11. Kapitel
8. Januar 1944
Weihnachten war so traurig und still und so einsam, dass ich das Fest beinahe vergessen hätte. Ich war fast den ganzen Tag im Krankenhaus, wo ich inzwischen mehr oder weniger lebe und mich, wann immer ich kann, zum Schlafen in meine kleine Totenkammer zurückziehe. Wenn die Tür zu ist, lässt sich nicht mehr sagen, ob es draußen Tag oder Nacht ist, und manchmal verliere ich wirklich den Überblick. Am schlimmsten ist, dass sich meine Träume nicht mehr um Lodo drehen. Auch seine Stimme höre ich nicht mehr. Stattdessen bin ich dazu verdammt, Nacht für Nacht von Neuem zu durchleben, was ich getan habe. Ich träume von Dieters Lippen. Ich träume vom kalten Schnee. Von seinem schweren Atem. Von seinen Händen auf meinem Körper. Trotzdem sehe ich in diesen Träumen nie sein Gesicht. Stattdessen sehe ich das Gesicht der jungen Frau, die auf dem Boden des Krankenwagens sitzt, ihr kleines Mädchen in den Armen hält und mich mit Todesangst in den Augen anlächelt.
Il Corvo bin ich seitdem nicht mehr begegnet, und seit jener Nacht musste ich auch nicht mehr durch die Straßensperre. Es war Gott sei Dank die letzte Fahrt im Krankenwagen. Wenigstens bis im Frühjahr der Schnee geschmolzen ist. Und wer weiß, wo wir dann alle sein werden. Oder ob wir dann noch am Leben sind.
Issa ist wieder in der Stadt. Sie wohnt nicht zu Hause, aber ich weiß, dass sie Mama und Papa besuchen kommt. Ich weiß das nicht, weil sie es mir erzählt hat oder weil sie etwas gesagt hätten, sondern weil unsere Lebensmittelkarten verschwunden sind, wenn sie da war. Und, so gut wie jedes zweite Mal, ein paar von meinen Kleidern. Selbst eine meiner Ersatzuniformen ist weg. Ich weiß zwar nicht, was Issa vorhat, aber die kommt ihr bestimmt zupass. Carlo und Rico halten sich ebenfalls irgendwo in der Stadt auf. Allerdings habe ich keinen von den dreien gesehen. Ich weiß, dass das so sein muss, trotzdem sehne ich mich danach, Ricos Stimme zu hören. Es würde mich nicht einmal stören, wenn er mich wie früher herumkommandieren würde, solange ich nur nicht mehr das Gefühl hätte, dass alles in Scherben liegt. Aber ich weiß, dass das nur Hirngespinste sind. Es kann keine »Höflichkeitsbesuche« geben. Seit dem fünfundzwanzigsten November, an dem die »Amnestie« für die italienischen Truppen offiziell auslief, sind sie auf der Flucht. Vor den Deutschen, vor den Faschisten, vor jedem. Sie können als Deserteure oder Partisanen oder »feindliche Kämpfer« erschossen werden. Was für eine Auswahl.
Issa sagt, sie würden so gut wie jede Nacht woanders schlafen, und ich habe sie natürlich nicht gefragt, wo. Inzwischen lebt jeder von uns in seiner abgekapselten kleinen Welt und weiß nur noch das, was er wissen muss. Niemand spricht es je aus, aber uns allen ist bewusst, dass diese Ahnungslosigkeit, was das Leben unserer Mitmenschen betrifft, ein perverses Geschenk ist – es ist unser einziger Schutz. So können wir, wenn wir verhaftet werden, die Hände heben und aufrichtig erklären: »Ich weiß nichts, ich weiß nichts, ich weiß nichts.« Uns gegenseitig dreimal verleugnen, bevor der Hahn kräht.
