16. Kapitel
Ich bin sicher, dass ich den Wecker wie immer auf fünf Uhr dreißig gestellt habe, aber auch, dass Tomasetti ihn ausgestellt hat, nachdem ich eingeschlafen war. Als ich kurz nach acht Uhr panisch aufwache, weiß ich nicht, ob ich sauer oder froh sein soll. Dass ich mich für Letzteres entscheide, ist ihm zu verdanken, denn als ich in die Küche komme, stehen ein Omelette, Toast und Saft für mich auf dem Tisch.
In der Nacht haben wir nicht mehr über meine Schwangerschaft gesprochen. Stattdessen hat er mich in typischer Tomasetti-Manier wegen meiner persönlichen Sicherheit und möglichen Verdächtigen in die Mangel genommen. Was mir ausnahmsweise recht war. Ich weiß nicht, was es über uns als Paar aussagt, dass es einfacher ist, über die Lebensgefahr zu reden, in der ich geschwebt habe, als über das Kind, das ich erwarte.
Beim Frühstück erzählt er mir, dass Rasmussen angerufen und berichtet hat, dass sowohl Paula und Nick Kester wie auch der Vater Alibis für die Zeit haben, in der auf mich geschossen wurde. Was natürlich nicht ausschließt, dass sie jemanden beauftragt haben könnten. Eigentlich halte ich sie nicht für Leute, die so was machen, aber ich würde auch nicht ausschließen, dass einer von ihnen Drogen gegen einen Gefallen getauscht hat. Zudem bestätigt Tomasetti, dass er den Fall aufgrund unserer Beziehung nicht übertragen bekommt. Aber er betont, dass er Zugang zu Informationen haben wird und gewisse Dinge beschleunigen kann, deren Bearbeitung sonst eine Weile dauern würde.
Gestern Nacht ging es mir nicht so schlecht, es kam mir schon fast unwirklich vor, dass ich den Baum mit voller Wucht erwischt habe – aber Adrenalin und Wut sind manchmal effektive Schmerzmittel. Jedenfalls habe ich heute Morgen unerträgliche Kopfschmerzen, und sämtliche Muskeln in meinem Körper tun mir weh. Deshalb schlucke ich zum Frühstück ein paar Tylenol, dusche heiß und fühle mich jetzt schon fast wieder wie ein Mensch.
Tomasetti gibt sich alle Mühe, mich daran zu hindern, zur Arbeit zu gehen. Weil ich mich seiner Meinung nach erholen muss und Rasmussen und die Jungs mindestens einen Tag brauchen, um mehr Informationen darüber zu sammeln, wer hinter den Schüssen auf mich stecken könnte. Doch er kennt mich gut genug, um zu wissen, dass ich mich nicht verstecken werde. Als ich nicht nachgebe, greift er zu Plan B und schlägt vor, dass ich den .22er Magnum Mini-Revolver als Backup im Knöchelholster trage. Da ich das einsehe, akzeptiere ich seinen Vorschlag ohne Widerrede.
Um zehn Uhr morgens setzt er mich am Revier ab und fährt weiter nach Richfield, wo er arbeitet. Ich sehe aus wie eine wandelnde Leiche. Mein Nasenrücken ist blutunterlaufen, und meine Augen sind am Ende des Tages garantiert veilchenblau.
Lois sitzt mit dem Headset auf dem Kopf in der Telefonzentrale. Sie sieht zweimal in meine Richtung und springt dann auf. »Oje.«
Ihr Gesichtsausdruck entlockt mir ein Lächeln, woraufhin sofort meine Nase schmerzt. »Was immer Sie vorhaben, bitte sagen Sie nichts Witziges.«
»Ich versuch’s.« Ihr Ausdruck wird ernst. »Ich habe angenommen, Sie nehmen sich den Tag frei.«
»Ich dachte, ohne mein munteres Zutun herrscht hier sicher große Langeweile.«
Lois lacht. »Haben Sie schon eine Ahnung, wer das war?«
»Noch nicht.« Ich gehe zum Schreibtisch und nehme die Telefonnachrichten aus meinem Fach. »Ich will Sie nicht beunruhigen, aber behalten Sie die Tür im Auge, falls irgendwelche suspekten Personen hereinkommen sollten.«
»Darauf können Sie Gift nehmen.«
Ich gehe zur Kaffeetheke und schenke mir einen Kaffee ein, spüre derweil ihren Blick auf mir.
