23. Kapitel

10. Oktober 1944

Ich ging los. Ganz langsam. Mir schlotterten die Knie. Ich spürte Issas Hand, spürte ihre Finger zwischen meinen, während wir uns durch die Menge schoben. Auf der Straße wurde geschrien. Selbst wenn ich über die Schultern und Köpfe hätte schauen können, hätte ich wohl nicht den Mut aufgebracht, mich umzudrehen. Ich blickte stur geradeaus. Ich hörte Getrappel. Die Parade des Elends, an der wir bis eben teilgenommen hatten, hatte wieder Formation angenommen und setzte ihren Marsch fort.

»Hier entlang.«

Ich hatte es bis dahin gar nicht gemerkt, aber wir wurden geführt, geleitet von einem großen blonden Mädchen in einem modischen Kostüm. Sie schob sich lächelnd an einer Gruppe von Männern vorbei, drehte sich dann um und fing meinen Blick auf.

»Hier hinein.«

Ich sah, dass sie die Tür zu einem Restaurant aufhielt. Goldene Buchstaben schimmerten auf dem Glas. Wir traten ein, und die Welt blieb hinter uns zurück. Vor uns warteten dunkle Wandvertäfelungen und weiße Tischdecken. Ich kam aus dem Tritt. Diesmal schob Issa mich behutsam vorwärts, indem sie sanft die Hand in meinen Rücken legte. Der Essensgeruch ließ mich straucheln. Mir wurde schwindlig. Bestimmt, dachte ich, würden uns die anderen Gäste auf den ersten Blick durchschauen. Unsere verfilzten Haare waren unter Hüten und unsere schmutzigen Kleider unter weiten Mänteln verborgen, aber mit Sicherheit würden sie uns am Gesicht, an den Augen ansehen, woher wir kamen. Ob sie es taten oder nicht, weiß ich nicht, denn niemand sah auf. Alle Gäste sahen ausschließlich einander an oder auf ihren Teller. Zigarettenrauch hing im Raum. Man hörte Gläser klirren und Silberbesteck über Porzellan schaben. Plötzlich befürchtete ich, jeden Moment in Tränen auszubrechen.

Das Mädchen führte uns an einen runden Tisch im hintersten Eck. Sie setzte sich auf den Stuhl mit Blick zur Tür und bedeutete uns, die beiden Stühle mit dem Rücken zum Eingang zu nehmen, aber kaum hatte sie sich gesetzt, veränderte sich ihre Miene. Das leere Lächeln, das sie bis dahin zur Schau getragen hatte, erlosch.

»Nicht.« Issa drückte unter dem Tisch meine Hand, als ich mich unwillkürlich umdrehen wollte. Sie drückte mit aller Kraft. »Tu so, als würdest du mit uns reden«, befahl sie. Und dann hörte ich das flache, harte Italienisch, wie es mit deutschem Akzent gesprochen wurde. Die falschen Betonungen, das leichte Schnauben am Wortende, als wären nicht nur wir, sondern auch unsere Sprache ein Witz.

Drei Soldaten waren hereingekommen. Ich sah sie aus dem Augenwinkel. Sie trieben in mein Blickfeld, wischten sich Regentropfen von den Jackenärmeln, lachten, holten Zigaretten aus ihren Taschen und boten sie sich gegenseitig an.

Das Mädchen beugte sich mit einem Lächeln voll falscher Begeisterung vor, als wären wir alte Freundinnen, mit denen sie sich zum Plaudern getroffen hatte.

»Es gibt eine Toilette«, sagte sie. »Neben der Bar links. Unterhaltet euch noch eine Minute mit mir, dann steht ihr langsam auf und geht dorthin. Schließt ab. Ich komme nach.«

Ich sah Issa an. Ich sah die Müdigkeit in ihrem Gesicht, eine Art zerbrechliche Erschöpfung, als wäre ihr plötzlich alles zu viel und sie könnte jeden Moment zerspringen. Ich streckte langsam die Hand aus, nahm zwei Brötchen aus dem silbernen Korb und steckte sie ein. Dann stand ich auf.

