32. Kapitel

»Kommen Sie! Kommen Sie! Der Tisch ist schon bereit. An so einem Abend …«

Bernardo warf die Arme hoch, als wäre das Wetter ein ungezogenes Kind, bei dem er jede Hoffnung auf Besserung aufgegeben hatte. Kopfschüttelnd half er Pallioti aus dem nassen Mantel und schob ihn auf das Refugium zu, das der Tisch in der hintersten Ecke des Lupo bot.

Mit dem gedämpften Licht und den flackernden Kerzen wirkte das Restaurant auf ihn so düster und heimelig wie eine Höhle auf einen verwaisten Wolfswelpen. Und etwa so fühlte sich Pallioti auch. Er war müde, hungrig, schlecht gelaunt und nass. Der Regen, der am Samstagnachmittag eingesetzt hatte, hatte noch nicht nachgelassen. Jetzt, vierundzwanzig Stunden später am Sonntagabend, prasselte er immer noch auf die Stadt nieder, trommelte in eisigen Böen und kalten Güssen gegen die Gebäude und leerte die Plätze, während die wenigen Touristen, die so spät im Jahr noch unterwegs waren, eilig Schutz suchten.

Sobald er am Samstagnachmittag in die Stadt und in sein Büro zurückgekehrt war, hatte er Saffy angerufen und ihr mitgeteilt, dass er am Sonntag nicht zum Mittagessen kommen würde. Seine Schwester hatte ihn beschworen, dass er damit Maria Grandolo ins Mark treffen würde, die ihr extra eine Einladung abgebettelt hatte, weil sie hoffte, ihre neue, vor Kurzem geknüpfte Beziehung vertiefen zu können. Aber Pallioti hatte nicht einmal gelacht. Er war nicht in der Stimmung, sich aufziehen zu lassen, und während der vergangenen vierundzwanzig Stunden war seine Laune ständig weiter abgesunken. Noch während er über die Autobahn gebraust war, die halb schlafende Eleanor Sachs an seiner Seite, hatte er im Kopf die Anklage gegen Piero Balestro erstellt.

Alles, was er herausgefunden war, bestärkte nur, wovon er inzwischen überzeugt war – dass Balestro, Roblino und Trantemento vor sechzig Jahren Radio Julia und weiß Gott wen noch verraten hatten. Dass sie sich zerstritten hatten, vielleicht erst in jüngster Zeit, vielleicht schon vor vielen Jahren, und dass Balestro daraufhin die beiden anderen umgebracht hatte – wahrscheinlich, weil er sie zum Schweigen bringen wollte. Soweit Pallioti es erkennen konnte, passte alles zusammen. Die beiden Männer hatten jemandem die Tür geöffnet, den sie, zugegeben, vielleicht nicht besonders gemocht, den sie aber keinesfalls für gefährlich gehalten hatten. Die verwendete Waffe war genau die Art von »Erinnerungsstück«, die alte Soldaten aufbewahrten. Das Bargeld in Trantementos Safe deutete auf Erpressung hin. Er war nicht ganz sicher, ob Trantemento der Erpresser oder der Erpresste gewesen war, und er konnte sich auch nicht erklären, worüber sich die drei alten »Waffenbrüder« entzweit hatten. Trotzdem war er sicher, dass Piero Balestro beziehungsweise Peter Bales oder Massimo, wie er sich auch immer nennen mochte, ihm das noch verraten würde. Falls er eine Gelegenheit bekam, ihn zu vernehmen. Richtig. Offiziell. In einem Verhörraum.

Das einzige Problem war, dass niemand seiner Meinung war.

Enzo Saenz, der am Sonntag zwar ohne das erhoffte Geständnis, jedoch mit, wie er es nannte, »wichtigen Erkenntnissen« aus Brindisi zurückgekehrt war, hatte ihm höflich Gehör geschenkt. Er hatte Pallioti sogar zugestanden, dass er kurz davor stehen könnte, ein Verbrechen aufzuklären, das vor sechzig Jahren begangen worden war. Doch trotz der Tatsache, dass die Indizien gegen Bruno Torricci nicht mehr ganz so schlüssig wirkten wie anfangs, dass sie sein Alibi für den Tag, an dem Roberto Roblino ermordet worden war, bisher nicht widerlegen konnten und dass sie weder seine Anwesenheit in Florenz nachweisen noch die Waffe aufspüren konnten; trotz der Tatsache, dass sie abgesehen von den Briefen nichts von Bedeutung ermittelt hatten, außer dass Brunos Freundin für eine IT-Firma arbeitete, die eine Reihe von Softwaresystemen bei der Polizei installiert hatte – was, soweit man sagen konnte, an sich kein Verbrechen darstellte; trotz alledem war Enzo nicht überzeugt, dass eine Folge von Ereignissen, die sich vor über sechs Jahrzehnten zugetragen haben mochten – oder auch nicht –, ein Motiv für einen Doppelmord darstellen konnte. Er hatte Pallioti angehört. Dann hatte er ganz ruhig eingewandt, dass Piero Balestro vielleicht kein besonders netter Mensch war, dies aber leider nicht die Tatsache aufwog, dass sie keinen einzigen Beweis gegen ihn in der Hand hatten.

