22. Kapitel
Pallioti saß am Schreibtisch, vor sich die Ergebnisse der Recherchen, die er am Tag zuvor angestoßen hatte. Als perfekter Sekretär hatte Guillermo das Material bereits sortiert und es in einem korrekt beschrifteten Ordner abgelegt. Pallioti schlug ihn auf und blätterte die Seiten noch einmal durch. Er trommelte mit den Fingern. Dann stand er auf und trat ans Fenster. Es war kurz nach Mittag. Die Körbe der Blumenhändlerinnen zeichneten sich als bunte Farbflecken gegen das Grau der Piazza ab. Im Restaurant jenseits des Brunnens konnte er Menschen essen sehen.
Er dachte an die beiden alten Männer, die jetzt tot waren. Vor zwei Wochen hatte Giovanni Trantemento jemandem die Wohnungstür geöffnet, der offenbar problemlos in das Gebäude gelangt war. Ein paar Tage darauf hatte Roberto Roblino das Gleiche getan – er hatte die Tür geöffnet und jemanden in sein Haus gelassen. Jemanden, den er mit ziemlicher Sicherheit gekannt hatte. Jemanden, der ihm so wenig bedrohlich vorgekommen war, dass er ihn in sein Haus gelassen oder möglicherweise sogar ausdrücklich hereingebeten hatte.
Pallioti kehrte an den Schreibtisch zurück, klappte den Ordner zu und klemmte ihn unter den Arm.
Guillermo warf nur einen einzigen Blick auf das Gesicht seines Chefs und hielt den Kopf gesenkt, bis er das Vorzimmer wieder verlassen hatte. Der Wachmann am Eingang zur Cafeteria wollte etwas sagen – guten Nachmittag vielleicht oder etwas Belangloses über das Wetter –, klappte aber den Mund wortlos wieder zu. Der Wind schlug Pallioti entgegen, als er in die Gasse trat. So ganz ohne Mantel hätte er vielleicht gefroren, wenn er langsam genug gegangen wäre, um einen Gedanken daran zu verschwenden, aber dafür hatte er es zu eilig.
Pallioti hatte die Veranda des Restaurants mit wenigen Schritten überquert. Er schlängelte sich durch die Terrassentische, stieß die Tür auf und trat in den warmen Essensduft. Drinnen blieb er kurz stehen, bis er festgestellt hatte, dass sie am anderen Ende des Raums saß, am letzten Fenstertisch. Von wo aus man freien Blick auf das Polizeigebäude und auch auf den Taxistand hatte. Er winkte den Wirt weg, der auf ihn zugeeilt kam, und marschierte zwischen den Tischen durch.
Gerade als er ihren Tisch erreichte, sah Eleanor Sachs verblüfft auf.
Er knallte die Akte so fest auf den Tisch, dass Porzellan und Gläser klirrten.
»Sagen Sie mir …« Pallioti beugte sich vor und halb über sie, aber er wurde nicht laut. »Sagen Sie mir, warum ich Sie nicht auf der Stelle festnehmen, Sie über den Platz schleifen und Sie des Mordes an Giovanni Trantemento und Roberto Roblino anklagen sollte.«
Sie sah zu ihm auf und erbleichte sichtbar.
»Und ich rate Ihnen, mir einen guten Grund zu nennen, Dr. Sachs«, ergänzte er. »Denn ich bin wirklich sehr, sehr schlecht gelaunt. Sie haben ungefähr eine Minute.«
Sie öffnete den Mund. Und schüttelte dann den Kopf.
»Ich habe sie nicht umgebracht«, sagte Eleanor Sachs. »Ich habe noch nie jemanden umgebracht. Ich habe Ihnen doch erklärt, ich …« Sie schluckte und nickte zu der Akte hin. »Was ist das?«
»Das …«, Pallioti legte den Finger auf die Akte und schob sie ihr zu, »… das, Dr. Sachs, ist die vollständige – nein, wahrscheinlich unvollständige – Liste der Lügen, die Sie mir aufgetischt haben.«
Sie sahen sich in die Augen. Dann seufzte Pallioti.
