24. Kapitel
Es ist fast Mitternacht, als ich auf unserer Farm eintreffe. Ich fahre zur Rückseite des Hauses und sehe, dass Tomasetti das Verandalicht für mich angelassen hat. Wehmut überkommt mich, und mir wird klar, dass er mir gefehlt hat. Dass ich das schlichte Glücksgefühl, mit ihm zusammen zu sein, vermisst habe. Ihn einfach zu lieben. Entspannte Sonntagnachmittage, samstagsmorgens im Bett. Ich bin kaum ausgestiegen, da geht das Küchenlicht an, und die Tür geht auf. Tomasetti, in verwaschenen Jeans und einem T-Shirt der Cleveland Division of Police, tritt hinaus auf die Veranda.
»Du bist ein Augenschmaus«, sagt er.
Ich gehe die Verandatreppe hinauf und bleibe keinen halben Meter vor ihm stehen. »Du auch.«
Ich hoffe, dass er mich in die Arme nimmt oder mir einen Kuss gibt, doch das tut er nicht. Stattdessen tritt er einen Schritt zurück und hält die Tür auf. »Müde?«
»Jap.« Ich betrete die hell erleuchtete Küche und sehe sofort die Schachtel Frühstücksflocken neben der Schale und einem Löffel. »Noch ein romantisches Dinner?«, scherze ich, nehme den Ausrüstungsgürtel ab und hänge ihn über die Rückenlehne des Stuhls.
»Ich wusste, dass du beeindruckt sein wirst.« Er schließt die Tür hinter mir. »Tut mir leid, aber wir haben nichts mehr zu essen im Haus. Ich hatte keine Zeit einzukaufen.«
»Es ist sowieso spät, Frühstücksflocken sind perfekt.«
Er steht vornübergebeugt vor dem offenen Kühlschrank und scheint etwas zu suchen. Ich sehe in die Müslischale vor mir und gehe zu ihm. »Tomasetti.«
Er richtet sich auf und dreht sich um. Bevor er etwas sagen kann, schlinge ich die Arme um seinen Hals. Er riecht nach Aftershave und Shampoo und seinem persönlichen Duft, den ich lieben gelernt habe. »Du hast mir gefehlt«, flüstere ich und drücke meinen Mund auf seine Lippen.
Er drückt mich an sich und küsst mich lang und hingebungsvoll. Dann lehnt er sich zurück und sieht mich eindringlich an. »Wahrscheinlich werde ich noch oft Frühstücksflocken zum Abendessen servieren.«
Ich lache erleichtert. »Tut mir leid, dass ich in letzter Zeit nicht viel zu Hause war.«
»Und mir tut es leid, dass ich keine bessere Gesellschaft abgegeben habe.«
»Dieser Fall ist einfach …«
»Schon okay«, sagt er. »Ich verstehe.«
Ich trete innerlich auf die Bremse. »Tomasetti, es geht aber nicht nur um den Fall.«
Er legt den Kopf zur Seite, als wolle er meinen Blick auf sich ziehen. »Ich glaube, das andere hab ich auch verstanden, Kate.«
»Das ist absolutes Neuland für mich. Ich habe Angst. Ich weiß nicht, wie ich das hinkriegen soll. Und ich weiß nicht, wie es dir damit geht.«
»Für mich ist es mit dir auch Neuland. Ein Kind in die Welt zu setzen … ist eine große Sache. Da kann man ruhig Angst haben.«
Ich drehe mich leicht, lasse die Arme über seine Schultern gleiten und umfasse seine muskulösen Oberarme. »Es ist nicht nur die Schwangerschaft, vor der ich Angst habe. Es ist auch … diese Distanz zwischen uns, die vorher nicht da war. Als könnte ich dich berühren, aber nicht erreichen.«
»Ich weiß«, sagt er. »Das liegt an mir, nicht an dir. Welche Kluft auch immer da ist, wir werden sie überwinden.«
»Du wolltest das nicht.«
»Ich will dich nicht anlügen. Richtig oder falsch oder irgendwas dazwischen, ich wollte es nicht. Wo das jetzt ausgesprochen ist, wissen wir beide aber auch, dass das Leben selten so verläuft, wie man es gern hätte.«
»Ich will nicht, dass das zwischen uns kommt.«
»Ich passe auf, dass das nicht passiert.« Er nimmt meine Hand. »Komm mit«, sagt er. »Ich will dir etwas zeigen.«
Hand in Hand gehen wir aus der Küche und die Treppe hinauf ins Gästezimmer, einem großen Raum mit hohen, schmalen Fenstern, die nach vorne hinausgehen. Kurz nachdem ich eingezogen war, hatte Tomasetti ein weiteres Bad und einen begehbaren Schrank eingebaut, was den Raum zwar verkleinert hat, aber er ist immer noch ziemlich groß und hat beim Fenster sogar noch Platz für eine Sitzecke.