Darum ist es auch richtig, dass ich nicht einmal Issas Namen kenne – jenen Namen, mit dem ihre Kameraden sie ansprechen, wenn sie dorthin verschwindet, wo für mich inzwischen »ihr anderes Leben« ist. Den Winter über sind sie alle aus den Bergen heruntergekommen, um mit den GAP zusammenzuarbeiten. Den Gruppi di Azione Patriottica. Issa spricht die Bezeichnung genauso aus wie Carlos Namen, so als wäre die Gruppe ihr zweiter Liebhaber. Die GAP, behauptet sie, werden »den Kampf zum Feind tragen«. Sie hat mir nicht erzählt – und auch das habe ich sie nicht gefragt –, wie das zu verstehen ist, trotzdem kann ich es mir vorstellen. Vergangenen Monat wurde der Führer der faschistischen Partei in Ferrara ermordet. Sein Leichnam lag auf einer Straße außerhalb der Stadt.
Bestimmt war das ein Triumph für sie. Aber falls wir in den vergangenen Monaten etwas gelernt haben, dann, dass alles seinen Preis hat. Zucker. Tee. Brot. Ein Menschenleben. Ferrara, hat sich herausgestellt, ist ein teures Pflaster. Am nächsten Tag wählten die Fascistoni willkürlich elf Menschen aus, verhafteten sie, führten sie an die Burgmauer und erschossen sie. Die Leichen blieben liegen, bis der Erzbischof den Anblick vor seinem Fenster nicht mehr ertrug und befahl, sie zu beerdigen.
Auch davon träume ich oft – von Leichen. Sie liegen im Schnee. Sie blicken mit aufgerissenen, toten Augen und einem Clownslächeln in die Sonne auf. Jeder von uns hat inzwischen genug getan, um bei ihnen zu liegen.
Aber nicht nur Kugeln können töten. Die lang gefürchtete Grippewelle hat uns inzwischen erreicht wie ein unerbetener Weihnachtsbesuch. Die Grippe scheint nicht so gefährlich zu sein, wie wir befürchtet hatten, aber sie findet reiche Beute unter den Alten, den Schwachen und Hungrigen. Und davon gibt es weiß Gott mehr als genug. Im Krankenhaus haben wir noch zu essen, und zu Hause können sich Mama und Papa über den Schwarzmarkt versorgen. Andere haben da nicht so viel Glück. Die Lebensmittelkarten reichen nicht weit, vor allem bei dieser Kälte, und ohne Heizöl oder Kohle werden genug Menschen sterben, ohne dass es dazu eine Lungenentzündung oder Grippe braucht. An Heiligabend wurde ein Mädchen eingeliefert, das mich so sehr an Issa erinnerte, dass ich es im ersten Moment für meine Schwester hielt. Dann schaute ich ihm ins Gesicht und sah Issa, aber auch keine Issa – eine Issa mit erloschener Flamme.
Das Mädchen heißt Donata Leone. Auf den ersten Blick wirkt sie nicht so schrecklich krank, trotzdem hat sich der Tod in ihren Gesichtszügen eingenistet. Sie kommt aus Genua. Ihre Familie wurde ausgebombt, und alle außer ihr sind gestorben – sie wurde nur gerettet, weil sie nicht zu Hause war. Sie floh nach Florenz, weil sie hier Arbeit zu finden hoffte und weil sie die Stadt für sicher hielt. Und jetzt wird auch sie sterben, und sie weiß es. Am Weihnachtsmorgen saß ich bei ihr. Ich hielt ihre Hand, während wir beide den Glocken lauschten.
Nicht lang danach kam die Oberschwester vorbei, rief mich zu sich und befahl mir, nach Hause zu gehen. Als ich sagte, ich würde gern freiwillig länger bleiben, schaute sie mich lange streng an. Ich weiß nicht, welche Farbe ihr Haar hat, ob es hell oder dunkel oder am Ende schlohweiß ist. Aber ihre Augen sind fast schwarz und glänzen hart wie nasse Steine.
»Signorina Cammaccio«, tadelte sie mich. »Sie gehen jetzt heim zu Ihren Eltern. Es ist Weihnachten.«
Und so ging ich heim.
Draußen kam ich mir verloren vor. Inzwischen bin ich die Krankenhausmauern gewohnt. Meine winzige Kammer und die Pritsche. Die Stadt kommt mir gleichzeitig zu verwinkelt und zu groß vor. Ich kann dort nicht absehen, was mich als Nächstes erwartet.