»Komm«, sagte ich mit einem aufgesetzten Lächeln und reichte ihr die Hand. »Komm mit und leiste mir Gesellschaft.«

Ich spürte, dass einer der Soldaten uns beobachtete, ich spürte seinen Blick wie eine kalte Hand im Nacken. Ich wusste, wenn ich mich umdrehte, würden sich unsere Blicke treffen. Ich nahm Issa am Arm und senkte den Kopf zu ihrem, als flüsterten wir uns Mädchengeheimnisse zu. Wir schwebten an der Bar vorbei und verschwanden durch die Tür im dunklen Flur.

Nachdem wir die Tür verriegelt hatten, wuschen wir uns das Gesicht und kämmten uns mit den Fingern die Haare. Es gab hier Seife. Und sogar ein Handtuch. Wir schrubbten unsere Hände. Dann setzten wir die Hüte wieder auf, hockten uns neben das Waschbecken und aßen die Brötchen, während wir gleichzeitig auf Schritte im Gang lauschten. Schließlich hörten wir sie, doch es waren nicht die Schritte des Mädchens, sondern die einer Köchin, einer älteren Frau aus der Küche. Sie winkte uns wortlos und trieb uns schweigend zur Eile an. Ich rätselte, ob wir ihr wirklich folgen sollten oder ob sie uns in eine Falle lockte, aber Issa stieß mich vorwärts, darum ging ich los. Die Köchin führte uns den Gang hinunter und durch die Küche. Dort schien uns niemand zu beachten. Am Hinterausgang erwartete uns ein Priester.

Er brachte uns durch kleine Gassen in eine Kirche. Dort lag eine Decke für uns beide bereit. Obwohl es Sommer war, war es in der Sakristei kühl. Er ließ uns allein und schloss die Tür ab. Hoch über uns gab es ein kleines Fenster. Wir lehnten an der feuchten Mauer, schauten zu, wie das Licht schwächer wurde, und hörten, wie die Glocken die nächtlichen Gebetszeiten anschlugen – Vesper, Komplet, Vigil – und zuletzt, bei Anbruch der Morgendämmerung, die Laudes. Erst kurz nach der Prim holten sie uns.

Die GAP in Verona wollten mit Issa sprechen. Erst als ich meine Schwester dabei beobachtete und sah, wie die Männer sie anschauten, während sie redete, begriff ich. Sie ist berühmt. Die Kämpfer in den GAP-Einheiten wissen vielleicht nicht, wie sie wirklich heißt, aber sie wissen, wer sie ist. Sie wissen, was sie getan hat. Wahrscheinlich verdanken ihr einige von ihnen das Leben.

Während ich ihr zuschaute, wie sie schilderte, was in dem Haus an der Via dei Renai und später in der Villa Triste sowie auf der Lichtung passiert war; während ich zuhörte, wie man ihr das Beileid aussprach, weil Carlo und so viele andere für Radio Julia gestorben waren, begriff ich, dass ich hier jemanden vor mir hatte, den ich kannte und nicht kannte. Damals sah ich Issa zum ersten Mal durch die Augen dieser Männer. Sie war nicht mehr meine jüngere Schwester, sondern eine Frau, die diese Männer bewunderten und auf die sie hörten. Die man für ihre Fähigkeiten und ihre Unerschrockenheit kannte und respektierte. Die selbst zu einer kleinen Legende geworden war.

Als sie fertig war, bekamen wir zu essen. Dann erklärten sie uns, dass man uns nach Mailand bringen würde. Bevor sie uns in den Zug setzten, statteten sie uns mit Papieren aus. Wir sind immer noch Schwestern, aber jetzt heißen wir Bevanelli. Ich bin Chiara, Issa ist Laura. Wir stammen aus Livorno und sind auf der Flucht vor den Bomben der Alliierten.

Die Wohnung ist winzig. Es sind nur zwei Zimmer mit Bad. Aber wir bekamen die Schlüssel ausgehändigt, und man sagte uns, dass wir dort wohnen könnten. Als wir sie betraten und die abgewetzten Möbel und die Anziehsachen im Schrank sahen, wollte ich mir lieber nicht vorstellen, was mit den Menschen passiert war, die früher hier gewohnt hatten. Papa wäre entsetzt gewesen, aber eine der Lektionen, die mich dieser Krieg gelehrt hat, besagt, dass es manchmal besser ist, den Dingen nicht auf den Grund gehen zu wollen. Es hat auch hier Bombenangriffe gegeben. Vielleicht beantwortet das die Frage. Oder vielleicht gibt es in allen Städten, in allen unseren Krankenhäusern Schwestern wie mich – Elstern, die die Toten um alles erleichtern, was glitzert.