»Brauchen Sie einen Eisbeutel, Chief? Ich glaube, im Gefrierfach sind Tiefkühlerbsen.«
»Das wäre klasse.« Ich taste mir über die Nase. »Und solange der Explorer in der Werkstatt ist, brauche ich einen Mietwagen.«
»Ich sage in der Werkstatt Bescheid, sie sollen einen vorbeibringen.«
Den ganzen Morgen über lese ich in der Akte des unbekannten Toten, der wahrscheinlich Leroy Nolt ist. In einer E-Mail von Skid steht, dass die Eltern von Jeremy Kline gestorben sind. Abigail Klines Eltern, Naomi und Reuben Kaufman, vierundsechzig beziehungsweise siebenundsechzig Jahre alt, wohnen an einer Landstraße außerhalb von Charm. Keiner von beiden ist vorbestraft, aber Reuben war mehrere Male vorgeladen, weil er kein Schild an seinem Buggy angebracht hatte, das ihn als »langsam fahrendes Vehikel« kennzeichnete. Den letzten Strafzettel hat er vor drei Jahren bekommen. Entweder fährt er seither nicht mehr mit dem Buggy, oder er hat sich dazu durchgerungen, das Schild doch nicht als eitles Schmuckwerk zu betrachten.
Abigail hat zwei Schwestern, die beide in Upstate New York wohnen und verheiratet sind. Ihr Bruder, Abram, lebt noch hier in der Gegend. Ich nehme mir vor, auch ihm einen Besuch abzustatten, um herauszufinden, ob er Kontakt mit Leroy Nolt hatte.
Als ich dann meinen Computer herunterfahre, klingelt das Telefon, und SHERIFFBÜRO erscheint auf dem Display.
»Wie fühlen Sie sich heute, Chief?«, beginnt Sheriff Rasmussen.
»Als hätte der Lokführer mich nicht auf den Gleisen stehen sehen.«
Er lacht. »Ich dachte, es interessiert Sie vielleicht, dass die Hülse von letzter Nacht tatsächlich ein .22er Kaliber ist. In Anbetracht der Entfernung wahrscheinlich von einem Gewehr. Der Kriminaltechniker hat zudem eine Kugel aus Ihrem Armaturenbrett gefischt, die ist aber leider beschädigt, so dass es keine brauchbaren Riefen gibt.«
»Hier haben ’ne Menge Leute .22er Gewehre.« Auch die Amischen, erinnert mich eine kleine Stimme im Hinterkopf.
»Vielleicht haben wir trotzdem Glück, Kate. Auf der Hülse ist der Teilabdruck eines Fingers. Keine Ahnung, ob das reicht, aber sie lassen ihn durch AFIS laufen, vielleicht landen wir ja einen Treffer. Tomasetti hilft, das Ganze zu beschleunigen.«
AFIS ist das Akronym für Automatisiertes Fingerabdruck-Identifizierungs-System. Als er Tomasetti erwähnt, schwillt meine Brust ein klein wenig vor Stolz. »Danke.«
»Wir patrouillieren auch verstärkt in Holmes County und Painters Mill. Ich hab alle meine Mitarbeiter zu Überstunden verdonnert.«
»Das weiß ich wirklich zu schätzen, Mike. Halten Sie mich auf dem Laufenden, ja?«
»Das wissen Sie doch. Und Sie machen heute langsam.«
»Ich geb mir Mühe.«
Reuben und Naomi Kaufman leben auf einer großen Farm, wenige Meilen südlich von Charm an der County Road 600. Neben dem Farmhaus gibt es zwei große Scheunen in Hanglage, die auf zwei Ebenen zugänglich sind, und ein weißes Silo, das dringend eines neuen Anstrichs bedarf. Auf der Wiese entlang der Straße zupfen zwei betagte Zugpferde neben einem veralgten Teich überweidetes Gras. Ich biege in die Einfahrt, parke den geliehenen Crown Vic – ein in diesem Fall nicht als solcher gekennzeichneter typischer US-Streifenwagen – im Schatten einer Ulme und gehe auf dem Fußweg zur vorderen Veranda. Das zweigeschossige schlichte Farmhaus hat hohe Fenster, die von innen mit dunklem Stoff zugehängt sind. Zwei Schaukelstühle stehen auf der Veranda, die offensichtlich vor kurzem gefegt wurde, aber Topf- und Hängepflanzen gibt es keine. Während manche Amische üppige Gärten mit viel Gemüse und unzähligen Blumen – Petunien, Maßliebchen und Geranien – haben, ist der Garten hier mit kaum einem Dutzend Reihen Tomaten, Mais und grünen Bohnen so schlicht wie das Haus.
