3. Kapitel
»Sie meinen also, wir haben es mit einer Exekution zu tun?«
Der Begriff war für Palliotis Geschmack zu melodramatisch. Hätten sie es mit einem Bandenmord zu tun, mit einem Haufen grenzdebiler Drogenhändler, die sich gegenseitig abknallten, hätte er keine Scheu gehabt, es so zu nennen. Exekution. Auftragsmord. Hinrichtung. Womit in jedem Fall kein willkürliches Verbrechen, sondern eine Form von Vendetta verbunden war. Ein geplanter Racheakt. Was wiederum angedeutet hätte, dass das Opfer irgendetwas getan hatte, womit es das verdient hatte.
Er brummte leise vor sich hin.
»Also«, sagte er schließlich, »ich muss zugeben, dass ich nicht weiß, wie man es sonst bezeichnen sollte, wenn man jemanden foltert, ihn sich hinknien lässt und ihn danach in den Hinterkopf schießt.«
»Es passt trotzdem nicht«, sagte Enzo. »Der Schuss vielleicht. Aber nicht, wenn man das Salz dazunimmt. Das Hinknien.« Er schüttelte den Kopf. Dann meinte er plötzlich: »Oder vielleicht doch. Wir haben nirgendwo einen Fingerabdruck entdecken können. Weder im Aufzug noch an der Tür oder in der Wohnung – nirgendwo. Auch keine Faser und kein Haar. Höchstens vielleicht etwas Straßenschmutz.«
Pallioti zog die Schultern hoch.
»Vielleicht trug der Täter Handschuhe und hatte ansonsten einfach Glück.«
Noch während er das sagte, erkannte er, dass er das nicht glaubte.
Enzo sah ihn an. »Andererseits«, erklärte er, ohne auf Palliotis Theorie einzugehen, »verstehe ich nicht, warum der Täter die Brieftasche gleich wieder weggeworfen hat, wenn er tatsächlich so professionell war. Warum hat er sie überhaupt mitgenommen? Dass jemand schnell ein paar Scheine klaut, passt nicht zu einer Hinrichtung. Genauso wenig wie zu dem Salz. Das ergibt keinen Sinn.«
Einen Moment lang schien Giovanni Trantementos Gesicht zwischen ihnen im Raum zu schweben. Pallioti wedelte mit der Hand, als wollte er eine Fliege verscheuchen. Er hatte eben ein kurzes Gespräch mit dem ermittelnden Richter geführt, doch der hatte so viel mit anderen Fällen zu tun, die ihm vordringlich erschienen, dass er sich, vorerst wenigstens, damit begnügen würde, den Fall nur zu beobachten. Noch davor hatte er mit dem Bürgermeister telefoniert. Und zwischendrin hatte er mit einem Pressesprecher aus der Questura gesprochen, der ihm die unangenehme Neuigkeit übermittelt hatte, dass eine der Abendzeitungen bereits einen kleinen Artikel gebracht hatte. Vorläufig handelte es sich nur um eine Lokalmeldung. Ehemaliger Widerstandsheld in eigener Wohnung ermordet. Bislang hatte die Questura den tragischen Todesfall lediglich bestätigt. Aber es gab keine Garantie – sondern es war im Gegenteil ziemlich unwahrscheinlich –, dass die Story nicht um sich greifen würde, und dann würde sie mit Sicherheit, wenn nicht die Fantasie der Öffentlichkeit, so doch die der Redakteure anheizen. Falls das passierte, würde sich eine Pressekonferenz nicht vermeiden lassen. Und dann wäre es von Vorteil, wenn sie etwas Handfestes vorzuweisen hätten.
»Für irgendjemanden ergibt das offenbar doch einen Sinn«, sagte er. »Und was unternehmen wir, um ihn zu finden?«
Enzo sank in einen der schwarzen Ledersessel am Fenster und zählte die einzelnen Punkte an den Fingern ab.
»Wir durchkämmen die Schwulenbars und Klubs. Wir haben gute Verbindungen dorthin, also müssten wir es erfahren, falls man dort irgendwas gehört hat. Von jemandem mit einem komischen Salzfetisch, der gern Hinrichtungen nachstellt – was weiß ich. Wir gehen die Videoaufzeichnungen der Überwachungskameras in der Nähe des Gebäudes durch …«
Pallioti hatte den Rand seiner Schreibunterlage studiert und sah auf.