Der ermittelnde Richter hatte ihm beigepflichtet – und sich auch nicht überzeugen lassen, dass sie bei einer gründlichen Durchsuchung des Balestro-Anwesens hundertprozentig die nötigen Beweise zutage fördern würden, vor allem die Sauer 38H, die Palliotis unerschütterlichem Gefühl nach höhnisch im ersten Stock in einem Safe oder Waffenschrank ruhte. Gefühle, hatte der Richter ätzend eingewandt, reichten nicht mehr aus, um jemanden anzuklagen oder sein Haus auf den Kopf zu stellen. Für eine Anklage oder eine Hausdurchsuchung brauchte man heutzutage Beweise. Alles andere bedeutete, im Trüben zu fischen. Was vielleicht einem Angler angemessen war, aber keinem Polizisten. Nachdem er dies angemerkt hatte, hatte er sich noch dazu herabgelassen, Pallioti zu eröffnen, er sei »überrascht und enttäuscht«.

Tief im Herzen war Pallioti es auch. Sein Groll richtete sich zum Gutteil gegen ihn selbst. Was zwar von bewundernswerter Selbsterkenntnis zeugte, aber nichts daran änderte, dass er, statt im Lupo zu sitzen und die Speisekarte zu studieren, lieber Piero Balestro Gottesfurcht eingebläut hätte, bevor die Mordwaffe noch in einem Fluss oder Teich oder Entwässerungsgraben oder weiß Gott wo landete.

Wo sie wahrscheinlich längst lag. Wo sie wahrscheinlich wenige Stunden, wenn nicht Minuten nach ihrer Abfahrt versenkt worden war. Falls Balestro sie nicht bereits unten an den Ställen losgeworden war, als sie dort angekommen waren. Indem er sie auseinandergebaut und alle Einzelteile versteckt hatte. Sie sozusagen unter Pferdemist vergraben hatte.

Pallioti seufzte und ließ die Speisekarte sinken. Selbst sein Freund, der Bürgermeister, war im Moment nicht sein Freund. Nachdem der ermittelnde Richter in einem Wutanfall bei ihm angerufen und Pallioti angeschwärzt hatte, indem er vom Bürgermeister wissen wollte, wieso dieser sich von Pallioti einen »perfekt gelösten Fall kaputt machen« lasse, hatte der Bürgermeister gleich wieder zum Telefon gegriffen und ein Donnerwetter auf Pallioti niedergehen lassen. Er hatte ihn gewarnt, seine neue Abteilung stehe unter scharfer Beobachtung, sein Budget sei keinesfalls in Stein gemeißelt, es gebe böse und düstere Mächte, die es gern sähen, wenn er und der Bürgermeister auf einen langen, sehr langen Urlaub gingen, und außerdem liebe jeder die alten Partisanen und keiner könne die Nazis leiden … Wo also liege das Problem?

Pallioti massierte sich die Augen und redete sich ein, dass alles, was man ihm entgegenhielt, genauso nebensächlich war wie die Frage, was er aus der Speisekarte wählen sollte. Bernardo würde ihm sowieso bringen, was er für richtig hielt, und es würde so oder so köstlich schmecken. Genauso würden die Beweise gegen Piero Balestro für eine Anklage sprechen, wenn er nur geduldig weiterbohrte. Und nichts anderes hatte er den ganzen Tag getan. Guillermo war an den Schreibtisch zurückbeordert worden. Bales, Trantemento, Roberto Roblino – beziehungsweise Balestro, Rossi und Menucci, wer sie auch sein mochten –, Pallioti hatte befohlen, sie alle sowie jeden anderen, der Guillermo in den Sinn kam und der auch nur entfernt mit dem Fall zu tun hatte, noch einmal zu überprüfen und das Ergebnis gegenzuprüfen.