In letzter Zeit hat es kaum geschneit, aber die Straßen sind vereist. Darum ließ ich mein Fahrrad im Krankenhausschuppen stehen und ging zu Fuß. Es war kurz vor Mittag, alle waren zu Hause. Mir begegneten noch einige Passanten, aber auf den Plätzen waren nur noch deutsche Soldaten zu sehen. Einige Cafés und Restaurants hatten geöffnet, und die Soldaten kamen und gingen in Trauben. In ihren grauen und schwarzen Uniformen wirken sie wie Tauben und Krähen, deren keckerndes Lachen in der Kälte zersplittert.
Und dann entdeckte ich ihn, in einer Gruppe von fünf oder sechs Kameraden – Dieter.
Er sah mich im selben Moment. Er fuhr herum, als hätte ich an einem Faden geruckt. Seine Augen wurden groß. Er hatte bereits gelächelt und über einen Witz gelacht, aber jetzt erstrahlte ein ganz anderes Lächeln auf seinem Gesicht. Seine Hand hob sich, und sein Mund ging auf, als wollte er mich zu sich rufen.
Ich rannte los.
Ich verstieß gegen alle Regeln, die Issa mir eingeschärft hatte. Ich stürzte, so schnell ich konnte, in eine Gasse, wo ich prompt ausrutschte. Ich drehte mich um und sah, wie er mir nachschaute. Dann rappelte ich mich auf dem Eis wieder hoch, krallte mich am kalten Mauerwerk ein, um das Gleichgewicht zu halten, und rannte weiter, dem Fluss zu, obwohl ich sicher war, dass ich hörte, wie er meinen Namen durch die Straßen rief.
Issa erschien am selben Abend, nach Einbruch der Dunkelheit und scheinbar aus dem Nichts. Sie brachte Geschenke mit – für Papa eine Pfeife, die sie weiß Gott wo besorgt hatte, eine kleine perlenbestickte Tasche für Mama und eine Haarklammer für mich. Ich fragte sie nicht, woher sie stammte. Für sie hatte ich eine Brosche – eine winzige emaillierte Hummel, die Papa mir vor Jahren geschenkt hatte. Als wir noch klein waren, hatte Issa sie einmal aus meinem Schmuckkästchen gestohlen. Als ich sie ihr gab, ließ sie die Brosche in ihrer Hand liegen und sah mich dann an. »Bist du sicher?«, fragte sie.
Ich nickte, und sie schloss lächelnd ihre Hand.
Danach spielten wir im Wohnzimmer Karten und taten so, als würden wir uns amüsieren, bis wir das Radio anstellten und hörten, dass sowohl Pisa als auch Pistoia bombardiert worden waren. Schließlich erklärte ich, dass ich müde sei, ließ die anderen unten sitzen und ging nach oben.
Ich saß gerade an meinem Frisiertisch und bürstete mein Haar, als die Tür aufging und Issa hereinschlüpfte. Ich hatte nicht gehört, wie sie die Treppe heraufgekommen oder durch den Flur geschlichen war. Sie setzte sich ans Fußende meines Betts. Ich sah sie im Spiegel an. Sie hatte die Hummelbrosche an ihrem Aufschlag angebracht. Wir haben nie über jene Nacht in Fiesole gesprochen, sie hat nie gefragt, warum ich nicht im Krankenwagen saß, als er in den Schuppen zurücksetzte, und ich weiß nicht, wie viel Il Corvo ihr erzählt oder was sie sich zusammengereimt hat.