Wir werden auf keinen Fall versuchen, nach Florenz zurückzukehren. Issa wollte das anfangs – aber die anderen wollten nichts davon hören. Nach dem, was mit JULIA passiert ist, wäre das viel zu gefährlich. Dort sind wir zu bekannt, und hier werden wir gebraucht. Die Ortsgruppe will, dass wir selbst für uns aufkommen. Ich werde in einer Arztpraxis arbeiten. Issa hat man bereits mitgeteilt, dass sie als Staffetta – als Kurier – eingesetzt werden soll. Schwangere sind besonders wertvoll – den Nazis wie auch den Faschisten ist die Mutterschaft so heilig, dass sich schwangere Frauen fast ungehindert bewegen können. Issa hat die anderen angefleht, aber die ließen sich nicht erweichen. Man hat unseretwegen »beträchtliche Reserven verbraucht«. Als ich das hörte, war ich entsetzt. Dann begriff ich erneut, dass es nicht um »uns« ging – sondern um Issa. Die GAP haben Wort gehalten und sich um ihre Leute gekümmert. Ich bin am Leben, ich bin frei – mehr oder weniger. Vielleicht werde ich nicht in einem gottverlassenen deutschen Lager sterben, weil ich mit ihr zusammen war.

Erst im Oktober habe ich wieder in dieses Buch geschrieben – am 10. Oktober, Lodovicos Namenstag. In Wahrheit hätte ich es am liebsten vergessen, so wie ich versucht hatte, alle Erinnerungen an Lodovico zu vergessen – und an die Frau, die ich vielleicht geworden wäre, wenn wir geheiratet hätten. Aber ich konnte es einfach nicht. Die Vergangenheit schlich sich immer wieder ein.

Zum ersten Mal geschah es, als wir erfuhren, dass Florenz befreit worden war. Offenbar hatte es heftige Kämpfe gegeben, und an den Lungarnos waren schwere Schäden angerichtet worden. Aber alles in allem hatte Issa recht behalten. Die GAP, die Garibaldi-Brigaden und die CLN – alle Partisanen – hatten gemeinsam den offenen, bewaffneten Kampf aufgenommen, mit allen Konsequenzen, noch bevor die Alliierten eintrafen, auch wenn sie mit gefesselten Händen kämpfen mussten. Sie hatten weder genug Munition noch genug Waffen, um viel zu erreichen. Letzten Endes konnten sie die Deutschen nicht davon abhalten, die Brücken zu sprengen. Die Ponte alle Grazie, die Carraia und meine Lieblingsbrücke, die wunderschöne Trinità – alle sind zerstört. Nur die Ponte Vecchio hat überlebt. Vier Tage und Nächte lang tobten die Kämpfe im Oltrarno, und während dieser Zeit nutzten die Partisanen den Geheimgang der Medici, um hin- und herzulaufen, sich gegenseitig mit allem zu versorgen, was sie an Munition oder Sprengstoff auftreiben konnten, und sich schließlich mit den Kommandeuren der Alliierten in Verbindung zu setzen, die bei ihrer Ankunft offenkundig wenig begeistert waren, dass bereits ein Komitee der CLN die Stadt regierte. Wenn sie geglaubt haben, dass wir all das durchgestanden haben, nur um eine Besatzungsmacht durch eine andere zu ersetzen, selbst wenn es die Amerikaner sind, dann haben sie sich getäuscht.