Das Licht geht an, und ich blicke auf einen Stubenwagen aus Holz, ganz offensichtlich ein Produkt amischer Handwerkskunst: Schwalbenschwanzverzinkung und gedrechselte Stäbe, aus Ahorn und in der Farbe von Kirschholz gebeizt.
»Den hab ich in Geauga County bei einer Versteigerung gefunden«, sagt er. »Amische Handarbeit. Der Mann, von dem ich ihn habe, sagt, er wäre sechzig Jahre alt.«
Ich kann meinen Blick nicht von dem Stubenwagen abwenden. Etwas an diesem gediegenen Möbelstück, so robust und geschichtsträchtig, führt mir vor Augen, dass mein Leben – unser Leben – sich gerade sehr verändert. Die Welt dreht sich unkontrolliert, und ich verspüre plötzlich die Notwendigkeit, mich festzuhalten, weil ich sonst ins All geschleudert werde.
»Ich unterstütze das Sheriffbüro in Geauga County bei der Aufklärung eines Mordes an einem Kleinkriminellen, der Meth vertickt hat«, erklärt er. »Allerdings hat sich herausgestellt, dass der gar keine so kleine Nummer war.« Er zeigt auf den Stubenwagen. »In einem Bein ist eine Kerbe, und hinten fehlt ein Rad, aber beides lässt sich leicht beheben. Das Rad hab ich schon im Eisenwarenladen gekauft, und Holzspachtel und Beize stehen in der Garage.«
Es ist überhaupt nicht Tomasettis Art, so viel zu reden, normalerweise ist er eher wortkarg. Und in dem Moment erkenne ich, dass dieser Kauf ihn nervös macht. Weil er unsicher ist, wie ich darauf reagiere.
»Kate?«
Ich reiße den Blick vom Stubenwagen los und sehe ihn an. Sorge und Verunsicherung stehen in seinem Gesicht, und mir wird klar, dass dieser Moment bestimmen wird, wie wir mit der neuen Richtung, die unser Leben genommen hat, umgehen werden.
»Er ist wunderschön«, sage ich.
Er geht zu dem Wagen und legt ihn vorsichtig auf die Seite. »Sieh mal hier.« Auf der Unterseite ist ein amischer Spruch eingeschnitzt, den ich lange Jahre weder gehört noch gelesen habe.
EIN KIND IST DER EINZIGE SCHATZ, DEN MAN MIT IN DEN HIMMEL NEHMEN KANN.
Ich weine nicht schnell und kann die Tränenausbrüche, die ich in den letzten fünf Jahren hatte, an einer Hand abzählen. Aber der Anblick dieser Worte und das Wissen, dass der Mann, den ich liebe, diesen Stubenwagen für unser Kind gekauft hat, treibt mir die Tränen in die Augen.
Ich sehe Tomasetti an. »Er ist perfekt.«
»Sicher? Ich meine, wenn du lieber was Neues willst, ich kann –«
»Er ist wunderschön.« Als er noch etwas sagen will, lege ich ihm zwei Finger auf die Lippen. »Wenn du jetzt auch nur noch ein weiteres nettes Wort sagst, Tomasetti, fange ich wirklich an zu heulen.«
»Es gibt für alles ein erstes Mal.«
»Aber bitte nicht jetzt.«
»Also gut.« Er umfasst mein Handgelenk und zieht meine Finger von seinen Lippen. Dann drückt er mich rückwärts an die Wand, presst sich an mich und küsst mich gierig. Ich vergesse das Chaos in meinem Kopf, nichts anderes existiert mehr als dieser gemeinsame Moment und eine verheißungsvolle Zukunft, die zum ersten Mal in meinem Leben zum Greifen nahe scheint.