Wegen der gestrigen Schüsse hatte ich kurz überlegt, Glock mitzunehmen, aber Reuben und Naomi Kaufman sind Swartzentruber und vermutlich eher zu einem Gespräch bereit, wenn ich alleine komme. Was aber nicht heißt, dass mir meine Vergangenheit als Amische irgendwelche Türen öffnet. Aber dass ich fließend Pennsylvaniadeutsch spreche, könnte hilfreich sein. Allerdings habe ich im Umgang mit Amischen der Alten Ordnung festgestellt, dass der Umstand, dass ich die Glaubensgemeinschaft verlassen habe, wichtiger war als meine Herkunft. Wobei erschwerend hinzukommt, dass ich Polizistin bin.
Es ist ein schöner Tag. Wegen der Luftfeuchtigkeit liegt ein Dunstschleier in der Luft, aber die Brise und der Schatten fühlen sich angenehm auf meiner Haut an. Eine Brillentaube sitzt gurrend auf der Windfahne der am nächsten gelegenen Scheune. Spatzen plaudern mit mir, als ich auf dem Weg zum Haus am Futterhäuschen vorbeikomme, in dem Hirse und zerstoßene Maiskörner liegen. Ich steige die Treppe hinauf, ziehe die Windfangtür auf und klopfe.
Einen Moment später geht die Tür auf, und ich stehe einer fülligen amischen Frau gegenüber. Sie trägt ein fast knöchellanges dunkelgraues Kleid, und auf dem stahlgrauen, am Scheitel schütteren Haar sitzt die traditionelle Kapp. »Kann ich Ihnen helfen?« An ihrem Tonfall höre ich, dass sie wesentlich öfter pennsylvaniadeutsch spricht als englisch.
»Guder nammidaag. Mrs Kaufman?«
»Ja.« Sie mustert mich aus hellblauen Augen, rümpft angesichts meiner Uniform leicht die Nase wie bei einem unschönen Duft. »Stimmt etwas nicht?«
»Nein, Ma’am, es ist alles in Ordnung.« Ich zeige ihr meine Marke und stelle mich vor. »Ich arbeite an einem Fall, zu dem ich Ihnen gern ein paar Fragen stellen würde, wenn Sie einen Moment Zeit haben.«
»Wir sind Amische. Ich sehe nicht, wie ich Ihnen bei einem englischen Fall helfen könnte.«
»Darf ich hereinkommen, Mrs Kaufman? Ich verspreche, nicht zu viel Ihrer Zeit in Anspruch zu nehmen.«
Sie zögert kurz, dann öffnet sie die Tür.
Ich betrete ein rechteckiges Wohnzimmer mit rauen Dielen und einem geknüpften Teppich, der schon bessere Zeiten gesehen hat. Der dunkelblaue Stoff vor den Fenstern lässt gerade so viel Licht durch, dass ich ein blaues Sofa erkenne, einen Schaukelstuhl mit einer Häkeldecke darauf und in der Ecke einen Kanonenofen.
Ich schiebe meine Sonnenbrille hoch auf den Kopf. Beim Anblick meiner Veilchen kneift die Frau die Augen zusammen, und ich tippe mir lächelnd mit dem Finger an die rechte Schläfe. »Ich hatte gestern Abend einen Autounfall.«
»Oh.« Sie nickt, wobei mir ihr Gesichtsausdruck zu verstehen gibt, dass mir das wahrscheinlich recht geschieht, da ich ein motorisiertes Fahrzeug benutze. »Möchten Sie einen Eistee, Chief Burkholder? Kamille und Minze aus dem Garten.«
»Danke, aber ich kann nicht lange bleiben«, sage ich.
Das Knarren der Dielen lenkt meinen Blick in Richtung Küche, wo gerade ein amischer Mann im Rollstuhl durch die Tür gefahren kommt. Reuben Kaufman, glaube ich. Er sieht älter aus als siebenundsechzig, trägt ein blaues Hemd über schmalen, knorrigen Schultern, schwarze Hosen mit Hosenträgern und einen flachkrempigen Sommerhut.
Als er den Mund aufmacht, sehe ich, dass ihm im Unterkiefer ein Zahn fehlt. Sein Gesicht ist leicht asymmetrisch, wobei die linke Seite etwas stärker herabhängt als die rechte. Sein Mund zittert. Ich warte, dass er etwas sagt, doch das tut er nicht.
»Das ist mein Mann, Reuben«, sagt Naomi.
Ich gehe zu ihm hin. »Hallo Mr Kaufman.« Er reicht mir eine schlaffe Hand. Sie fühlt sich kalt und gebrechlich an, und ich schüttele sie nur leicht.
»Reuben hat manchmal Probleme mit dem Sprechen«, sagt die amische Frau. »Er hatte einen Schlaganfall. Ist jetzt schon drei Jahre her.« Sie sieht ihren Mann an. »Nicht wahr, Reuben?«
Er nickt kaum merklich, den Blick auf mich gerichtet.