Die Deutschen zogen sich schließlich in die Berge und an ihre Gotenlinie zurück, so wie wir es schon lange geahnt hatten. Der Rückzug der Faschisten verlief weniger geordnet. Manche flohen wie brave Schoßhündchen mit ihren deutschen Herren. Andere hingegen blieben in der Stadt – wo sie sich anzupassen versuchten, indem sie so taten, als wären sie nicht mehr die, die sie eben noch gewesen waren. Wieder andere waren ehrlicher. Sie versuchten sich als Heckenschützen und mussten Straße für Straße aus ihren Verstecken getrieben und erschossen werden. Am meisten verstörte uns die Nachricht, dass Mario Carita entkommen war. Er hatte offenbar bereits im Juli sein Lager verlegt und »arbeitet« inzwischen von Padua aus. Neuigkeiten von Mama, auf die Issa und ich so inständig gehofft hatten, erreichten uns bestenfalls tröpfchenweise. Issa fand heraus, dass sie nach San Verdiana gebracht worden war, aber mehr erfuhren wir trotz aller Bemühungen nicht. Dafür fand ich etwas über jemand anderen heraus – Lodovico. Er schickte mir, kaum zu glauben, einen Brief.

Natürlich war er nicht an Chiara Bevanelli adressiert. Er war an das Mädchen gerichtet, das ich früher gewesen war. Als Issa ihn mir in die Hand drückte, blieb ich wie versteinert stehen und starrte auf den Umschlag. Ich glaube, wenn sie nicht bei mir gewesen wäre, hätte ich den Gasbrenner angezündet und den Brief ungelesen verbrannt.

Der inzwischen abgegriffene und schmutzige Umschlag lag auf dem Tisch. Es war ein warmer, spätsommerlicher Herbsttag. Die Nächte waren frisch geworden, aber die Sonnenstrahlen lagen immer noch wie warmer Honig auf dem Fensterbrett und den durchgetretenen Bodendielen. Draußen ratterte eine Straßenbahn vorbei. Issa lehnte in der Küchentür und beobachtete mich. Inzwischen war ihre Schwangerschaft nicht mehr zu übersehen, aber das schien sie nicht zu beeinträchtigen. Um keinen Preis der Welt würde sie sich über geschwollene Knöchel oder Rückenschmerzen beklagen. Sie arbeitete als Kurier und erfüllte nebenbei andere Aufträge, glaube ich, obwohl ich das nicht mit Sicherheit weiß – und sie mir das auch nicht verraten hätte, falls ich sie gefragt hätte. Manchmal blieb sie tagelang verschwunden. An jenem Morgen war sie aus Bologna zurückgekommen und hatte nicht nur meinen Brief mitgebracht, sondern auch Neuigkeiten darüber, was am Monte Sole passiert war.

Die deutschen Fallschirmjäger und die Waffen-SS hatten wieder einmal eines ihrer berüchtigten rastrellamenti durchgeführt, diesmal gegen die Stella Rossa, die im Frühjahr so beherzt und so erfolgreich gegen die Deutschen gekämpft hatte – ein Sieg, den man ihnen nicht verziehen hatte. Die Offensive war Ende September gestartet worden. Die umzingelten Partisanen hatten ausgeharrt, weil sie gehofft hatten, dass die Alliierten, die nicht einmal einen Tagesmarsch weiter südlich standen, sie unterstützen würden. Aber die Hilfe war ausgeblieben. Sie wurden ausgelöscht. Alle Dörfer in der Umgebung wurden zerstört. Zweihundert Zivilisten, die in einer Kirche Zuflucht gesucht hatten, wurden auf einem Friedhof zusammengetrieben und mit dem Maschinengewehr niedergemäht. Ich schätzte, dass Issa im vergangenen Jahr oft durch diese Gegend gekommen war, wenn sie ihre »Päckchen« abgeliefert hatte, und an jenem Morgen erzählte sie mir zum ersten Mal, dass sie Emmelina mehrmals auf dem Bauernhof ihres Bruders in der Nähe eines Dorfs namens Caprara besucht und manchmal auch dort übernachtet hatte. Als sie gehört hatte, was in Marzabotto passiert war, hatte sie Bologna verlassen und sich dorthin durchgeschlagen, um die Folgen des Massakers mit eigenen Augen zu sehen. Als sie dort ankam, wurden immer noch Menschen beerdigt. Auf den Bauernhöfen lag das tote Vieh herum. Häuser und Ställe waren zerstört, die ausgeweideten Dachstühle ragten flehend in den Himmel. Emmelina und ihr Mann, ihr Bruder und ihre gesamte Familie waren unter den Toten. Man hatte ihre Leichen auf dem Bauernhof gefunden, auf einem Haufen in einer halb niedergebrannten Scheune. Nirgendwo war etwas von Emmelinas Nichte zu sehen, jenem stämmigen, stillen Mädchen, dem Mama damals »lange Finger« unterstellt hatte, weil es angeblich Zigaretten und einen Teelöffel stibitzt hatte. Manche der Überlebenden glaubten, dass sie womöglich versucht hatte, nach Florenz zurückzukehren.