»Ganz im Ernst«, sagte er und richtete sich auf. »Haben Sie im Ernst geglaubt, dass ich das nicht herausfinden würde?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Ich – ich weiß nicht. Wahrscheinlich habe ich mir das nicht überlegt. Ich … ich wollte nur …«
Sie fuhr sich mit der Hand durchs Haar, das sich prompt über ihrer Stirn aufstellte, sodass sie aussah wie ein Lausbub. »Ich habe niemanden umgebracht«, sagte sie noch einmal. »Ehrlich nicht. Das kann ich nicht. Ich wüsste nicht einmal, wie man das macht.« Sie stieß eines ihrer merkwürdigen bellenden Lachen aus. »Bitte«, sie sah zu ihm auf, »das müssen Sie mir glauben.«
Pallioti setzte sich ihr gegenüber.
»Warum«, fragte er, »sollte ich irgendetwas von dem glauben, was Sie mir erzählen?« Er griff nach der Akte und schlug sie auf. »Nichts, rein gar nichts von dem, was Sie mir bis jetzt erzählt haben, ist wahr.« Er sah sie an. »Bis auf Ihren Namen«, schränkte er ein. »Der scheint zu stimmen. Und Sie scheinen wirklich zusammen mit Ihrem Mann, einem gewissen Robin Sachs, an der Universität zu lehren. Aber das ist auch schon alles, oder?« Er zog das erste Blatt heraus und überflog es. »Mal sehen«, fuhr er fort, »fangen wir mit Ihrem Fachgebiet an. Nicht Geschichte. Auch nicht Sozialgeschichte. Weder italienische noch europäische Geschichte. Wie wäre es mit Literaturgeschichte? Ihr Spezialgebiet ist Petrarca. Dazu ein bisschen Dante. Das einzige Buch, das Sie je verfasst haben, beschäftigt sich mit Rhythmusmustern in der Poesie des Mittelalters und der Renaissance. Niemand hat je davon gehört, dass Sie an einer Arbeit über die Partisanen schreiben würden.« Er sah auf. »Keine Populärgeschichte, Dr. Sachs. Keine mündlich überlieferte Geschichte. Offenbar haben Sie sich vor allem darauf spezialisiert, sich Geschichten auszudenken.«
Sie schüttelte den Kopf. »Das stimmt nicht. Ich …«
Bevor sie weitersprechen konnte, fiel ihr Pallioti ins Wort. »Nein?«, fuhr er sie an. »Wie wäre es hiermit, um Ihre Wahrheitsliebe zu belegen? Sie sind keineswegs vor einer Woche in Italien angekommen, wie Sie mir erzählt haben. Sondern vor mehr als drei Wochen. Sie sind mit der Air France von Bristol über Charles de Gaulle nach Neapel geflogen. Dort sind Sie am Mittwoch, dem 18. Oktober, etwa um drei Uhr nachmittags gelandet. Danach haben Sie einen Mietwagen abgeholt.« Er schloss die Akte und legte sie auf den Tisch zurück. »Ich weiß nicht, wo Sie vom Flughafen aus hingefahren sind, aber ich gehe davon aus, dass Sie in Richtung Süden gefahren sind. Weil ich genau weiß, Dottoressa Sachs, dass Sie in der Nacht des 21. Oktober, also am folgenden Dienstag, in der Stadt Ostuni in der Locanda Azzura eingecheckt haben, wo Sie drei Nächte blieben. Ostuni«, er sah sie an, »ist wie weit? Zwanzig, fünfundzwanzig Minuten Fahrt von Roberto Roblinos Haus entfernt?«
Eleanor Sachs griff nach ihrem Wasserglas, hob es aber nicht an.