»Gibt es dort welche?«
»Eigentlich nicht«, antwortete Enzo. »Ein paar Blocks weiter gibt es mehrere in einer Parkgarage. Aber wer weiß, vielleicht haben wir ja Glück. Und finden jemanden, den wir kennen.« Er nahm den nächsten Finger. »Ich habe ein paar Leute in das Wohnhaus geschickt, die von Wohnung zu Wohnung gehen, solange alle beim Abendessen sitzen. Hatte er vielleicht Feinde? Wurde er bedroht? Hat er sich merkwürdig benommen? Haben Fremde vor dem Haus herumgelungert? Wir überprüfen auch den Jungen, der die Wurfsendungen verteilt hat, falls dem was aufgefallen ist. Ich beschaffe mir Zugriff auf Trantementos Bankkonten. Wir versuchen, so viel wie möglich über seine geschäftlichen Verbindungen zu erfahren. Und mit etwas Glück werden wir morgen von der Ballistik einen Bericht über die Kugel erhalten. Daraus müsste sich etwas machen lassen. Falls ja, werden wir das mit unseren Datenbanken abgleichen. Die Kugel und das Salz sollten uns zumindest einen Anhaltspunkt liefern. Falls unser Freund irgendwo in Europa schon einmal etwas Ähnliches durchgezogen hat, werden wir es erfahren. Im Idealfall könnten wir sogar die Waffe bestimmen. Falls wir sie davor nicht irgendwo finden. Wir haben alle Müllcontainer im Umkreis von zweihundert Metern beschlagnahmt. Und dann«, ergänzte er, »wäre da noch der Safe.«
Pallioti zog die Augenbrauen hoch. Das Ding hatte ausgesehen, als stamme es aus einem amerikanischen Gangsterfilm der Dreißigerjahre. Er hatte angenommen, dass man es mit einer Briefklammer oder schlimmstenfalls einer Nagelfeile öffnen konnte.
»Offenbar«, sagte Enzo, »legte Signor Trantemento großen Wert auf Sicherheit – zumindest bei seinen Unterlagen, wenn auch nicht bei seiner Wohnungstür. Der Safe verfügt über einen ziemlich ausgeklügelten Mechanismus. Unser Typ brachte ihn nicht auf. Wir müssen einen Spezialisten hinzuziehen. Und der nächste sitzt in Genua.«
Warum, dachte Pallioti, überraschte ihn das nicht?
Enzo sah auf die Uhr. »Inzwischen müsste er dort sein.«
Pallioti sah aus dem Fenster. Die Piazza lag im Dunkeln. Lichter glänzten auf dem feuchten Pflaster.
»Was wissen wir über Giovanni Trantemento?«, fragte er.
»Abgesehen davon, dass irgendjemand ihn offenbar für wichtig genug hielt, um ihn zu foltern und zu töten?« Enzo sah ihn an. »Bis jetzt nicht allzu viel. Er war nie verheiratet. Wohnte seit über vierzig Jahren in dieser Wohnung. Seit einundvierzig Jahren, um genau zu sein. Er ist nicht vorbestraft. Besitzt kein Auto. Besitzt keinen Computer. Wir gehen gerade seinen Schreibtisch und sein Adressbuch und so weiter durch. Außerdem werde ich jemanden nach Rom schicken. Aber ich dachte, dass ich damit lieber warte, bis wir eine Kopie seines Testaments besorgt haben.«
Pallioti sah ihn fragend an.
»Er hat eine Schwester«, erläuterte Enzo. »Offenbar die einzige noch lebende Verwandte. Sie wohnt in Rom. Die Kollegen unten haben jemanden vorbeigeschickt, der sie informiert. Aber natürlich schicke ich auch einen von unseren Leuten hin. Ich dachte nur, vielleicht sollten wir abwarten, bis wir wissen, ob in dem Safe ein Testament liegt und wer darin als Erbe benannt ist, bevor wir uns mit ihr unterhalten.«
»Ich muss morgen sowieso nach Rom fahren, wenn Sie so lange warten können.«
Die Konferenz von verschiedenen Polizeibehörden war schon vor Monaten im Ministerium angesetzt worden. Er würde sich sowieso nicht drücken können. Wahrscheinlich hätten sich nicht viele Menschen auf einen Besuch bei Giovanni Trantementos Schwester gefreut, aber immerhin wäre es ein Gegengewicht zum Rest des Tages, der zermürbend bürokratisch zu werden versprach.