Als ich sie im Spiegel ansah, klappte mein Mund auf. Ich spürte, wie die Worte herausdrängten, wie sie sich endlich Luft machen wollten. Ich war kurz davor, ihr alles zu erzählen – von Dieter und davon, was ich getan hatte, und dass ich meinte, ihn heute gesehen und ihn rufen gehört zu haben –, als sie vom Bett aufstand und meinen Kleiderschrank öffnete. Eine Hand an der offenen Tür, stand sie dort und schaute auf die leere Stange. Dann sagte sie: »Wo ist dein Hochzeitskleid?«
Ich zuckte mit den Achseln. »Ich habe es weggepackt.«
Sie sah mich an. Dann drückte sie die Schranktür wieder zu. Sie kam zu mir. »Rutsch rüber.« Sie schubste mich sanft und setzte sich dann ans Ende der Frisierbank. Einige Sekunden lang blickten wir in unsere Spiegelbilder. Dann streckte Issa die Hand aus, nahm mir die Bürste ab und begann, mein Haar zu bürsten. »Es ist viel schöner als meins«, sagte sie. »Wie schwarze Seide.«
Das war Unfug. Niemand hat so schönes Haar wie Issa. Ich wollte das schon sagen, aber ich konnte es nicht. Im Spiegel sah ich Tränen über meine Wangen fließen.
»Habt ihr sie rausgebracht?«, fragte ich schließlich. »Die Familie? Mit den beiden Jungen und das Mädchen mit dem Kleinkind?«
Issa nickte. Sie bürstete weiter, einen Strich nach dem anderen.
»Alle? Werden sie es schaffen?«
»Ja«, sagte sie. Dann legte sie die Bürste weg und nahm mich in die Arme. »Er ist am Leben«, flüsterte sie. Ich spürte ihre Lippen an meinem Ohr. »Cati, Lodovico ist noch am Leben. Ich kann es spüren.«
Ich hob die Hand und legte sie auf ihre. Dann drückte ich, so fest ich konnte. Und schloss die Augen. Tränen sickerten unter meinen Lidern hervor, liefen mir über die Wangen und vermischten sich mit Issas Atem, der so warm und ruhig ging wie der langsame Schlag ihres Herzens.
Neujahr kam und ging, ohne dass wir gefeiert hätten. Ich versuchte es nach bestem Vermögen zu ignorieren, aber vergebens. Vor einem Jahr hat Lodovico mich gefragt, ob ich ihn heiraten würde. Er ging mit mir ins Excelsior. Wir tanzten. Als er mir den Ring gab, sank er auf ein Knie und fragte mich, ob ich ihm »die Ehre erweisen« würde, seine Frau zu werden. Die Gäste am nächsten und übernächsten Tisch klatschten, als ich »Ja« sagte.
Was würde ich wohl sagen, wenn ich ihn jetzt sähe?
Ich weiß beim besten Willen keine Antwort darauf. Darum habe ich den Morgen damit verbracht, möglichst nicht an ihn zu denken und stattdessen die Laken zu flicken – eingeschlossen in meiner Kammer, wo ich gestopft und genäht und auf Schritte vor der Tür gelauscht habe –, während ich mir gleichzeitig alle Mühe gab, mich nicht zu fragen, wie all das geschehen konnte. Wie unsere Welt so auf den Kopf gestellt werden konnte. Immer wieder geht mir durch den Kopf, wie wir letzten Sommer alles verspielten – wie wir alle Gelegenheiten ungenutzt verstreichen ließen. Wie wir nicht aus Florenz weggezogen sind und wie Italien nichts unternahm, um die Deutschen außer Landes zu halten. Wir blieben einfach sitzen, wie selbstzufriedene Kinder, so stolz und eitel, nur weil wir die Faschisten losgeworden waren, dass wir tatsächlich glaubten, jetzt würde Friede herrschen.
Je länger ich darüber nachdachte, desto wütender wurde ich, bis ich mir mehrmals in den Daumen stach und schließlich die Arbeit unterbrechen musste, um nach einem Fingerhut zu suchen.
Donata Leone ist inzwischen nicht mehr ganz so schwach und kann gut nähen. Als ich schließlich einen Fingerhut aufgetrieben und wieder zu flicken angefangen hatte, setzte sie sich zu mir neben den Ofen am Ende der Krankenstation, wo wir schweigend nebeneinander Laken nähten und die Nadeln aufblitzen ließen wie zwei alte Frauen auf ihrer Türschwelle. Von Zeit zu Zeit erzählte sie von ihren Angehörigen in Genua, die alle gestorben sind. Daneben wirken mein Groll und mein Selbstmitleid lächerlich.