Es gibt Zeiten, in denen ein Fall so tief in meine Psyche eindringt, dass ich selbst im Schlaf darüber nachdenke. Und so bin ich am nächsten Morgen von zwei Dingen überzeugt: dass Jeremy Klines frühzeitiger Tod kein Unfall war und seine Frau Abigail dafür verantwortlich ist.
Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass eine amische Frau Kermesbeerenblätter mit Löwenzahn verwechselt – die beiden Pflanzen unterscheiden sich in Aussehen und Geschmack. Wenn Abigail Kermesbeerenblätter im Salat verwendet hat, dann hat sie auch gewusst, dass sie diese dreimal in jeweils frischem Wasser kochen muss, um sie zu entgiften. Ich glaube, dass sie ihren Mann absichtlich vergiftet und ihm eine Menge ungekochte Kermesbeerenblätter in den Löwenzahnsalat gemischt hat.
Das Problem ist natürlich, es zu beweisen. Um das zu können, brauche ich ein Motiv, welches meines Erachtens mit dem Mysterium um Leroy Nolt zu tun hat.
Tomasetti hat am Morgen ein frühes Meeting mit den Anzugträgern in Richfield und deshalb das Haus kurz vor sechs Uhr verlassen. Er hat mich nicht geweckt, was zur Regel geworden ist, seit er von meiner Schwangerschaft weiß. Kurz nach sieben tappe ich schließlich in Jogginghose und T-Shirt in die Küche. Draußen tobt ein Sommergewitter. Donnergrollen lässt die Deko-Teller an der Wand klappern. Die Gardine über der Spüle bläht sich in einer schwülen Brise.
Als ich mir die erste Tasse Kaffee einschenke, sehe ich die Nachricht unter der Kaffeemaschine. Lass uns am Wochenende angeln gehen.
In der Stille der Küche lache ich. Es ist das Lachen einer glücklichen Frau, und ich halte mir vor Augen, dass diese Frau ich selbst bin. Dass ich allein in meiner Küche stehe und lache. Und ich werde heute das Wissen, geliebt zu werden, mit zur Arbeit nehmen.
Ich nehme einen Stift aus der Schublade und schreibe: Zeigen wir den Ködern, was ein Haken ist.
Ich schiebe den Zettel ein Stück unter die Kaffeemaschine und überlege, vor dem Duschen noch schnell nach oben zu gehen und einen Blick auf den Stubenwagen zu werfen. In dem Moment knarrt die Hintertür, ich drehe mich um und sehe, dass der Wind sie ein Stück aufgestoßen hat. Sofort überkommt mich Unbehagen. Tomasetti ist viel zu vorsichtig, um eine Tür nicht richtig zu schließen. Dann sehe ich Regenwasser und Glassplitter auf dem Boden glitzern. Eine Schlammspur auf den Fliesen. Jemand ist im Haus.
Adrenalin durchflutet meinen Körper mit solcher Wucht, dass ich zittere. Alle meine Sinne sind geschärft: der Kühlschrank brummt, der Regen trommelt aufs Dach, platscht auf die Erde; die gedämpften Laute des Radios oben im Schlafzimmer, das ich angelassen habe, Donnerschläge wie das Stampfen einer urzeitlichen Bestie. Mein erster Gedanke ist, dass Nick Kester herausgefunden hat, wo ich wohne, und ins Haus eingedrungen ist. Mein zweiter, dass die .38er oben auf dem Nachttisch neben meinem Bett liegt.
Ich stelle die Kaffeetasse ab. Mein Blick schießt zum Handy, das ich zum Laden auf die Ablage gelegt habe. Ich packe es, zerre das Kabel aus der Steckdose und tippe mit dem Daumen die Notrufnummer. Die Hintertür im Blick, mache ich einen Schritt zurück und sehe über die Schulter zur Treppe. Das Wohnzimmer daneben liegt still und dunkel da, was aber nicht heißt, dass niemand drin ist und vorhat, mir Gewalt anzutun.