Enzo sah seine Miene und lächelte.
»Es wäre mir eine Ehre, Dottore«, sagte er, »wenn Sie dafür ein paar Minuten erübrigen könnten.«
Marta Buonifaccio stand in ihrer Tür und sah die Männer die Treppe herunterkommen. Sie waren zu zweit. Beide trugen Jeans, Turnschuhe und Lederjacken. Nicht dass es etwas ausmachte. Sie bewegten sich wie alle Polizisten, die ihr bisher begegnet waren.
Oben waren noch mehr, zwei Frauen klopften an alle Türen. Anfangs hatten sie Marta irritiert, weil sie Frauen waren. Und jung. Praktisch noch Mädchen. Darum hatte sie die Tür geöffnet und war verdutzt im Treppenhaus stehen geblieben. Doch dann hatte sie in ihre Augen gesehen und begriffen. Sie brauchten keine Marke. Sie kamen überall hinein und konnten nach Belieben Fragen stellen.
Ob sie jemanden gesehen hatte? Ob ihr etwas Merkwürdiges aufgefallen war? Irgendetwas Ungewöhnliches? Kannte sie Signor Trantemento? Hatte er manchmal Besuch bekommen?
Nein, nein, nein, eigentlich nicht, und nicht, soweit sie wüsste. Ihre Antworten waren nicht einmal gelogen. Aber selbst wenn sie hätte lügen müssen, hätte sie nichts anderes gesagt. Denn so machte man das. So konnte einem niemand etwas anhaben – solange man den Blick gesenkt und den Mund geschlossen hielt.
Die Männer nahmen gerade die letzten Stufen. Der erste, der in sein Handy gesprochen hatte, klappte es zu und ließ es in die Tasche gleiten. Der zweite, hinter ihm, rückte die Kiste gerade, die er auf beiden Armen vor sich hertrug, so als wäre sie sehr wertvoll, was sie auch war. Giovanni Battiste Trantementos sämtliche Geheimnisse waren darin eingeschlossen. Darum nahmen die Männer die Kiste mit. Sie hatten sich schon den ganzen Abend damit beschäftigt.
Er war noch nicht einmal einen Tag tot, dachte Marta, und schon weideten sie sein ganzes Leben aus – sie zogen alle Gedärme ans Licht, um darin zu lesen, so wie vor Jahrhunderten die Auguren in den Eingeweiden der Kühe und Schweine gelesen hatten. Damals hatten sie die Tiere aufgeschlitzt und die Innereien auf die glatten Steine geschleudert, um anschließend mithilfe einer Goldmünze die Zukunft darin zu suchen, bis Lorenzo den Gestank schließlich nicht mehr ertragen und die Metzger von der Brücke verbannt hatte, die fortan den Goldhändlern überlassen blieb, die noch heute in ihren Hasenställen daraufhockten.
Die Schuhe der Männer quietschten, als sie über die großen Steine im Treppenhaus marschierten. Marta rührte sich nicht vom Fleck. Sie stand so reglos im Schatten neben dem großen Kamin, dass die beiden sie gar nicht bemerkten.
Sobald sie weg waren, sobald die große Haustür knarrend ins Schloss gefallen und den feuchtkalten Wind abgeschnitten hatte, der ins Haus geblasen hatte, trat sie wieder durch die offene Tür in ihre Wohnung. Marta schloss sie so leise, dass sie keinen Laut von sich gab. Darin war sie gut.
Sie blieb stehen und sah sich in ihrem winzigen Wohnzimmer um. Das Innere ihrer Austernschale. Was würde man wohl alles finden, wenn man sie eines Tages holen kam? Welche Perlen würde man hier pflücken?
Keine. Nichts. Nicht eine.
In diesem Moment wurde ihr das sonnenklar. Die Kartons, die man hinaustragen würde, wären mit Porzellantassen und einer Kanne gefüllt. Fotos. Rahmen. Abgetragenen Kleidern. Einem Pullover mit durchgewetzten Ellbogen. Einer Jacke mit Bisamkragen. Einem Hut, der aussah, als hätte sich jemand daraufgesetzt. Den Überresten ihres Lebens.
Aber nicht mit Geheimnissen. Dafür würde sie sorgen.
Enzo Saenz stieß einen leisen Pfiff aus.
