30. Kapitel
Wenn mich im Januar oder Februar jemand fragen würde, ob ich vorhabe, den Rest meines Lebens im Nordosten Ohios zu verbringen – oder überhaupt irgendwo im Mittleren Westen –, würde ich antworten: Um Himmels willen, nein! Bist du verrückt? Würde mir die gleiche Frage an einem Abend wie diesem gestellt, wenn eine leichte Brise wie Seide über die Haut streicht, die Frösche, Grillen und die letzten Vögel ihre Abendserenaden anstimmen und der blassgelbe Mond im Osten hinter den Baumkronen auftaucht, würde ich sagen: Warum sollte ich jemals woanders leben wollen? Abende wie diese belohnen einen für die langen Winter.
Ich sitze in der Dämmerung auf dem kleinen Anlegesteg im Gartenstuhl und blicke hinaus über den Teich. Auf der ganzen Welt gibt es keinen Ort, wo ich jetzt lieber wäre. Libellen und Glühwürmchen schwirren über die Rohrkolben, eine Schildkröte döst auf einem Felsen am Ufer. In der Pappel an der Nordseite des Teichs beklagt ein Kardinal das Ende des Tages. Auf der Kühlbox stehen ein Glas Eistee und eine Citronella-Duftkerze, innen drin ist ein kalter Sixpack Killian’s Irish Red. Ich hab die Angelruten aus Bambus mitgebracht, beide ausgestattet mit rotweißen Schwimmern. Für den – eher unwahrscheinlichen – Fall, dass Tomasetti mit seiner Wurftechnik angeben und den großen Barsch fangen will, der ihn seit Wochen an der Nase herumführt, liegt seine Angel zusammen mit einem Blinker, der ihn garantiert anlockt, am Rand des Steges.
»Du hast wohl schon ohne mich angefangen.«
Beim Klang von Tomasettis Stimme schrecke ich hoch, drehe mich um und sehe, dass er mit großen Schritten angelaufen kommt, den Blick fest auf mich gerichtet. Er sorgt sich um mich, denke ich. Aber das soll ich nicht sehen und sage deshalb nichts. Er trägt noch seine Arbeitskleidung: Hemd und Hose sind etwas verknittert, die Krawatte – das letzte Mal in Columbus bei Milano, einem Herrenausstatter, gekauft – hängt schief. Ich war also nicht die Einzige, die einen langen Tag gehabt hat.
»Hast du Köder mitgebracht?«, frage ich.
»Natürlich.« Er hält eine Box hoch, die denen von chinesischem Essen-to-go verblüffend ähnlich sieht. »Riesen-Rotwürmer.« Er grinst. »Es gibt nichts Besseres, um nachts Barsche zu fangen.«
»Heißt das, wir angeln die ganze Nacht?«
»Könnten wir.«
»Und morgen machen wir blau?«
»Das ist die beste Idee in der ganzen Woche.«
Ich stehe auf, öffne die Kühlbox und reiche ihm ein Bier. »Du siehst aus, als könntest du eins gebrauchen.«
»So ist es.« Er nimmt das Bier.
Ich sehe, wie er mein verbundenes Handgelenk betrachtet, was mich verlegen macht. »Ich glaube, der Große gehört heute dir.«
»Hoffen wir mal, dass er heute Abend hungrig und unvorsichtig ist.« Er stellt das Bier ungeöffnet auf die Kühlbox. »Kate.«
Bevor ich etwas sagen kann, ist er bei mir und nimmt mich in die Arme. »Ich bin so froh, dass dir nichts passiert ist«, sagt er und drückt mich fest an sich.
»Ich auch.«
»Wie geht’s deinem Handgelenk?«
Ich presse mein Gesicht in sein Hemd, sauge seinen Duft ein und seufze. »Tut teuflisch weh.«
»Dass du Mitleid heischen wirst, war klar.«
»Du hast mich wieder voll durchschaut.«
»Gebrochen?«
»Du weißt doch inzwischen, dass ich keine halben Sachen mache.«
Er lehnt den Oberkörper zurück, um mir in die Augen sehen zu können. Einen Moment lang weiche ich seinem Blick aus, dann schaue ich ihn an.
»War es schlimm heute?«, fragt er.
»Ja.«
»Und was willst du vor mir verheimlichen?«
Ich hatte mir geschworen, nicht zu weinen, doch jetzt brennen mir Tränen in den Augen. »Ich hab das Baby verloren.«
Niemand sonst, den ich kenne, kann sich so gut beherrschen wie John Tomasetti. Aber jetzt durchfährt ihn ein Schauder, der auch über sein Gesicht huscht. Überraschung, Sorge, kurz aufscheinender Schmerz.