Ich will gerade die Treppe hochlaufen, als jemand aus dem vorderen Teil des Hauses kommt. Selbst in dem schwachen Licht sehe ich, dass es Kester ist. Er trägt Jeans, eine schmutzige Jeansjacke und hat eine Pistole im Hosenbund. Seine Haare sind triefnass, er riecht stark nach Zigaretten und wirkt überrascht, mich zu sehen.
»Notrufzentrale, was ist passiert?«
Er zuckt zusammen, als die blecherne Stimme ertönt, und sein Blick schießt zu dem Handy in meiner Hand.
»Der Sheriff ist auf dem Weg hierher«, sage ich. »An Ihrer Stelle würde ich sofort verschwinden.«
Kesters Mund geht auf, ich sehe lückenhafte gelbe Zähne hinter bleichen Lippen. In seinem Blick liegt Unsicherheit gepaart mit etwas Hässlichem dicht unter der Oberfläche. Seine rechte Hand schnellt zur Pistole.
Ich werfe das Handy nach ihm und treffe ihn so hart unterm Auge, dass die Haut aufplatzt. Er taumelt zurück, fasst sich ins Gesicht. »Scheiße. Fick dich!«
Ich wirbele herum, packe das Geländer und nehme zwei Stufen auf einmal die Treppe hinauf. Kester flucht. Ich erreiche den oberen Treppenabsatz, rutsche in meinen Strümpfen auf dem Holzboden aus, fange mich und renne mit ausgestreckten Armen den Flur entlang.
»Verdammtes Bullenmiststück.« Kester stampft hinter mir die Treppe hoch. »Wegen dir geh ich nich in ’nen Knast!«
Ein Schuss zerreißt die Luft, gefolgt von dem dumpfen Geräusch der Kugel, die rechts neben mir in der Wand landet. Dann bin ich im Schlafzimmer, schlage die Tür hinter mir zu und verriegele sie. Zwei Schritte, ich reiße die .38er aus dem Holster, richte sie auf die Tür und gehe rückwärts zu der Bank am Fußende des Bettes, schnappe mein Polizeifunkgerät. »Brauche Hilfe!« Ich schreie meine Adresse. »Schusswechsel.«
»Bleiben Sie auf Empfang!«, ertönt Monas Stimme.
»Kester, ich bin bewaffnet!«, schreie ich. »Wenn Sie durch die Tür kommen, knalle ich Sie ab!«
»Wer ist es?«, fragt Skid.
»Nick Kester«, keuche ich. »Er hat eine Pistole.«
»Verdammter IDIOT!« Über Funk höre ich, wie er den Motor seines Streifenwagens hochjagt. »Bin ganz in der Nähe und in zwei Minuten da. Halten Sie durch.«
»Deputy vom Sheriffbüro ist auf dem Weg«, sagt Mona.
Die ganze Zeit habe ich die Tür im Auge, die .38er im Anschlag. Ich gehe zurück und knie neben dem Bett, das zwar keine Kugel abhalten wird, mir aber ein paar Sekunden gewinnen kann. Wenn er ins Zimmer kommt, werde ich so lange auf ihn schießen, bis er sich nicht mehr bewegt.
»Jemand verletzt?«, fragt Mona.
»Nein.«
»Bin da«, lässt Skid mich über Funk wissen. »Wo ist er?«
»Keine Ahnung. Vielleicht im ersten Stock. Seien Sie vorsichtig.«
Mit angehaltenem Atem lausche ich auf Geräusche aus dem Flur, doch höre nur den Regen ans Fenster schlagen und das entfernte Heulen von Sirenen. Ich verlasse meinen Platz neben dem Bett und gehe nach rechts, drücke mich an der Wand entlang Richtung Tür, falls es Kester einfällt, einfach durchzuschießen. Neben der Kommode bleibe ich stehen.