Ich ermahnte mich, dass wir immerhin noch alle am Leben sind – und zudem ein Heim und eine Familie haben –, und so fuhr ich am Abend des Befana-Festes nach Hause. Aber wie alles andere wurde auch dieses Fest auf den Kopf gestellt. Weil Enrico zu Hause war und ich, statt mich über das unerwartete Wiedersehen zu freuen, zum ersten Mal seit unserer Kinderzeit mit ihm stritt. Ich hatte ihn seit Monaten nicht mehr gesehen – und was tat ich? Ich zeterte wie ein altes Fischweib. Ich hätte ihn geschlagen, wenn Papa mich nicht zurückgehalten hätte.
Eigentlich will ich es gar nicht aufschreiben, aber ich muss. Während meines Nähanfalls öffnete ich auch einen Saum in meiner Jacke und nähte eine kleine Geheimtasche für dieses Buch ein – damit es niemand entdeckt und damit ich es immer bei mir tragen kann, versteckt und dicht an meiner Haut, fast wie ein härenes Hemd. Das Schreiben ist mir zu einer Art Buße geworden. Worte wie Peitschenhiebe, die erst aufhören, wenn das Blut fließt.
Als wir noch Kinder waren, bekamen wir am sechsten Januar immer die Geschenke und teilten unsere aus – und jedes Mal rannten wir nachts in den Garten und hielten Ausschau nach dem Stern, der nie wirklich direkt über uns leuchtete. Also glaubte ich, dass Enrico heimgekommen war, um uns mit seinem Besuch zu segnen wie einer der Heiligen Drei Könige. Aber das war es nicht, das erkannte ich, sobald ich ihnen ins Gesicht sah, Mama, Papa und Rico. Sie saßen zu dritt am Küchentisch, als ich eintrat. Issa war nicht dabei.
Ich hatte ihn nicht einmal geküsst oder auch nur begrüßt oder ihn gefragt, wie es ihm ging. Ich hatte immer noch den Mantel an. Meine Finger hielten im Knöpfen inne.
»Was ist denn?«, fragte ich. »Was ist los? Was ist passiert?«
Ich spürte, wie der Boden unter meinen Füßen ins Wanken geriet. Ich glaubte, sie würden mir gleich eröffnen, dass Issa gestorben war. Oder dass jemand endlich von Lodovico gehört hatte und dass er gefallen oder in Gefangenschaft war. Aber es war etwas ganz anderes.
Schließlich stand Papa auf und zog einen Stuhl heraus.
»Setz dich, Cati«, sagte er. Dann drehte er sich um, lächelte und klatschte in die Hände. »Ich habe bestimmt noch irgendwas«, sagte er, »im Keller. Sollten wir nicht anstoßen? Zur Feier des Tages?«
Ich wollte schon fragen: »Was gibt es zu feiern?« Dann sah ich stattdessen Rico an.
Im ersten Moment wich er meinem Blick aus. Er sah angestrengt auf seine Hände – die inzwischen schmutzig und rissig sind. Als er schließlich den Kopf hob, als sein Blick nach oben ging und auf meinen traf, wusste ich Bescheid.
Ich stand so wütend auf, dass ich um ein Haar den Stuhl umgestoßen hätte.
»Issa hat es mir versprochen.« Ich hörte, wie meine Stimme anstieg, wie sie lauter und schriller wurde. »Sie hat es mir versprochen«, wiederholte ich vergeblich, als würde das etwas bedeuten. »Sie hat es geschworen! Auf der Brücke. Ich habe sie schwören lassen, dass nie wieder … Nicht hier. Nicht in diesem Haus …«
Ich wusste nicht, worum es ging. Ich wusste nicht, ob sich wieder Kriegsgefangene im Keller oder auf dem Speicher versteckten – aber ich wusste, sobald Rico mich ansah, dass er nur deswegen gekommen war. Nicht wegen der Befana. Nicht wegen der Geschenke.