Soweit es sich feststellen ließ, waren fast achthundert Menschen ermordet worden. Größtenteils Zivilisten. Zweihundert davon gehörten zur Stella Rossa, und viele davon hatte Issa gekannt. Ein paar, darunter der Anführer Lupo, waren entkommen und versteckten sich jetzt in Bologna. Einer dieser Überlebenden hatte ihr Lodovicos Brief übergeben. Er war von Hand zu Hand weitergereicht worden, durch die Linien der Alliierten hindurch, die mittlerweile oben in den Bergen standen, ebenjenen Bergen, die ich so oft von unserer Terrasse oder von meinem Schlafzimmerfenster aus betrachtet hatte – in einem anderen Leben, wie mir inzwischen schien.

Issa beobachtete mich. Der Schatten dessen, was sie in Monte Sole gesehen hatte, lag auf ihrem Gesicht, in ihren Augen spiegelte sich der Tod, während gleichzeitig in ihrem Bauch ein neues Leben heranwuchs. Ich begriff, dass ich sie zum letzten Mal lachen gehört hatte, als ich an jenem Morgen in der Via dei Renai aus dem Fenster geblickt und gesehen hatte, wie sie Arm in Arm mit Carlo über die Straße spaziert war.

Ich griff nach dem Umschlag. Mein Name, Caterina Cammaccio, stand in Lodovicos Handschrift darauf. Sobald ich ihn las, schreckte ich zusammen, fast als hätte ich seine Stimme gehört.

»Ich kann nicht.«

Ich ließ ihn auf den Tisch fallen. Issa blieb stumm.

»Ich kann nicht«, sagte ich noch einmal. »Er ist nicht an mich gerichtet. Nicht mehr.«

Sie machte einen Schritt auf mich zu. Sie trug immer noch ihren Mantel. Ihre Haare waren nachgewachsen. Und wieder blond, wie staubiges Gold.

»Doch, du kannst.« Sie nahm den Umschlag und streckte ihn mir entgegen.

»Nein, ich kann nicht.« Ich schüttelte den Kopf. »Der Brief ist nicht für mich gedacht. Sondern für jemand anderen.« Ich hörte, wie mir die Angst die Stimme abschnürte. »Er ist an die Frau gerichtet, an die Lodo beim Schreiben dachte – und die gibt es nicht mehr, Issa«, sagte ich. »Sie ist verschwunden. Sie ist tot. Und so sollte es auch bleiben.«

»Nein, das sollte es nicht.«

Sie streckte mir immer noch störrisch den Umschlag hin, als könnte sie mich zwingen, ihn entgegenzunehmen, damit ich ihn öffnete wie die Büchse der Pandora und mich der Vergangenheit stellte mitsamt all den Träumen, die ich gehegt und die ich einst für selbstverständlich gehalten hatte.

»Du verstehst das nicht.«

Ich schloss die Augen und hörte wieder Schnee unter Stiefeln knirschen. Das Schaben des Koffers, den ich über den Speicher zerrte. Ich sah die Rückseite des Krankenwagens, das rote Kreuz auf den Türen, das immer kleiner wurde und schließlich im Schnee zu verwehen schien. Ich spürte die Haut auf Dieters Handrücken, seine Fingerspitzen, seine schwielige Handfläche. Und den glatten, kühlen Satin meines Hochzeitskleids. Ich hörte Einschlagpapier rascheln und Satinknöpfe wie Regentropfen darauffallen.

»Du verstehst das nicht, Issa«, sagte ich erneut. »Du kannst das nicht verstehen.«

»O doch.«

Sie packte mich am Kinn. Drehte meinen Kopf zur Seite, bis ich ihr in die Augen sehen musste.

»Ich verstehe sehr wohl«, sagte sie leise. »Ich weiß, was du getan hast. Ich verstehe dich.«

Wir sahen uns schweigend an.

