blickte auf und sah sie auf dem Gehweg gegenüber stehen. Es war kalt geworden. In der Nacht hatte der erste Schnee die Stadt bestäubt. Sie trug ein Kleid und einen Mantel, den ich noch nie gesehen hatte, und sie hatte ein Tuch um den Hals gelegt. Sie sah mich an und lächelte. In ihren Augen sah ich die Berge, strahlend und glitzernd. Ich ging über die Straße, und sie ging neben mir her, die Hände tief in den Taschen vergraben, als wäre gar nichts passiert.

»Seit wann bist du wieder hier?«

Ich brauchte ein paar Sekunden, bevor ich das fragen konnte. Ich hatte damit gerechnet, dass sie sich verändert hatte, aber ich wusste noch nicht recht, inwiefern. Ich sah sie immer wieder an und versuchte zu begreifen, wie es möglich war, dass sie sich gleichzeitig so völlig verändert hatte und trotzdem die Alte geblieben war. Während sie voller Tatendrang ausschritt, strahlte sie eine innere Ruhe und Aufgewecktheit aus, die völlig neu waren. Ich erkannte, dass ich Isabella immer für flatterhaft gehalten hatte – hübscher, jünger, irgendwie inkonsequenter als ich. Fast erschrocken begriff ich, dass ich sie nie wieder so sehen würde.

»Seit einem Tag.«

»Ist alles gut gegangen?«

»Alle Päckchen wurden abgeliefert.« Sie lächelte. »Deine Zigaretten waren sehr willkommen.«

Ich hatte das Päckchen in ihren Rucksack gesteckt. Als sie davon anfing, musste ich an Dieter denken und sah mich kurz um, als könnte ich ihn irgendwo hinter uns entdecken.

Issa nahm mich unauffällig am Arm.

»Nicht«, sagte sie. »Du darfst dich nie umsehen oder plötzlich schneller gehen. Wenn du wissen willst, wer hinter dir geht, dann bleib stehen und sieh in ein Schaufenster.«

Sie ließ meinen Arm los und sah mich kurz an. Ihre blauen Augen waren so dunkel, dass sie fast schwarz wirkten.

»Sie tragen bestimmt keine Uniform«, murmelte sie. »Vergiss das nie. Es sind Italiener. Sie sehen nicht anders aus als wir.«

Ich nickte wie betäubt. Natürlich hatte ich schon von der OVRA gehört, der faschistischen Geheimpolizei. So wie jeder. Aber bis dahin war ich nicht auf den Gedanken gekommen, dass sie sich für mich interessieren könnte.

»Und wie …«

»Gesichter«, sagte Issa. »Du musst auf die Gesichter achten. Auf der Straße. Im Café. Im Krankenhaus. Egal wo. Menschen, die dir allzu oft begegnen.«

»Kommst du deshalb nicht nach Hause? Weil …« Der Drang, mich umzusehen, war beinahe unerträglich. Issa sah mir das an der Nasenspitze an. Sie ergriff erneut meinen Arm.

»Richte Mama und Papa aus, dass es mir gut geht.«

Ich nickte, aber ich konnte mich nicht länger beherrschen.

»Wo wohnst du jetzt?« Die Frage platzte aus mir heraus. »Wie kann ich dich wiedersehen?«

»Genau so. Oder ich komme ins Krankenhaus.«

Inzwischen spazierten wir über die Piazza Signoria. Die Menschen eilten hin und her, hasteten zur Arbeit. Die Hakenkreuze, die hinter dem Brunnen im Wind klatschten, wirkten wie Spinnen, die dem Himmel entgegenkletterten.

Issa beobachtete mich. »Ich bin an der Universität«, sagte sie. »Oder in den Bergen. Mit Carlo.«

»Weiß Enrico das mit dir und Carlo?« Wieder entschlüpfte mir die Frage, bevor ich an mich halten konnte.

Sie blieb stehen, lachte.

»Ja, Cati«, sagte sie. »Enrico weiß Bescheid.«

Sie hätte ebenso gut sagen können: »Die ganze Welt weiß Bescheid.«

»Ist er …?«, setzte ich an. »Ich meine, geht es ihm gut? Rico?«

Issa sah mich an. Dann lachte sie wieder und tätschelte meine Hand. »Ja«, sagte sie. »Es geht ihm gut. Er lässt dich küssen.« Dann ging sie weiter.