»Wollen Sie«, fragte Pallioti, »mir allen Ernstes weismachen, dass Sie kein zweites Mal zu ihm gefahren sind?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ja. Nein.«
»Ja oder nein, Dr. Sachs? Ich würde Ihnen raten, sich die Antwort gut zu überlegen.«
»Beides.« Eleanor Sachs sah ihn wieder an. »Es war beides. Sie haben recht. Ich habe wirklich versucht, noch einmal mit ihm zu reden. Aber telefonisch konnte ich ihn nicht erreichen. Darum bin ich schließlich zu seinem Haus gefahren. Er war nicht dort. Stattdessen sprach ich mit Maria Grazia, seiner Haushälterin. Sie erklärte mir, dass er weggefahren sei, nach Taormina, und erst in der folgenden Woche zurückkommen würde. So lange konnte ich nicht warten. Ich … ich hatte mit meinem Mann vereinbart, ihn am Freitag für ein verlängertes Wochenende in Positano zu treffen. Danach wollte ich nach Rom fahren und von dort aus hierher. Ich dachte …«, sie fuhr sich wieder mit der Hand durchs Haar, »… ich dachte, ich fahre einfach noch einmal hin und rede mit ihm. Später, bevor ich zurückfliegen wollte.«
»Warum?«
»Wie bitte?« Sie sah ihn an.
»Warum?«, fragte Pallioti. »Warum wollten Sie Roblino noch einmal sprechen?«
»Ach.« Eleanor Sachs nickte, als fiele es ihr schwer, seinen Fragen zu folgen. »Richtig«, sagte sie. »Wegen der Geburtsurkunde.«
Pallioti sah sie an. Was hatte Saffy noch mal gesagt? Dass Eleanor Sachs aussah wie Audrey Hepburn? Die auch die Lügnerin Holly Golightly gespielt hatte.
»Wegen seiner Geburtsurkunde«, bekräftigte sie. »Ich wollte ihn danach fragen. Und wo ich eine Kopie davon bekommen könnte. Wo er aufgewachsen war.«
»Warum?«
Eleanor Sachs antwortete nicht.
»Warum?«, fragte Pallioti wieder. »Warum interessieren Sie sich für Roblinos Geburtsurkunde?«
»Weil«, antwortete sie schließlich, »ich nicht glaube, dass er der ist, der zu sein er behauptet.«
Pallioti lehnte sich in seinem Stuhl zurück.
»Maria Grazia …« Sie sah ihn an. »Die Haushälterin, sie behauptet – ich habe mich mit ihr angefreundet – sie behauptet, dass er nie, absolut niemals aus seiner Vergangenheit erzählt habe. Signor Roblino. Jedenfalls nichts Genaues. Nur allgemeine Geschichten über die Partisanen. Sie meint, er hätte niemals seine Eltern erwähnt oder wo er aufgewachsen ist oder ob er Geschwister hatte. Und es gibt keinerlei Unterlagen über ihn«, führte sie aus. »Ich konnte rein gar nichts über ihn finden, bis er 1957 nach Italien zurückkehrte. Roberto Roblino existiert einfach nicht. Es ist, als wäre er mit gut zwanzig Jahren in Madrid vom Himmel gefallen. Darum überraschte mich das so sehr«, sie sah Pallioti an und schüttelte dann den Kopf, »was Sie mir am Sonntag im Restaurant erzählten. Es war der erste Hinweis darauf, dass er tatsächlich dabei gewesen war.«
»Sind Sie mir dorthin gefolgt? Ins Restaurant?«
Eigentlich hatte er eine andere Frage stellen wollen, aber diese hatte sich vorgedrängt. Sie senkte den Blick auf ihren Teller und fuhr mit den Fingerspitzen über die Gabelzinken. Ein Kellner kam herbei und hielt abwartend inne. Pallioti winkte ihn weg.