»Kein Wunder, dass er mit dem Originalschloss nicht zufrieden war.«
Pallioti, der einen Stapel Papiere durchgeblättert hatte, sah auf. Der Safe war geöffnet worden. Jetzt lagen die sicher verschlossenen, in einer Reihe kleiner Kartons verstauten Schätze aus Giovanni Trantementos Aladin-Truhe zur Ansicht aus. »Wie viel ist es?«, fragte er.
Enzo legte die Stirn in Falten und fuhr mit dem Daumen über den Banknotenstapel in seiner Hand. Selbst mit Latexhandschuhen konnte er so schnell Geld zählen wie ein Kasinokassierer. »Mindestens zweihunderttausend Euro, würde ich sagen, und dann noch mal so viel in Dollar.« Die Banknoten waren säuberlich mit Gummibändern gebündelt worden. »Ein Geldwäscheunternehmen? Drogengelder, die über schmutzige Drucke aus dem achtzehnten Jahrhundert gesäubert werden?« Enzo schüttelte den Kopf. »Das wäre mal was Neues.«
Pallioti zuckte mit den Achseln. »Oder er brauchte einfach Bargeld«, meinte er. »Vielleicht nahmen seine Händler keine Mastercard.«
»Möglich.« Enzo sah auf den Tisch. »Er hatte ein paar Kreditkarten. Aber er hat sie kaum je eingesetzt. Wie gesagt, kein Computer, kein BlackBerry. Nichts in der Art. Nicht einmal ein Handy. Wenn Sie mich fragen, war er kein großer Fan des einundzwanzigsten Jahrhunderts.« Wieder schüttelte er den Kopf. »Vielleicht wollte er sich was zurücklegen. Vielleicht wollte er verreisen.«
»Deutet irgendetwas darauf hin?«
Enzo sah auf. »Ob er gestern im Reisebüro war, meinen Sie? Oder ob wir auf seinem Schreibtisch ein Ticket nach Rio gefunden haben? Nein. Aber das heißt nicht, dass er es nicht erwogen haben könnte. Oder sogar geplant hatte, falls er irgendwann verreisen musste. Ganz schnell. Sein Pass ist gültig. Und so einen Haufen Geld bewahrt man eigentlich nicht in einem Safe im Schlafzimmer auf.«
»Vielleicht hatte er etwas gegen Banken.«
»Vielleicht hatten die Banken etwas gegen ihn.«
Enzos Handy piepte. Er klappte es auf, drehte Pallioti den Rücken zu und sprach leise hinein.
Die Ermittlungen wurden inzwischen von einem Raum aus geführt, der im Stockwerk unter Palliotis Büro lag. Von hier aus sah man nicht auf die Piazza. Wenn man hinausgesehen hätte, hätte man auf die Mauer des Gebäudes auf der anderen Seite der Gasse geblickt. Aber man konnte nicht hinaussehen, weil die Räume auf dieser Seite der neuen Questura keine Fenster hatten.
Das Antlitz Giovanni Trantementos starrte sie von einer Tafel aus an, als schwebte sein Geist über all dem, was vor ihnen ausgebreitet lag. Das Foto war fast auf Lebensgröße aufgeblasen worden. Wahrscheinlich war es vor gut zehn bis fünfzehn Jahren aufgenommen worden, aber schon damals hatte Trantementos Gesicht mit der hohen, freien Stirn, den ausgehöhlten Wangen und den dunklen Augen hinter den runden Brillengläsern etwas von einem Totenkopf gehabt. Während Pallioti das Gesicht studierte, fragte er sich, ob das wohl vom Alter kam, aber das glaubte er nicht. Er vermutete vielmehr, dass Giovanni Battiste schon immer so ausgesehen hatte. Es gab solche Menschen. Im Grunde war es, als wäre an der Knochenstruktur gespart worden. Als würde Gott gelegentlich eine Abkürzung nehmen. Und Geschöpfe erschaffen, die nicht zu altern brauchten, weil sie von Anfang an wie tot aussahen.