Ich blieb kurz stehen, den Fahrradlenker in der Hand, und sah die Sonne in dem goldenen Haarschopf auf ihrem Rücken glänzen. In mir brodelte eine Unruhe, die ich weder richtig einordnen noch erklären konnte. Zwei Soldaten drehten sich nach Issa um und verfolgten sie mit Blicken. Sofort wurde ich noch unruhiger. Ich schob mein Fahrrad an und hatte sie eingeholt, bevor sie in die Schluchten der schmalen Gassen hinter dem Bargello einbiegen konnte.

Hier gab es in den Läden immer noch etwas zu kaufen. Offenkundig interessierten sich die Deutschen nicht für Tiegel mit gemahlenen Pigmenten, für Borstenpinsel oder Malmesser. Ich blieb vor einem Schaufenster stehen, studierte die Auslage und dachte gerade an meine Wasserfarben, die ich seit jenem Nachmittag auf der Terrasse nicht mehr angerührt hatte, als Issa sagte: »Cati, wir müssen das noch einmal machen.«

Ich sah auf. Wie sie versprochen hatte, sah ich ihr Spiegelbild hinter mir. Unsere Blicke trafen sich im Glas.

»Wie viele?«

Ich konnte nur noch flüstern.

Sie hob die ausgestreckten Finger einer Hand. Vier.

»Wann?«

Ihre Miene blieb völlig regungslos. Fast maskenhaft und damit vertraut und gleichzeitig vollkommen fremd. Sie hauchte nur zwei Wörter.

»Heute Abend.«

119293.jpg

Wieder wechselten Il Corvo und ich kein Wort, während wir aus der Stadt hinausfuhren. Dieses Mal waren wir später unterwegs. Dank der roten Kreuze an den Türen kann der Krankenwagen auch nach Einbruch der Dunkelheit unbehelligt durch die Stadt fahren. Die Straßen waren so gut wie verlassen. Es hatte nochmals geschneit. Die Gehsteige sahen aus wie mit Puderzucker bestäubt, und hinter den Fensterläden konnte man schmale Lichtschlitze erkennen. Auf den Straßen waren kaum Automobile und gar keine Fußgänger zu sehen. Florenz war dazu übergegangen, sich nach Sonnenuntergang hinter verschlossenen Türen zu verschanzen wie ein von Kobolden und Wölfen heimgesuchtes mittelalterliches Dorf. Die ganze Stadt wandte furchtsam das Gesicht ab, während der Teufel durch die Straßen ritt.

Wir passierten eine Schwarzhemden-Patrouille. Wir wurden nicht langsamer, aber ich spürte in der Dunkelheit, wie sich Il Corvo anspannte. Keiner von uns sprach es aus, aber ich glaube, wir hatten beide mehr Angst davor, von ihnen aufgehalten zu werden, als von den Deutschen.

Diesmal sahen wir ein Automobil in der Gegenrichtung durch die Schranke fahren, als wir an die Straßensperre kamen. Der diensthabende Soldat beugte sich kurz ins Fenster, richtete sich dann wieder auf und salutierte elegant und scharf. Als der Wagen groß und schwarz an uns vorbei durch die Nacht rauschte, konnten wir auf dem Rücksitz die Schirmmützen zweier Offiziere ausmachen. Inzwischen sind die meisten großen Häuser hier oben auf dem Hügel beschlagnahmt worden. Die Villen, die vor Kurzem noch von amerikanischen Erbinnen und englischen Lords bevölkert wurden, beherbergen jetzt die deutsche Kommandantur. Vor gar nicht so langer Zeit wohnten dort Franzosen. Und davor die Österreicher. Wir sind schon länger besetzt, als uns bewusst ist. So wie es aussieht, kommen alle nach Florenz, um sich hier als Adlige zu gebärden. Der Soldat drehte sich zu uns um und winkte uns heran. Erst als er in den Strahl der Scheinwerfer trat, erkannte ich, dass es Dieter war. Ich stieg aus und überreichte ihm die Papiere, fast als wäre er ein alter Freund.

Er freute sich, mich zu sehen. Er hatte sich sogar meinen Namen gemerkt und ließ mich zwar die Heckklappe öffnen, leuchtete aber nur kurz und flüchtig mit der Taschenlampe hinein. Vier Männer auf Tragen lagen darin.

»Wir bringen noch mehr von ihnen nach Fiesole«, erklärte ich wieder in meinem radebrechenden Deutsch. »So viele wir können. Wir brauchen die Betten in der Stadt für die dringenden Fälle.«

Dieter nickte. Dann entschuldigte er sich, dass er keine Zigaretten für uns hätte.