»Nick Kester!«, schreie ich. »Die Polizei hat das Haus umstellt. Waffe runter. Sofort!«
Keine Antwort.
Ich frage mich, ob seine Frau auch hier ist. Ob sie sich irgendwo im Haus versteckt hat oder im Wagen sitzt.
Wegen dir geh ich nich in ’nen Knast!
Er weiß genau, dass ich für den Tod seiner Tochter nicht verantwortlich bin.
Im Haus ist es vollkommen still, was mich sehr beunruhigt. Wo ist Kester? Wo ist Skid? Mein Herz klopft zu heftig, meine Hände zittern. Ich schleiche um die Kommode herum, lege die linke Hand auf den Türknauf, drehe ihn schnell und stoße die Tür auf.
»Polizei!«, schreie ich. »Waffe auf den Boden. Hände hoch. Runter auf den Boden!«
Irgendwo im Erdgeschoss knallt eine Tür, ich kann nicht sagen, ob vorne oder hinten. Ich weiß nicht, ob Kester abhaut – oder einer meiner Mitarbeiter reingekommen ist.
»Skid!«, schreie ich.
»Ich bin in der Küche!«, ruft er von unten.
»Ich bin im ersten Stock!«, schreie ich. »Wo ist Kester?«
»Erdgeschoss ist sauber!«, ruft Glock, und ich atme erleichtert auf.
Die .38er schussbereit, trete ich in den Flur. Skid kommt die Treppe hochgelaufen, Pistole im Anschlag. Er sieht mich kurz an, dann geht er in das Zimmer, das ihm am nächsten ist. Ich ziehe die Tür vom Wandschrank im Flur auf, blicke hinein. Leer. Als ich sie schließe, kommt Glock den Flur entlang.
»Sind Sie okay, Chief?«
Ich nicke heftig.
»Sauber!« Skid kommt aus dem Zimmer, sieht Glock kurz an und geht weiter ins Bad.
Ich sehe Glock an und weise mit dem Kopf zu dem verbliebenen Raum. »Den müssen wir noch checken.«
Er nickt und betritt mit gezogener Waffe das Zimmer. Ich folge ihm. Während er den Wandschrank kontrolliert, sehe ich unter dem Bett nach.
»Sauber«, meldet er.
Er steckt die Pistole ins Holster zurück und sieht mich eindringlich an. Dann wandert sein Blick zum Stubenwagen, den er etwas zu lang anstarrt und dann schnell wegsieht, weil ihm klargeworden ist, dass er sich in meinen Privaträumen befindet.
»Der Scheißkerl ist abgehauen«, sagt Glock. Dann senkt er den Kopf und spricht ins Ansteckmikro. »Haus ist sauber, Verdächtiger flüchtig.«
Skid steht in der Tür. Auch er hat den Stubenwagen registriert, kann aber seine Überraschung nicht so gut verbergen wie Glock. Doch er ist klug genug, den Mund zu halten.
»Haben Sie das Sheriffbüro in Wayne County informiert?«, frage ich Skid auf dem Weg zur Tür.
Er tritt zur Seite, damit ich vorbeigehen kann. »Sie stellen schon Straßensperren auf.«
Ich sehe Glock an. »Wäre gut, wenn jemand eine Hundestaffel herschickte.«
Er nickt und spricht wieder in sein Ansteckmikro. Ich gehe den Flur entlang, verharre aber im Schritt beim Anblick des Lochs in der Wand und des Verputzes auf dem Holzboden.
»Der Scheißkerl hat nicht lang gefackelt, was?«, höre ich Skids Stimme hinter mir.
Ich unterdrücke ein Frösteln, doch die kleine Stimme im Hinterkopf kann ich nicht ignorieren: Die hätte dich treffen können.
»Wir müssen ihn finden«, höre ich mich sagen. »Alle Hebel in Bewegung setzen.« Ich sehe Glock an. »Ist die State Highway Patrol benachrichtigt?«
»Holmes County auch«, sagt er. »Die Suchmeldung ist weiter aktuell.«
Da meine Arme und Beine jetzt heftig zittern, gehe ich weiter zur Treppe. »Er kann immer noch auf dem Grundstück sein.«
»Ich trommele ein paar Leute zusammen, und wir sehen uns um«, sagt Glock.