»Sind Sie mir gefolgt?«, fragte er wieder. »In das Restaurant? Und auch gestern?«
»Irgendwie schon.« Sie sah auf. »Ich habe Ihnen doch erzählt, dass ich ein Häuschen gemietet habe. Es ist in der Nähe des Restaurants. Ich gehe dort viel spazieren. Oben um San Miniato und den Hügel hinunter. Ich habe Sie gesehen. Ich habe gesehen, wie Ihre Gesellschaft ins Restaurant ging. Eigentlich wollte ich Ihnen nicht folgen. Ich ging vorbei. Dann drehte ich um, kehrte zurück, und ja, ich schätze, ich bin Ihnen ins Restaurant gefolgt.«
Pallioti lehnte sich wieder zurück und beobachtete sie.
»Und gestern?«
»Gestern ja.« Sie sah ihn an. »Ja. Da sah ich Sie in ein Taxi steigen, gleich da draußen, auf der Piazza. Also stieg ich auch in ein Taxi und fuhr Ihnen und dieser Frau nach. Hinauf zu der Gedenkstätte für Radio Julia.«
»Warum?«, fragte Pallioti. Er beugte sich vor. »Ich verstehe das nicht, Dottoressa Sachs. Warum verfolgen Sie mich?«
Sie seufzte und senkte den Blick. Ihr dunkler Scheitel war zerzaust. In diesem Moment erinnerte sie ihn geradezu unheimlich an seine Schwester. Als Saffy dreizehn gewesen war und sich der Todestag ihrer Eltern gejährt hatte, war sie aus dem Internat ausgebüxt und von der Polizei in einer Bar in Genua aufgegabelt worden. Es war der einzige Fehltritt, den sie sich je geleistet hatte. Das Gespräch, das er jetzt mit Eleanor Sachs führte, erinnerte ihn schmerzhaft an das Gespräch, das er an jenem Abend mit Seraphina geführt hatte.
»Eben darum«, sagte Eleanor Sachs.
Sogar die Antworten glichen sich.
»Darum? Warum jetzt? Ich verstehe das wirklich nicht, Dottoressa. Was für einen Grund können Sie haben, mich zu verfolgen?«
Heute trug sie kein Make-up, keinen Lippenstift und keine Mascara. Unter dem zerzausten Haar sah ihr bleiches herzförmiges Gesicht gleichzeitig ungeheuer jung und ungeheuer alt aus.
»Es ist derselbe Grund, aus dem ich mich überhaupt an Sie gewandt habe. Ich hatte gehofft, wenn ich in Ihrer Nähe bliebe, wenn ich Ihnen folgen könnte, würden Sie mir vielleicht den Weg zeigen zu …« Sie sah ihn flehend an.
»Il Spettro«, sagte Pallioti. »Sie haben gehofft, dass ich Sie irgendwann zu Il Spettro führen würde. Richtig?«
Sie nickte.
»Weil Sie glauben, dass Il Spettro diese beiden alten Männer ermordet hat? Weswegen? Wegen irgendeiner uralten Partisanen-Vendetta? Und weil Sie glaubten, dass ich mich wie ein Hund auf diese Fährte stürzen würde?«
Eleanor Sachs sah schweigend auf den Tisch.
»Dottoressa.« Pallioti hätte am liebsten die Hand ausgestreckt und ihre ergriffen. »Il Spettro existiert nicht.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Es tut mir leid«, wiederholte er. »Aber er existiert nicht. Es hat ihn nie gegeben.«
»O doch, es gibt ihn«, widersprach sie. »Ich weiß, dass es ihn gibt. Es muss ihn geben.«
»Warum?«
Sie schluckte.