Bislang waren sie trotz aller Bemühungen auf keinen roten Faden gestoßen. Trotzdem fühlte er sich besser. Und, wie Guillermo angemerkt hatte, er konnte es sich leisten, das Positive zu sehen. Immerhin hatte Piero Balestro damit keinen Grund mehr, noch jemanden zu töten. Falls er das Lämmchen beseitigen wollte, hätte er das schon vor Jahren tun können. Jetzt ging es allein darum, genug Beweise gegen den alten Bastard zu sammeln, bevor er tot umfiel.

Mit diesem aufbauenden Gedanken griff Pallioti nach dem Glas, das Bernardo ihm gebracht hatte, und ermahnte sich, für ein paar Minuten der schönen Dinge im Leben zu gedenken, wozu auch gehörte, dass das Lupo am Sonntag geöffnet hatte.

Das miserable Wetter garantierte, dass das Restaurant leer blieb, an den wenigen besetzten Tischen saßen Stammgäste, alte Kämpen, viele davon allein. Normalerweise war Pallioti nach den sonntäglichen Mittagessen abends noch satt oder sogar vollgefressen, weshalb er sonntags nur selten herkam. Jetzt, da er in seiner dunklen Ecke hockte, eingelullt von leisen Gesprächen und warmem Wein, achtete er kaum darauf, was sich an den anderen Tischen abspielte. Bernardo nahm die beleidigende Speisekarte wieder mit. Auf eine heiße Consommé folgten ein Kalbsschnitzel mit Pilzen und ein kleiner Teller Spinat. Eine Birne mit harten, weißen Pecorinoscheiben wurde aufgetragen. Pallioti hatte keine Ahnung, was für einen Wein er trank, und es war ihm auch egal. Er begnügte sich damit, ab und zu einen Schluck zu nehmen und die Ereignisse des Wochenendes in den Hintergrund treten zu lassen, bis sie sich wie ungebetene Gäste davonschlichen.

»Dottore?«

Pallioti sah auf.

»Der hier wurde Ihnen spendiert.«

Bernardo hielt ein Glas in einer Hand und in der anderen eine sündteure Flasche Grappa. Schlagartig verlegen, weil er damit rechnete, den Bürgermeister oder den Richter zu sehen, bei denen er sich womöglich entschuldigen musste, sah Pallioti sich um.

»Von der Signora«, sagte Bernardo und stellte das Glas auf den Tisch.

Pallioti sah an ihm vorbei.

Signora Grandolo saß allein in der Ecke gegenüber. Sie hob die Hand. Es war eine leichte, elegante Geste. Schönheit kennt kein Alter. Pallioti wusste nicht, wer das gesagt hatte, aber er wusste ohne den Hauch eines Zweifels, dass er recht gehabt hatte. Er stand auf und ging an ihren Tisch.

»Ich wollte Sie nicht stören.« Sie lächelte ihn an. »Es war ein so übler Abend. Ich ertrug es nicht, allein zu Hause zu sitzen. Wo ständig die Fenster klapperten.« Sie deutete auf den Stuhl ihr gegenüber. »Möchten Sie mir Gesellschaft leisten? Oder sind Sie zu sehr damit beschäftigt, Ihre Welt nicht aus den Fugen geraten zu lassen?«

»Solange ich Sie nicht störe, Signora.«

»Nie, mein Freund.«

Bernardo, der sie nicht aus den Augen gelassen hatte, nahm Palliotis Glas vom Tisch und eilte mit der Grappaflasche herbei. Auf ein Nicken hin schenkte er auch Signora Grandolos Glas voll. Pallioti setzte sich ihr gegenüber.

Sie lächelte.

»Auf den guten Kampf«, sagte sie mit erhobenem Glas. »Und auf die Kameraden, die gefallenen wie die lebenden.«

»Auf die Kameraden.« Pallioti tat es ihr nach und ließ den süßlich scharfen Grappa über seine Zunge rollen.

Sie trug heute Grau, eine weiche Farbe. Wie Rauch. Dezente Ohrringe mit ansehnlichen Diamanten funkelten im Kerzenschein. Als sie die Hand hob, um einen davon gerade zu rücken, fiel Pallioti wieder einmal auf, dass im Gegensatz dazu ihr Ehe- und Verlobungsring ganz schlicht gehalten waren. Sie bemerkte seinen Blick und lächelte.