»Die Wälder hinten hinaus sind verdammt dicht«, bemerkt Skid.
»Kester muss irgendwo in der Nähe ein Fahrzeug haben«, sage ich.
»Wenn das stimmt, finden wir es«, sagt Glock.
»Wenn er nicht schon wieder weggefahren ist«, wirft Skid ein.
»Haben Sie irgendwas gesehen, als Sie gekommen sind?«, frage ich.
»Nein, aber es gibt genug Stellen, um von der Straße abzufahren und den Wagen hinter Bäumen zu verstecken.« Skid schüttelt den Kopf.
»Meth-Freaks können verdammt schnell sein, wenn plötzlich die Polizei auftaucht.«
Glock und ich schmunzeln. Langsam beruhige ich mich, schlüpfe wieder in meine Cop-Rolle, was mir weit besser behagt als die einer traumatisierten Hausbesitzerin – oder einer Schwangeren, die gerade Zielscheibe eines bewaffneten Eindringlings war.
Ich sehe Glock über die Schulter hinweg an. »Können Sie zum Haus von Carl Shellenberger fahren, Paula Kesters Vater? Nehmen Sie einen Deputy mit – und tragen Sie Schutzwesten.«
Er tippt mit dem Finger an seine Mütze, eilt den Flur entlang an mir vorbei und verschwindet die Treppe hinunter.
Skid und ich gehen hinterher. Auf dem unteren Treppenabsatz blicke ich nach rechts, wo ein Deputy neben dem Mobiltelefon, das ich nach Kester geworfen hatte, am Boden hockt. Als er mich sieht, erhebt er sich. »Alles in Ordnung, Chief?«
»Ja.« Ich gehe zu ihm hin, um das Telefon an mich zu nehmen, als mir klarwird, dass es wahrscheinlich ein Beweismittel ist, mit Kesters DNA dran. »Ist das BCI schon verständigt?«, frage ich den Deputy.
Er nickt. »Die Spurensicherung ist unterwegs.«
Ich denke an Tomasetti und krümme mich innerlich bei der Vorstellung, dass er von Dritten erfahren wird, was hier passiert ist.
»Kester ist bewaffnet und gefährlich. Können Sie dafür sorgen, dass jeder das weiß?« Ich habe ihn vor Augen. »Er scheint tagelang nicht geschlafen zu haben –«
Der Deputy nickt. »Jede Menge Leute sind auf ihn angesetzt, quasi alles, was Beine hat und laufen kann.«
Ich nicke und gehe in die Küche, wo ich vom Festnetz aus Tomasetti anrufe, der nach dem ersten Klingeln abnimmt.
»Was zum Teufel ist passiert?«
»Kester ist hier eingebrochen, nachdem du weg bist.«
»Und dir ist nichts passiert?«
»Mir geht’s gut.«
»War er bewaffnet?«
»Mit einer Pistole.«
»Herr im Himmel, Kate.«
»Tomasetti, ich bin okay, wirklich.« Am statischen Knistern merke ich, dass er in seinem Wagen ist. »Wo bist du?«
»Fünfzehn Minuten weit weg. Tu mir einen Gefallen und bleib, wo du bist.«
»Mach ich«, sage ich. Dann ist die Leitung tot.
Ich stehe auf der hinteren Veranda und spreche mit einem Deputy vom Wayne-County-Sheriffbüro, als Tomasetti den Weg entlanggeprescht kommt, einen leichten Schlenker nach rechts macht und mit quietschenden Bremsen neben meinem Crown Vic zum Stehen kommt. Ich habe keine Ahnung, wie er es so schnell von Richfield hierher geschafft hat, aber das ist unwichtig, denn ich bin froh, ihn zu sehen.
Mit finsterem Gesichtsausdruck steigt er aus, kommt mit großen Schritten um den Wagen herum auf die Veranda, nickt dem Deputy zu und sieht mich an. Der Ausdruck in seinem Gesicht ist unverändert, und die Gefühlsregung in seinem Blick ist so schnell wieder verschwunden, dass ich sie mir vielleicht nur eingebildet habe.