»Weil«, flüsterte sie, »ich glaube, dass er mein Großvater ist.«
Eleanor Sachs hatte ein Taschentuch aus der großen schwarzen Handtasche geholt, die sie über die Stuhllehne gehängt hatte, trocknete sich die Augen und schnäuzte sich abschließend. Pallioti winkte dem Kellner. Er bestellte zwei Grappa. Er wartete ab, bis die kleinen Gläser vor ihnen standen, dann sagte er: »Also gut. Bitte. Warum fangen Sie nicht ganz von vorn an und erzählen mir alles?«
Eleanor Sachs griff nach ihrem Glas. Heute waren ihre Fingernägel perlmuttfarben lackiert. Sie erinnerten Pallioti an die milchigen Schalen winziger Wellhornschnecken. Oder an die Krallen kleiner Kätzchen – halb durchsichtig und unerwartet scharf.
»Ich stamme aus Cleveland. Falls Sie nicht wissen, wo das liegt, es liegt mitten im Nichts.«
»Es hat ein berühmtes Sinfonieorchester.«
Sie lächelte. »So sagt man. Wir haben es nie gesehen. Jedenfalls waren meine Eltern – also nein, mein Vater war Italiener. Meine Mutter verließ uns, als ich noch ein kleines Kind war. Sie heiratete wieder, und ich blieb bei meinem Vater. Und er erzählte mir immer … er erzählte oft von Italien. Vom Krieg und was damals alles passiert war. Vor allem von den Partisanen. Er kannte alle Geschichten. Was sie damals unternommen hatten. Von den Garibaldi-Brigaden und wie sie die Deutschen und die Faschisten bekämpften und welche Fluchtrouten sie eingerichtet hatten. Ständig erzählte er davon. Von dem, was hier passiert ist, in Florenz, und von diesem berühmten Freiheitskämpfer, dem Gespenst – Il Spettro –, das unzählige Menschen aus der Stadt schaffte und das die Deutschen nie erwischen konnten.«
Sie zuckte die Achseln und nahm einen Schluck Grappa.
»Als Kind dachte ich mir nichts weiter dabei. Natürlich nicht. Meine Mom hatte uns verlassen, als ich noch ganz klein war. Ich wuchs also nur mit meinem Dad auf. Er sprach zu Hause immer noch Italienisch, und als ich ans College ging, machte ich darin meinen Abschluss – in italienischer Literatur und Sprache. Dann fielen mir all diese Geschichten wieder ein, und so fragte ich ihn danach, und da erklärte er mir, dass seine Mutter sie ihm erzählt hatte. Ich hatte meine Großeltern nie kennengelernt, sie starben, als ich noch ein Baby war. Aber er erklärte mir, seine Mutter hätte ihm all diese Geschichten über die Partisanen und Florenz und Il Spettro erzählt.«
»Seine Mutter?«
Sie nickte. »Genau. Sie müssen wissen, sein Dad war nicht sein Dad. Ich meine, natürlich war er sein Dad, aber nicht sein leiblicher Vater. Mein Vater hatte das immer gewusst. Meine Großmutter hatte meinen Großvater hier in Italien geheiratet. Mein Großvater – also der Mann, den sie heiratete, ihr Ehemann – arbeitete im Süden bei den Alliierten, und nachdem sie geheiratet hatten, wanderte er mit ihr nach Amerika aus. Damals bekamen viele, die für die Alliierten gearbeitet hatten, die Möglichkeit, amerikanische Staatsbürger zu werden. Aber der Mann, den sie damals heiratete, war nicht der Vater ihres Kindes. Verstehen Sie?