Naomi geht hinter den Rollstuhl ihres Mannes und umfasst die Griffe. »Aber wir kriegen das hin, stimmt’s?«
Sie scheint vollkommen entspannt mit der Behinderung ihres Mannes umzugehen. Sie haben ihre eigene, besondere Weise, miteinander zu kommunizieren, die von außen betrachtet so effektiv wie Worte zu sein scheint.
»Sis unvergleichlich hees dohin«, sagt sie. Es ist unheimlich heiß hier drin. »Wir setzen uns lieber auf die Veranda.«
Ich gehe zur Tür und halte sie auf, sie schiebt ihren Mann im Rollstuhl nach draußen, stellt die Bremse fest und lässt sich im Schaukelstuhl nieder. »Sitz dich anne«, sagt sie zu mir.
»Danki.« Der Weidensitz des Schaukelstuhls knarrt leicht, als ich mich draufsetze. »Sie und Ihr Mann haben eine schöne Farm.«
»Reubens Mamm hat sie uns nach ihrem Tod vermacht. Gehört seit vielen Jahren der Familie Kaufman.«
»Ich bin ein paarmal vorbeigefahren. Hat sie nicht auch Schweine gezüchtet?«
Sie sieht mich mit zusammengekniffenen Augen an. »Haben nie Schweine gezüchtet.«
»Und Sie und Mr Kaufman, haben Sie je Schweine gezüchtet?«
»Nur ein paar Stück Vieh im Laufe der Jahre, gerade genug, um Fleisch im Winter zu haben. Reuben hat lieber das Land bestellt, hauptsächlich Mais und Sojabohnen. Das hat er von seinem Datt gelernt, das kennt er.« Sie hält inne. »Warum fragen Sie das alles, Chief Burkholder?«
»Ich untersuche einen Fall, bei dem es um menschliche Überreste geht, die der Tornado freigelegt hat.«
»Ich hab davon in der Zeitung gelesen.« Sie erschauert. »Furchtbare Sache. Wissen Sie, wer es ist?«
»Noch nicht.« Ich beobachte sie genau, suche nach Anzeichen von Nervosität oder Unbehagen. »Wir gehen allen Fällen von jungen Männern nach, die etwa vor dreißig Jahren als vermisst gemeldet wurden.«
Sie legt den Kopf schief. »Was hat das mit uns zu tun? Wir vermissen keine Familienangehörigen.«
»Es heißt, Ihre Tochter Abigail wäre mit einem jungen Mann namens Leroy Nolt befreundet gewesen.« Ich weiß natürlich nicht, ob das stimmt, bin aber gespannt, ob es irgendeine Reaktion auslöst.
»Keine Ahnung, wo Sie das gehört haben, Chief Burkholder, aber Abby hat immer nur Augen für Jeremy Kline gehabt.«
Ich zucke mit den Schultern. »Kinder tun manchmal etwas, von dem die Eltern nichts wissen.«
»Unsere Abby nicht. Sie war ein gutes Mädchen.« Sie blickt ihren Mann an. »Ich kenne nicht mal jemanden, der Nolt heißt. Das ist ein mennonitischer Name, stimmt’s, Reuben?«
Der alte Mann nickt kaum merklich, doch sein Blick ist fest auf mich geheftet, und in dem Moment wird mir klar, dass der Schlaganfall zwar seinen Körper zerstört hat, sein Geist aber noch hellwach ist.
Naomi nippt an ihrem Tee, sieht mich über den Rand ihrer Brille prüfend an. »Wie kommen Sie darauf, dass unsere Abigail diesen Nolt-Jungen kannte?«
»Da es sich hier um eine laufende Untersuchung handelt, kann ich Ihnen leider keine Einzelheiten sagen, Mrs Kaufman.«
Sie lacht und tätschelt die Hand ihres Mannes. »Wieder mal typisch Polizei. Nie so mitteilsam, wie sie es sein sollte.« Und dann zeigt sich Erkennen in ihrem Gesicht. »Jetzt weiß ich wieder, wer Sie sind. Sie sind weggegangen.« Nickend streicht sie sich über die Schläfe. »Es dauert inzwischen zwar ein bisschen, aber Namen vergesse ich nie.«
Ich gehe nicht darauf ein, sondern wende mich an Reuben. »Und Sie, Mr Kaufman? Haben Sie Leroy Nolt gekannt? Hat er jemals für Sie gearbeitet? Vielleicht auf dem Feld?«
Der Mann schüttelt leicht den Kopf und sagt ein einziges Wort: Nein.
Naomi sieht mich triumphierend an. »Sehen Sie?«