Im Schuppen warteten Issa und Carlo schon auf uns. Diesmal waren sie nur zu zweit. Von Massimo und seinem winzigen Begleiter war nichts zu sehen, und wir holten die Männer schneller und leiser als beim ersten Mal aus dem Krankenwagen, um sie umzuziehen. Die Arbeit war schon fast zur Routine geworden. Diesmal stammten nicht alle Anziehsachen von Enrico, auch wenn ich einen Überzieher und ein Paar Handschuhe wiedererkannte. Issa hatte ihr Haar unter eine Kappe gesteckt und trug eine Männerwollhose und dazu einen schweren Überzieher mit Jacke. Wieder hängte Carlo ihr den Rucksack über, dann küsste sie mich mit nachtkalten Lippen auf die Wange und führte die Männer zu einer Seitentür hinaus. Sie folgten ihr im Gänsemarsch wie die Küken der Glucke. Carlo bildete die Nachhut. Kurz bevor er durch die Tür huschte, drehte er sich zu mir um und strich mir über die Wange.

»Hab keine Angst, Caterina«, flüsterte er. Er zwinkerte, und ein Lächeln zog über sein Gesicht. »Gott weist uns den Weg.«

Früher hätte ich Carlo vielleicht erklärt, dass ich nicht an Gott glaubte. Trotzdem war ich dankbar für die netten Worte.

Draußen sah ich sie wie Phantome dahinziehen, sechs schwarze Gestalten vor vereinzelten weißen Schneeflecken. Lange, nachdem sie verschwunden waren, meinte ich noch das Stapfen ihrer Stiefel im toten Laub zu hören. Dann verloren sich die Schritte in einer raschelnden Brise, und gleich darauf strich nur noch der Wind über die Berge.

Il Corvo ließ mich in einer Seitenstraße nahe der Porta San Frediano aussteigen. Ich weiß nicht, wo sie den Krankenwagen verstecken, und ich fragte auch nicht danach. Ich wollte ihm irgendetwas zum Abschied sagen, was erkennen ließ, dass wir befreundet waren oder dies zumindest gemeinsam durchstehen würden, aber letzten Endes wollte mir nichts einfallen, darum nickte ich ihm nur stumm zu. Obwohl es dunkel war, sah ich ihn lächeln. Das Lächeln schien nicht recht zu seinem Gesicht zu passen, so, als wäre es ihm fremd.

Ich hatte mein Fahrrad beim Krankenhaus stehen lassen, darum ging ich zu Fuß nach Hause. Schnee blies von den Stufen der Santa Maria del Carmine und tanzte über die Piazza, als wäre er das Einzige, was in der Stadt noch lebte. Sogar die Glocken klangen ausdruckslos, als würden sie lediglich Geister zum Gebet rufen. Heute Abend hörte ich keine Schritte. Auch keine Schüsse oder quietschenden Bremsen. Ich musste an Boccaccio und die Pest denken. Ich hätte die letzte Überlebende sein können, denn nirgendwo regte sich etwas außer mir und dem Wind und dem Schnee.

Ich sah kein Licht hinter den Fensterläden brennen, als ich den Schlüssel ins Schloss schob, doch Mama wartete noch auf mich. Sie stand vom Sofa auf, auf dem sie im Dunkeln gesessen hatte. Diesmal gab es keine Karamellcreme, nur Suppe und altes Brot. Wieder saß sie mir am Küchentisch gegenüber und sprach kein Wort. Schweigend schaute sie mir beim Essen zu.

Ich schreibe das in meinem Zimmer. Es ist kalt, und ich bin müde, aber ich finde keinen Schlaf. Ich habe ein kurzes Gespräch mit Lodo geführt. Es ist albern, aber ich öffnete meinen Schrank, strich über mein Hochzeitskleid und fragte ihn, ob er es schön fand und was er von alldem hielt. Ich schloss die Augen und sah ihn lächeln. Dann öffnete ich das Fenster und klappte die Läden zurück. Die Nacht ist mondlos, und ich brauchte ein paar Sekunden, um etwas in der Dunkelheit ausmachen zu können, aber schließlich sah ich sie am Horizont stehen – die Berge, durch die sich Issa wie ein Phantom bewegt. Ich blieb so lange am Fenster stehen, wie ich nur konnte, und starrte hinaus – als hoffte ich, sie irgendwo unter den Nadelstichen der Sterne zu entdecken.