»Sechs Menschen haben damals überlebt, Cati. Und du und ich und Carlo und Il Corvo.« Sie senkte den Blick, nahm meine Hand und legte sie auf ihren Bauch, in dem vor ein paar Tagen zum ersten Mal ihr Kind gestrampelt hatte. »Wir wären nicht hier«, sagte sie. »Keiner von uns wäre noch am Leben, wenn damals diese Tür geöffnet worden wäre.« Issa ließ meine Hand los. »Keiner von uns ist noch der, der er früher war«, sagte sie. »Auch Lodovico nicht.«

Sie sah mich an. Dann streckte sie mir den Umschlag von Neuem hin. Diesmal nahm ich ihn.

»Du, meine Liebe.« So lauteten die ersten Worte. »Ich habe gehört, du seist noch am Leben …«

Lodovico war erst Wochen nach der Befreiung nach Florenz gekommen. Er war mit den Alliierten mitgezogen, von Salerno aus in Feldhospitälern südlich der Front. Den ganzen Mai und Juni hindurch war er knapp hinter den Linien geblieben. Am Tag unserer Verhaftung hatte er sich wohl irgendwo südlich von Grosseto aufgehalten. Sobald er nach Florenz gekommen war, war er direkt zu unserem Haus gegangen – das auf wundersame Weise verschont geblieben war – und danach, als er dort niemanden vorfand, ins Krankenhaus. Dort hatte er erfahren, dass wir verhaftet worden waren. Erst hatte er angenommen, wir seien zusammen mit den anderen erschossen worden. Dann hatte er herausgefunden, dass Issa und ich abtransportiert worden waren. Offenbar hatte es die SS bei ihrem überstürzten Abzug versäumt oder nicht mehr geschafft, die Unterlagen aus der Villa Triste mitzunehmen. Alles war dortgeblieben, schwarz auf weiß. Jeder Schrei. Jeder Blutstropfen.

Nicht dass das Lodo sonderlich geholfen hätte. Er wusste, dass man uns in einen Zug nach Verona gestopft hatte, wo wir in ein Übergangslager kommen sollten, bis wir nach Osten geschickt wurden. Mehr konnte ihm das Rote Kreuz nicht sagen. Aber die CLN, die Florenz übernommen hatte, erklärte sich schließlich bereit, einen Kontakt zu den GAP zu vermitteln. Schließlich erhielt er die erhoffte Botschaft – dass wir am Leben und immer noch in Italien waren. Und zugleich die schlechte Nachricht – dass wir immer noch hinter den deutschen Linien waren. Man sagte ihm nicht, wo und unter welchem Namen wir lebten. Aber man sagte ihm, wenn er einen Brief schriebe, würde man versuchen, ihn zuzustellen.

Er erklärte mir, wie ich ihn erreichen könnte. Manchmal konnten Briefe über das Rote Kreuz zugestellt werden. Die GAP und die CLN in Mailand standen ebenfalls mit dem Süden in Verbindung. Mit dem Rest Italiens. Dem Land hinter den Bergen, in dem der Krieg längst ausgefochten ist.

»Wenn du das liest«, schrieb er, »bin ich höchstwahrscheinlich schon wieder in Neapel und arbeite im Feldhospital der Alliierten. Ich bete Nacht für Nacht, dass ich endlich von dir höre. Ich male mir aus, wie du diese Worte liest und wie ich dich in meinen Armen halte.«

Ich setzte mich an den Tisch. Issa war nach nebenan verschwunden. Ich konnte hören, wie sie herumging, wie sie mit leisem Rascheln Mantel und Schuhe auszog und wie die Sprungfedern leise quietschten, als sie sich aufs Bett legte. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich so dasaß, den Brief in meinen Händen, und zuschaute, wie die Sonnenstrahlen auf der Fensterbank spielten.

Während der nächsten Tage und Wochen las ich den Brief unzählige Male. Jedes Mal machte sich ein eigenartiges Gefühl in meiner Brust breit, nicht mehr die erblühende Angst, an die ich mich so gewöhnt hatte, sondern etwas Neues. Es war eine andere Art von Blüte, zerbrechlich wie Glas. Und so fremdartig, dass ich anfangs gar nicht begriff, was es war – Glück.