« Sie sah ihn an. »Sie hatte das Baby, meinen Dad, schon, bevor sie heirateten. Er war das Kind eines anderen Mannes. Mein Dad hat das nur durch Zufall herausgefunden. Ein alter Freund seines Vaters aus der Army hatte sich verplappert, nachdem mein Großvater gestorben war. Seine Eltern hatten es ihm nie verraten. Ich habe ihn einmal gefragt, warum.« Sie lächelte. »Er meinte damals, wahrscheinlich hätten sie es für bedeutungslos gehalten. Für ihn war sein Dad immer sein richtiger Dad gewesen. Er vergötterte ihn.« Sie spielte am Stiel ihres Glases herum. »Jedenfalls führte mich eigentlich meine Abschlussarbeit hierher.« Sie sah wieder auf, und ein Lächeln spielte um ihre Mundwinkel. »Über Petrarca. Mit, wie Sie richtig festgestellt haben, etwas Dante und Boccaccio als Beilage. Trotzdem musste ich immerzu an die Partisanen und die Geschichten meines Vaters denken, und ich fragte mich, was meine Grandma damals wohl angetrieben hatte. Warum hatte sie meinem Dad all diese Geschichten erzählt, woher wusste sie das alles überhaupt, und noch dazu so detailliert? Es sei denn, sie wusste, wer Il Spettro gewesen war, und hätte einen Grund gehabt, ihm davon zu erzählen.«
Pallioti sah den Sprung kommen. »Sie glaubten also, sie hätte ihm von seinem leiblichen Vater erzählt?«
Eleanor Sachs nickte. »Ich glaube, sie wollte, dass er Bescheid wusste. Gleichzeitig wollte sie ihrem Ehemann oder ihrem Sohn nicht wehtun – sie wollte ihre Beziehung nicht beschädigen. Darum hat sie meinem Vater nie verraten, dass sein Vater nicht sein Vater war. Nichtsdestotrotz sollte er Bescheid wissen, er sollte stolz sein. Auf sich. Auf seine Herkunft. Auf das, was sein Volk geleistet hatte.« Ihr Blick tastete Palliotis Gesicht ab. »Können Sie das verstehen?«, fragte sie. »Können Sie das nachfühlen? Und jetzt, wo er tot ist, wo mein Dad tot ist, möchte ich die Wahrheit erfahren. Mehr noch. Falls mein Großvater noch lebt, will ich ihn kennenlernen.«
»Selbst wenn er zwei Männer ermordet hätte?«
Eleanor nickte. »Selbst wenn er sie getötet hat.« Ihm fiel auf, dass sie den Indikativ verwendete, so, als weigerte sie sich zu hören, was er ihr erklärt hatte. »Das ist mir gleich«, sagte sie. »Wenn er noch lebt, will ich es wissen.«
»Und erklären Sie mir noch mal, wie Sie darauf kamen, dass Il Spettro die beiden umgebracht haben soll.«
Sie zuckte mit den Achseln. »Das weiß ich nicht. Ich nehme an, weil ich angefangen hatte, nach ihm zu suchen. Ich hatte so eine Ahnung. Als würde ich ihm langsam näher kommen. Das hört sich verrückt an, oder?«
Pallioti nahm einen Schluck Grappa und schwieg. Ahnungen hörten sich immer verrückt an. Trotzdem hatte er ständig welche. Ein Kommentar blieb ihm allerdings erspart, denn Eleanor Sachs lachte plötzlich auf.