»Cosimo hat mir im Lauf der Jahre viele außergewöhnlich schöne Dinge geschenkt«, sagte sie. »Aber nichts, was wertvoller wäre als der hier.« Sie drehte den schlichten Goldreif. »Meine Töchter tragen beide keinen Ring. Sie behaupten, sie bräuchten keinen Ring, ›um ihre Liebe zu beweisen‹. Ich weiß nicht, ob ich sie bewundern oder für unbedarft halten soll. Was meinen Sie dazu?«

»Ein Ring ist also ein Beweis?«

»Nein.« Signora Grandolo lachte. »Es ist einfach nur ein Ring. Verbunden mit Erinnerungen.«

Sie hob die Hand ins Licht, sodass die Kerze den matten Glanz des Goldreifs und das tiefe Leuchten der kleinen Steine in ihrem Verlobungsring betonte.

»Aber«, ergänzte sie, »sie sind auch ein Testament, finde ich. Ein Souvenir. Und ein Gelübde. Eine Art von Versprechen, die nichts mit einem Beweis zu tun hat. Meinen Sie nicht auch?«

»Möglich«, sagte Pallioti.

»Ich weiß nicht.« Sie betrachtete erst ihre Ringe und sah dann ihn an. »Meine Töchter vertrauen so sehr darauf, dass alles seinen rechten Gang geht«, sagte sie. »Sie glauben, dass das Richtige letztendlich immer siegt, weshalb es keine zusätzliche Absicherung durch ein Gelübde oder Erinnerungen mehr braucht. Wahrscheinlich glauben sie einfach an die natürliche Gerechtigkeit. Ich bin froh, dass sie das können. Aber ich weiß nicht, ob ich ihren Glauben teile. Vielleicht hat auch das etwas mit dem Krieg zu tun.«

»Wo haben Sie ihn verbracht?«

Noch während Pallioti die Frage stellte, fragte er sich, ob sie wohl unhöflich war, ob sie sich so anhörte, als suche er nach einem Ansatzpunkt, um ihre Vergangenheit auszuleuchten, ihr Alter oder andere Dinge, die sie ihm nicht verraten wollte. Er dachte an Caterina Cammaccios Warnung – dass es besser war, nicht allzu wissensdurstig zu sein, wenn es um den Krieg ging – und an ihren Vater, der eine solche Einstellung grässlich gefunden hätte. Plötzlich musste er lächeln, als sei das seine eigene Erinnerung.

»Was ist?«, fragte sie.

Pallioti schüttelte den Kopf. »Nichts.« Er nahm einen Schluck Grappa. »Es war nur etwas, das ich gelesen habe. Über die Gefahren eines allzu wissensdurstigen Geistes.«

»Insgesamt ist es trotzdem besser, einen zu besitzen, oder nicht?« Signora Grandolo hatte ebenfalls das Glas erhoben. Dann antwortete sie: »Anfangs war ich hier. Wir zogen oft um. Cosimo war erst in Rom, dann in einem Kriegsgefangenenlager. Die Bank war natürlich schon immer in Florenz. Aber seine Familie besitzt ein Haus in Rom. Wenn man sich dort zum Mittagessen an den Tisch setzt, blickt man direkt auf den Palatin. Nach unserer Hochzeit wohnten wir ein paar Jahre dort, dann kam er hierher zurück, um die Bank zu leiten. Ich wurde in Rom nie wirklich heimisch. Kennen Sie es?«

»Ich kenne es. Aber nicht gut.«

»Ich weiß, was Sie sagen wollen.« Sie lächelte und nippte an ihrem Grappa. »Eine Stadt ist wie eine Frau: Man kennt sie erst, nachdem man sein ganzes Leben mit ihr verbracht hat.«

Pallioti merkte, wie er rot wurde. »So in der Art, nehme ich an. Obwohl es aus Ihrem Mund ein bisschen albern klingt.«

»Das wollte ich nicht.« Sie sah ihn an. »Ich glaube, es stimmt. Das mit den Städten und den Menschen. Wenn man erst einmal so alt ist wie ich, erscheint einem das Leben zu kurz, um überhaupt etwas richtig kennenzulernen. Was mich immer noch überrascht. Sie müssen das bei Ihrer Arbeit doch auch erleben?«

»Ständig.« Die Antwort kam mit mehr Inbrunst, als er beabsichtigt hatte. Pallioti lachte. »Ich habe gemerkt, dass ich mir nur in einem sicher sein kann«, sagte er. »Darin, dass ich kaum etwas weiß und mich selbst dabei wahrscheinlich noch irre.«

»Wie lösen Sie dann jemals einen Fall?« Sie stellte das Glas ab und wurde plötzlich ernst. »Wie können Sie je einen Fall lösen oder jemanden vor Gericht bringen, wenn Sie nichts mit Bestimmtheit wissen können?«