Mama stand schließlich auf und nahm mich an den Schultern.
»Cati«, sagte sie. »Bitte, Cati.«
Ihr Blick zwang mich zurück auf meinen Stuhl. Wie betäubt blieb ich sitzen, während Gläser geholt wurden und Papa eine Flasche öffnete und wir alle uns mit erhobenem Glas zuprosteten. Salute. Ich trank sogar, ich leerte mein Glas in einem einzigen Schluck, auch wenn ich nicht mehr weiß, was darin war. Dann klärten sie mich auf.
Es ging weder um Kriegsgefangene noch um Flüchtlinge. Sondern um ein Radio. Aber nicht irgendein Radio. Sondern um ein ganz besonderes amerikanisches Funkgerät. Die Amerikaner lassen sie per Fallschirm den Partisanen zukommen. Die Übertragungen aus England sind zu unzuverlässig und zu langsam, als dass sie dem alliierten Kommando im Süden helfen könnten. Die Truppen stecken fest, sie sitzen im Lirital bei Monte Cassino, aber bald kommt der Frühling, und sie werden Informationen brauchen, wenn sie zum Durchbruch ansetzen. Informationen über die Deutschen – alles, was wir in Erfahrung bringen können –, hauptsächlich über ihre Truppenstärken. Und die Standorte der Munitionslager. Die Soldaten und Panzer, wie viele es sind, zu welcher Division sie gehören und in welche Richtung sie sich bewegen. Vor allem aber wollen sie wissen, wo die Stadt befestigt und vermint wurde. Dieses Wissen ist entscheidend für »die Befreiung«.
Ich sah Mama an, doch die wich meinem Blick aus. Sie senkte den Kopf und spielte am Stiel ihres Glases herum.
»Papa?«, fragte ich.
Mein Vater sieht in letzter Zeit unendlich müde aus. Manchmal erinnern nur die großen blauen Augen hinter den Brillengläsern an den Mann von früher.
»Sie brauchen unsere Hilfe, Cati.« Er legte seine Hand auf meine. »Wir sollten uns freuen, dass wir ihnen helfen können.«
Ich wollte mich aber nicht freuen. Ich dachte an die Züge, an die Hände, die sich zwischen den Latten durchzwängten, an die Menschen, die vor dem Krankenhaus abgeladen werden, nachdem sie Besuch von der Banda Carita bekommen haben.
Enrico wandte sich an mich. »Cati«, sagte er. »Es ist unsere Pflicht.«
Genau dieser Satz, diese Worte aus seinem Mund – »unsere Pflicht« – ließen mich auffahren.
Ich sprang von meinem Stuhl auf. Ich erklärte ihm, dass ich jeden Tag meine Pflicht tat – dass wir hier unten in der Stadt sogar unsere Pflicht erfüllten, wenn wir aßen, tranken oder schliefen, und dass er selbstsüchtig sei, weil wir drei – Mama und Papa und ich – hier zum Abschuss freigegeben waren, während er in den Bergen umherzog und Soldat spielte. Ich fragte ihn, ob er wirklich so dumm sei – ob er das wirklich nicht begreife? Dass wir und nicht er verhaftet würden, dass wir und nicht er in die Villa Triste verschleppt würden. Dass wir und nicht er tot im Schnee liegen würden, wenn die Deutschen das Funkgerät aufspürten. Ich schrie meinen Bruder an, dass er nicht besser war als Mussolini oder Mario Carita oder die SS oder die alliierten Bomber – dass er uns genauso in Lebensgefahr brachte.
Papa musste mich festhalten, sonst hätte ich ihn geschlagen.
Aber natürlich erreichte ich damit gar nichts.
Ich hatte es vom ersten Moment an in Ricos Gesicht gesehen. Und in Mamas. Ich hatte es an Papas Berührung gespürt, an seinem Klatschen gehört.
Salute!
Die Entscheidung war gefallen, bevor ich auch nur die Küche betreten hatte. Als wir unsere Gläser erhoben hatten, tranken wir damit auf das neueste Mitglied unserer Familie. Sie heißt JULIA.