Der Raum war praktisch leer. Enzos Leute waren unterwegs und befragten mögliche Zeugen, hauptsächlich an Orten, wo man nach Einbruch der Dunkelheit eher eine Antwort bekam. Enzo selbst hatte sein Telefonat beendet und widmete sich jetzt eingehend der Lektüre von Giovanni Trantementos Testament, das tatsächlich zwischen zwei Geldstapeln gesteckt hatte. Ein flüchtiger Blick hatte erbracht, dass es sowohl aktuell – es war vor knapp zwei Jahren aufgesetzt worden – als auch relativ unverblümt war. Den Großteil seines Vermögens hatte er zu gleichen Teilen seiner Schwester und deren Sohn, seinem Neffen, vermacht. Außerdem gab es offenbar kleinere Spenden an städtische Wohlfahrtseinrichtungen, an ein Krankenhaus, ein Obdachlosenasyl. Und eine nicht so kleine Gabe an einen gewissen Schachklub Alexandria, der seiner Adresse nach irgendwo am Poggio Imperiale residierte.
Pallioti beugte sich wieder über den Tisch. Am anderen Ende lag ein Haufen von Plastikhüllen. Bei näherem Hinsehen stellte sich heraus, dass darin verblichene Flugblätter steckten. Er nahm eine der Hüllen an einer Ecke hoch und hielt sie gegen das Licht. Sie war groß und verschließbar wie ein Tiefkühlbeutel. Vorn hatte jemand mit einem schwarzen Filzstift die Zahl 46 daraufgeschrieben. In der oberen Ecke haftete ein kleiner gelber Aufkleber mit einem verschmierten aufgedruckten Namen. Er legte den Beutel zurück und griff nach dem nächsten, der ganz ähnlich aussah, diesmal jedoch vakuumversiegelt war. Die Nummer auf der Vorderseite, wieder mit einer Art schwarzem Filzstift aufgetragen, lautete B742. Sie war eingekreist.
Pallioti blinzelte und angelte in der Jackentasche nach seiner Lesebrille. Damit konnte er auch die winzigen Druckbuchstaben hinter der Plastikfolie lesen. Das Dokument in der Hülle war kein Flugblatt, sondern eine verblichene und zusammengefaltete Zeitungsseite. Er wendete sie und sah in matten, ergrauten Buchstaben den Titel stehen. La Nostra Lotta, unser Kampf. Auch das Datum konnte er erkennen, Februar 1944. Bei den anderen Hüllen war es ähnlich. Es waren mindestens fünfzehn, vielleicht sogar zwanzig. Die Qualität war erbärmlich, die Titel klangen durchweg angeberisch. Ruf nach Freiheit, Vaterland, Die grüne Flamme und noch einmal Unser Kampf.
Er erkannte die Namen wieder. Wie es jedes Schulkind seiner Generation getan hätte. Heimlich in faschistische Zeitungen eingelegt, auf Parkbänken hinterlassen, in Speisekarten versteckt. Sie waren wie kleine Geisterhände, die sich nach einem reckten. Die einem mitten im Gedränge die Schulter drückten. Die einem zuflüsterten, nicht den Mut zu verlieren. Nicht aufzugeben. Dies waren »Zeitungen«, das war die Untergrundpresse, gedruckt und verteilt von den Partisanen während der letzten Kriegsjahre, als die Deutschen Italien besetzt und die Faschisten wieder in die Regierung eingesetzt hatten, damit sie ihr letztes Hurra anstimmen konnten.
Pallioti strich die Hülle in seiner Hand glatt, ließ die Finger über das alte Plastik gleiten und sah dann in Giovanni Trantementos Gesicht an der weißen Tafel. Auf den ersten Blick wirkte der Alte gar nicht sentimental. Aber der Eindruck konnte täuschen. In Wahrheit waren alle Menschen sentimental. In irgendeiner Hinsicht. Warum sollte es ihn überraschen, dass Giovanni Battiste Trantemento, der Held des Befreiungskampfes, stolz auf das gewesen war, was er getan hatte? Dass er diese Flugblätter wie zarte, zerfleddernde Souvenirs aus seiner Jugend bei den Partisanen gesammelt hatte?
Pallioti ließ die Hülle sinken und legte sie vorsichtig auf den Tisch zurück. Er wollte sich gerade abwenden, als ihm etwas ins Auge stach. Etwas Rotes, das ebenfalls in einer Plastikhülle steckte. Er griff in den Haufen und zog es heraus.
Dieser Beutel war geöffnet worden. An der Öffnung klebten noch Flicken von vergilbtem Tesafilm. Im Beutel lag ein kleines, etwa handgroßes Buch. Er ließ es herausgleiten, drehte es um und erkannte, auf dem verblassten roten Lederumschlag eingeprägt, die schattenhaften Umrisse einer Florentiner Lilie.