»O nein, ich habe nicht gesagt, dass man nichts wissen kann. Ich habe von der Menge des Wissens gesprochen. Eigentlich ist es vor allem eine Frage der Hartnäckigkeit«, beantwortete er ihre Frage. »Man muss das Bild nur richtig zusammensetzen. Stück für Stück. Bis man es erkennt. Bis die Geschichte einen Sinn ergibt. Bis alle Teile zusammenpassen. Ohne zu mogeln. Ohne etwas abzuschneiden oder zurechtzubiegen. Dann weiß man Bescheid. Nicht dass es einem immer hilft«, schränkte er ein. »Aber das ist egal, denn meistens fangen die Menschen von selbst zu reden an. Wenn man nur lang genug wartet.«

»Sie gestehen?« Sie lächelte, als könnte sie das kaum glauben.

Pallioti nickte. »Irgendwann. Manchmal merken sie nicht, dass sie es tun. Aber sie tun es.«

»Es stimmt also – der Spruch mit der Verlockung der Beichte –, dass Polizisten wie Priester sind.«

»Wahrscheinlich, Signora.« Pallioti spielte mit seinem Glas. »In mehr Aspekten, als man glauben würde.«

»Das hört sich fast düster an.«

Bevor Pallioti darauf antworten konnte, kam Bernardo an ihren Tisch. Beide Gläser waren fast leer. Er füllte sie auf und verschwand wieder durch den Gästeraum. Ihr in die Ecke gerückter Tisch ruhte wie eine Insel inmitten von flackerndem Licht und dem warmen Plätschern fremder Stimmen.

»Meinen Sie nicht auch«, meinte Signora Grandolo kurz darauf, »dass es weniger darauf ankommt, was die Menschen Ihnen erzählen, als vielmehr darauf, dass Sie genau wissen, worauf Sie hören müssen? Ich würde«, erklärte sie, »Polizisten, genauer gesagt: gute Polizisten – und ehrlich gesagt glaube ich, dass es davon nur sehr wenige gibt – eher mit Jagdhunden als mit Priestern vergleichen. Damit meine ich nicht ihren Spürsinn. Ich meine damit, dass sie vieles hören – das leise Pfeifen. Das Rascheln im Unterholz, das allen anderen entgeht. Vermutlich ist es eine Gabe.« Sie lächelte wieder. »So etwas wie das absolute Gehör. Nur die wenigsten besitzen es. Und man kann es nicht erlernen.«

Pallioti breitete die Hände aus. »Vielleicht.«

Tatsächlich war er überzeugt, dass sie den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. Dass er diesen detektivischen Spürsinn besaß, war ihm bewusst, seit er bei der Polizei angefangen hatte, und es hatte ihn immer ein bisschen verlegen gemacht, auch weil diese »Gabe«, so wie jede Gabe, nur wenig mit Logik und noch weniger mit persönlichen Verdiensten zu tun hatte. Dass er so schnell Karriere gemacht hatte, darüber war er sich im Klaren, war nur zum Teil sein eigenes Verdienst.

Signora Grandolo beobachtete ihn. »Sie zum Beispiel«, setzte sie dann an. »Sie haben etwas gehört, obwohl es sich vor Jahrzehnten ereignet hat, habe ich recht? Nur deswegen haben Sie neulich Abend nach diesen drei Männern gesucht.«

Er sah sie an, wobei er das Glas mit beiden Händen umfasste.

»Haben Sie die Männer gefunden?«, fragte sie.

Die klare, träge Flüssigkeit schmiegte sich schimmernd an den Glasrand.

»Ja.«

Pallioti roch das dezente Aroma ihres Parfüms, das sich mit dem Brandduft der Kerze mischte.

»Ja«, wiederholte er. »Ich habe sie gefunden.«

»Und haben sich Ihre Erwartungen erfüllt?«

»Ich glaube schon.« Er sah sie an. »Zwei davon sind tot. Der dritte …« Er schüttelte den Kopf. »Der dritte, Signora, gehört zu jener Sorte Mensch, die wir damals loswerden wollten, als wir Krieg geführt haben.«

»Wir werden sie niemals loswerden. Diese Sorte Mensch.« Sie streckte die Hand aus und legte die Finger auf seinen Handrücken. »Auch das hat Cosimo mich gelehrt. Diese Menschen gehören zu uns. Wir können bestenfalls versuchen, ihre Macht zu zügeln.«

Ihre Fingerspitzen waren leicht wie die Flügel eines Schmetterlings.

Als sie die Hand zurückzog, blieb die Erinnerung an ihre Berührung auf seiner Haut zurück.