»O Kate«, stößt er aus, halb Seufzer, halb Stöhnen. »Das tut mir so leid … Was ist passiert?«
»Der Arzt konnte es nicht mit Gewissheit sagen. Vielleicht das Trauma. Ich bin fast vier Meter tief gefallen.« Ich zucke die Schultern. »Ich weiß nicht. Manchmal hat man eine Fehlgeburt, ohne jemals zu wissen warum.«
Er wendet den Blick ab, doch den Schmerz in seinem Gesicht, offen und roh wie eine Wunde, habe ich trotzdem gesehen. »Bist du sicher?«
»Der Arzt in der Notaufnahme hat meine Hormonwerte überprüft. Er musste ja mein Handgelenk röntgen … eine CT machen … die Hormonwerte sind abgesunken …«
»Bist du bewusstlos gewesen? Ich meine, nach dem Sturz?«
Ich nicke. »Ich glaube schon. Nur ein paar Sekunden.«
»Vermutlich hast du nur vergessen, mir das zu erzählen«, sagt er trocken.
»Ich wollte nicht, dass du dir Sorgen machst.«
»Hast du eine Gehirnerschütterung?«
»Nein.«
Er zwinkert heftig, dann schließt er die Augen.
»Und du bist wirklich in Ordnung?«
»Mir geht’s gut. Die CT war normal, und außer dem gebrochenen Handgelenk …«
Doch wir beide wissen, dass der Schmerz eines gebrochenen Knochens nichts ist im Vergleich zu dem Verlust von etwas so Wertvollem.
Er nimmt mich wieder in die Arme und zieht mich an sich. Seine Lippen streichen über meine Schläfe, ich spüre seinen warmen Atem auf meinem Gesicht. Tränen auf meiner Wange. Ob es meine eigenen sind oder seine, weiß ich nicht.
»Tomasetti, eigentlich waren wir noch gar nicht so weit, ein Kind in diese Welt zu setzen.«
»Ich weiß.«
»Und warum tut es dann trotzdem so weh?«, flüstere ich.
Eine ganze Minute lang antwortet er nicht, hält mich nur an sich gedrückt, so fest, dass ich seinen Herzschlag spüre und das rhythmische Aus und Ein seines Atems. Ich spüre die Anspannung seiner Schultern, das leichte Beben unter meinen Händen.
»Wenn du ein Kind liebst«, sagt er langsam, »bist du deinem Herzen schutzlos ausgeliefert.«
»Ich hab keine Ahnung, was es heißt, ein Kind großzuziehen.«
»Irgendwie hätten wir uns durchgewurstelt.«
Ich lächele, doch meine Wangen sind nass, und tausend weitere Tränen drängen hinaus. »Tomasetti, es war unser Eigenes, unschuldig und kostbar und gut. Wir hatten ein neues Leben geschaffen, selbst wenn wir noch nicht bereit dafür waren … ich wollte es nicht verlieren.«
»Ich weiß. Ich auch nicht.« Er entzieht sich meiner Umarmung und blickt auf mich hinab. Zum ersten Mal sehe ich Tränen in seinem Gesicht. »Wir hätten es hingekriegt, Kate, und wir hätten es gut gemacht. Aber ich hatte auch Angst. Diese Art von Liebe … mein Gott, sie beherrscht dein Leben. Ich war nicht sicher, ob ich den Mut haben würde, noch einmal so schutzlos zu sein.« Er verzieht das Gesicht, sucht nach den richtigen Worten. »Aber ich hatte ihn«, flüstert er schließlich. »Ich hatte den Mut.«
Ich umfasse sein Gesicht mit den Händen, ziehe es zu mir und küsse ihn, schmecke das Salz auf seinen Lippen. »Es tut mir so leid.«
Er richtet sich auf, sieht mich ernst an. »Es war nicht deine Schuld.«
»Wenn ich nicht auf den Speicher gegangen wäre …« Ich zucke die Schultern. »Wenn ich auf Skid und Glock gewartet hätte, dass sie das übernehmen … Wenn ich nicht versucht hätte, alles selbst zu machen. Wenn ich nicht gefallen wäre. Wenn ich keine Polizistin wäre –«
»Kate, hör auf.« Er tritt zurück, fährt mit den Händen von meinen Schultern zu den Oberarmen und drückt sie sanft. »Nichts von dem kannst du mit absoluter Sicherheit wissen. Du kannst dir nicht für etwas die Schuld geben, das vielleicht trotzdem passiert wäre.«
»Du hattest gesagt, ich sollte nicht länger Polizistin sein. Vielleicht hattest du recht.«
»Aber vielleicht war ich auch ein anmaßendes Arschloch.«
Ich lache auf, und der Druck auf meiner Brust lässt ein wenig nach.