»Wissen Sie«, sagte sie, »eigentlich kam mir erst beim sechzigsten Jahrestag, als ich bei den Feiern und der Ordensverleihung die vielen alten Männer sah, der Gedanke, dass er noch am Leben sein könnte und dass ich ihn in diesem Fall lieber bald aufspüren sollte. Davor war das Ganze nur ein privates Forschungsprojekt. Sie wissen schon, ein Zeitvertreib, wenn ich die Nase voll hatte vom Mittelalter – so wie, ach, ist das nicht interessant? Es gibt Interviews mit ehemaligen Partisanen«, fuhr sie fort, »man kann sie im Internet finden. Es war eine Art Spiel. So als würde ich auf gut Glück nach Hinweisen suchen.«
Pallioti musterte sie. »Und sind Sie fündig geworden?«
»Nein«, bekannte sie. »Trotzdem stöberte ich in meiner Freizeit immer weiter. Ich begann, alles zu sammeln, was ich über Il Spettro erfuhr. Alle möglichen Geschichten. Eigentlich sind es eher Legenden. Einige davon sind wirklich ziemlich weit hergeholt. Versteckspiele mit den Nazis. Und dann …« Sie zuckte mit den Achseln. »Ganz ehrlich? Mein Mann hat recht. Es wurde zur Obsession. Mein Dad wurde krank. Ich zeichnete die Ordensverleihung im Fernsehen auf. Immer und immer wieder sah ich sie mir an, um festzustellen, ob einer dieser alten Männer mir ähnlich sah. Oder meinem Dad.« Sie spielte wieder mit ihrem Glas. »Wahrscheinlich dachte ich, es wäre wirklich fantastisch, wenn ich vor seinem Tod seinen Vater aufspüren würde.« Sie schüttelte den Kopf. »Natürlich konnte ich das nicht. Aber danach konnte ich nicht wieder aufhören.« Sie trank ihren Grappa aus und ließ die Hände auf den Tisch sinken. »Die ganze Sache hätte um ein Haar meine Ehe zerstört. Mein Mann findet das alles lächerlich. Für eine erwachsene Frau.«
Erst jetzt fiel Pallioti der weiße Streifen an ihrer linken Hand auf, der Abdruck in der Haut, wo man normalerweise den Ehering trug.
»Ich schätze, ihr Europäer tut so etwas nicht«, sagte sie. »Irgendwie ist das eine amerikanische Leidenschaft, nicht wahr? Die Ahnenforschung.« Sie holte tief Luft. »Wahrscheinlich ein Vermächtnis unserer Vergangenheit als Schmelztiegel. Dass wir unbedingt wissen wollen, wer wir sind. Als würde das etwas ändern. Jedenfalls«, sie lächelte, »habe ich mich damit zum Narren gemacht. Ich schreibe tatsächlich ein Buch«, erklärte sie dann. »Wirklich. Und es handelt von den Partisanen.«
Pallioti nickte.
Eleanor Sachs lachte wieder. »Glauben Sie mir?«, fragte sie dann.
»Ja«, sagte er. Und das stimmte. Obwohl vieles auf das Gegenteil hindeutete, obwohl in der riesigen Umhängetasche, die sie ständig herumschleppte, problemlos mehrere Pfund Salz und ein kleines Maschinengewehr Platz gefunden hätten, obwohl sie ihn verfolgt und ihn dreist angelogen hatte, glaubte er ihr tatsächlich. Jetzt. Er leerte sein Glas und winkte nach der Rechnung. Die Gäste zum Mittagessen drängten herein.
»Sie sollten wissen«, erläuterte Pallioti, »dass wir zurzeit in eine ganz andere Richtung ermitteln. Anscheinend hat die Sache gar nichts mit irgendwelchen Partisanen zu tun.«
»Also keine Geisterjagd, wie?« Eleanor Sachs versuchte, fröhlich zu klingen, aber Pallioti bezweifelte, dass sie ihm glaubte. Obsessionen waren seiner Erfahrung nach nicht so leicht klein- oder gar totzukriegen.
»Ich wüsste etwas, was wir tun könnten«, sagte er.
Sie sah auf und zog die Brauen hoch.
»Es ist ein ganz unschuldiger Vorschlag, Signora. Wir könnten eine Vereinbarung treffen.«
»Eine Vereinbarung?«
»Ja. Wenn Sie mir versprechen, mich nicht mehr zu verfolgen – was Ihnen ohnehin nichts bringen wird, glauben Sie mir –, dann verspreche ich im Gegenzug, dass ich Ihnen sofort Bescheid gebe, falls ich etwas herausfinde, was Sie eventuell zu Il Spettro führen könnte oder was darauf hinweist, dass er je existiert hat.« Er sah sie an und streckte die Hand aus. »Abgemacht?«
Eleanor Sachs schien kurz zu überlegen. Dann ergriff sie seine Hand.
»Abgemacht«, sagte sie.