Er schenkt mir ein kleines Lächeln. »Und? Kein Widerwort?«
»Tja …«
Wir schweigen, versuchen nicht zu viel zu denken und zu fühlen, doch es gelingt uns nicht.
»Und wir, ist zwischen uns alles in Ordnung?«
»Alles ist gut.«
»Und wie sieht die Zukunft aus?«
Er hebt die Hand und wischt mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Sein Blick sucht meinen, seine Knöchel verweilen an meiner Wange. »Ist vielleicht keine schlechte Idee, den Stubenwagen zu behalten. Nur für den Fall, meine ich.«
»Er ist wirklich wunderschön. Einzigartig …«
»Und alt. Ein bisschen wie ich.« Sein Blick durchdringt mich, als er den Spruch an der Unterseite des Wagens zitiert: »Ein Kind ist die einzige Kostbarkeit, die man mit in den Himmel nehmen kann.«
»Das gefällt mir.« Wieder steigen mir Tränen in die Augen und rollen meine Wangen hinab. »Und ich finde es toll, dass du ihn dir gemerkt hast.«
»Der Spruch ist vielleicht amisch, aber ich kenne ihn trotzdem schon lange.«
Ich stelle mich auf die Zehenspitzen und drücke ihm einen Kuss auf die Wange. Dann wische ich mir die Tränen aus dem Gesicht. »Tomasetti, wenn wir heute noch irgendwas angeln wollen, sollten wir damit anfangen.«
»Wo du recht hast, hast du recht.«
Ich gehe zu den Bambusangeln und nehme eine. »Kannst du mir den Köder an den Haken machen?«
Er nimmt mir die Angel ab. »Für ein amisches Mädchen bist du reichlich zimperlich.«
»Ich wäre dir dankbar, wenn du das für dich behältst. Ich habe einen Ruf zu verlieren.«
»Keine Bange, dein Geheimnis ist bei mir gut aufgehoben.« Er dreht sich um, entdeckt die Taschenlampe, die an der Kühlbox lehnt, nimmt sie und knipst sie an. Dann geht er damit zum Rand des Stegs und legt sie so hin, dass der Strahl übers Wasser leuchtet, um Insekten anzulocken – und Fische.
»Und was passiert jetzt mit Abigail Kline?« Er geht in die Hocke, öffnet den Angelkasten mit den Haken, Ködern, Schwimmern und Angelleinen und kramt darin.
»Sie hat zugegeben, dass sie ihren Mann vergiftet hat. Dafür könnte sie wegen Mordes angeklagt werden, aber ich vermute, der Bezirksstaatsanwalt wird einen Deal aushandeln und mit Totschlag zufrieden sein. Immerhin hatte sie herausgefunden, dass Jeremy ihren Geliebten umgebracht hat. Er hat sie dreißig Jahre lang angelogen. Wenn der Fall vor Gericht kommt, wird die Jury wahrscheinlich Verständnis zeigen. Die Chancen für eine Verurteilung sind größer, wenn der Staatsanwalt eine geringere Strafe fordert.«
»Und die Kaufmans?«
»Es sind noch eine ganze Menge Fragen zu klären, aber Abram, ihr Bruder, wird wohl wegen Mordes an Leroy Nolt angeklagt. Wie viel Naomi weiß, wissen wir nicht, aber sie wird gründlich verhört werden. Wenn sich herausstellt, dass sie von alledem wusste, wird sie ebenfalls angeklagt. Die Sache ist die, dass wir nicht sicher sein können, ob Nolts Sturz in den Koben vorsätzlich herbeigeführt wurde oder ein Unfall war.«
Er nickt, befestigt den Haken an der Schnur und beißt das überstehende Stück Schnur ab. »Ich hab gehört, dass sie im Haus von Kesters Schwiegervater kein Gewehr gefunden haben«, sagt er.
»Abram Kaufman besitzt ein 22-Kaliber-Gewehr. Ein Deputy hat es bei der Durchsuchung hinten in der Scheune versteckt gefunden.« Ich nehme mir einen Haken aus dem Angelkasten und will ihn an der Schnur meiner Angel befestigen, doch Tomasetti nimmt ihn mir ab und macht es für mich.
»Dann ist Kaufman also der Heckenschütze.«
»Sieht ganz so aus.«
Er greift nach meinem Arm, zieht mich an sich und drückt mir einen Kuss auf die Wange. »Ich bin wirklich froh, dass er ein schlechter Schütze ist.«
Ich grinse. »Ich auch.«
Als die Angelruten fertig sind, reibt er sich die Hände und packt die Box mit den Ködern. »Was hältst du davon, wenn wir jetzt ein paar Fische an Land ziehen?«
»Wer den Ersten fängt, braucht keine abzuschuppen.«
»Die Uhr läuft, Chief Burkholder. Die Uhr läuft.«