»Alles okay, Chief?«, fragt er ruhig.
Ich verdrehe die Augen und stöhne, will einen auf souverän machen, was mir aber nicht gelingt.
Er bleibt keinen halben Meter vor mir stehen, sieht mir in die Augen und fährt mit den Händen über meine Schultern die Arme hinunter, als würde er seinen Augen nicht trauen und müsse es überprüfen.
»Du bist aber schnell hier gewesen«, sage ich.
»Einer meiner Kollegen hat bei dem Funkspruch meine Adresse erkannt und mich sofort angerufen.« Er blickt von mir zum Deputy und wieder zu mir. »Habt ihr ihn erwischt?«
Ich schüttele den Kopf. »Aber drei Polizeibehörden sind auf der Suche, und Glock und ein Deputy von Holmes County waren bei Paula Kesters Vater, aber der sagt, er hätte ihn seit vierundzwanzig Stunden nicht mehr gesehen. Vom Sheriffbüro wurden Straßensperren eingerichtet, und Skid und eine Menge Deputys durchforsten jetzt den Wald hinterm Haus.«
»Auto?«
»Nein.«
»Wir glauben, dass er weg ist, bevor die Straßensperren eingerichtet wurden«, wirft der Deputy ein. »Nick Kester ist der Fahrzeughalter eines weißen Toyota Tacoma, Baujahr 2008, was in die Suchmeldung mit aufgenommen wurde.«
Tomasetti blickt zur Tür, sieht die kaputte Glasscheibe und die Splitter auf dem Boden. »Was ist passiert?«
Ich berichte ihm alles, doch ich habe kein gutes Gefühl dabei, denn als Polizistin hätte ich fähig sein müssen, Kester aufzuhalten. »Es ist alles so schnell passiert, Tomasetti. Er stand plötzlich … einfach da, im Flur. Mein Funkgerät und die Pistole waren oben, ich konnte nichts machen. Da hab ich das Handy nach ihm geworfen und bin weggerannt.«
So wie er jetzt die Hintertür ansieht, will er hineingehen und sich selbst ein Bild machen, aber solange die Spurensicherung hier noch durchmuss, können wir nicht riskieren, mögliche Beweise zu vernichten.
»Du hast nichts gehört?«, fragt er.
»Überhaupt nichts.« Wir beide wissen, dass ich wie ein Murmeltier schlafe.
»Irgendeine Ahnung, wie lange er im Haus war?«
»Nein.«
Er blickt weg und fragt sich gewiss, wie viel Zeit zwischen seiner Abfahrt und Kesters Eindringen in das Haus vergangen ist und was alles hätte passieren können.
Als spüre er, dass wir einen Moment für uns allein brauchen, zieht der Deputy sein Smartphone aus der Tasche. »Entschuldigen Sie mich«, sagt er und geht die Veranda hinunter.
Ich sehe ihm nach, wie er mit dem Telefon am Ohr zu seinem Streifenwagen geht.
»Er hat ein Mal geschossen?«, fragt Tomasetti.
Ich nicke. »Die Kugel ist in der Wand gelandet, oben im Flur. Die Spurensicherung kann sie bestimmt rausholen.«
»Himmelherrgott, Kate.« Er fährt sich mit der Hand übers Gesicht. »Schießt auf eine Polizistin? Der Typ ist komplett durchgeknallt.«
»Ich weiß.«
»Hast du eine Idee, wie er unsere Adresse rausgekriegt hat?«
Ich zucke die Schultern. »Heutzutage kann man so gut wie alles online rausfinden.«
»Kester scheint mir nicht gerade der Recherche-Typ zu sein.« Er denkt kurz nach. »Könnte er dir nach Hause gefolgt sein?«
Daran hätte ich denken müssen, und ein ungutes Gefühl beschleicht mich. »Tomasetti, ich war wirklich vorsichtig. Das hätte ich gemerkt.« Doch im Stillen gestehe ich mir ein, dass ich abgelenkt war und wohl doch nicht so vorsichtig, wie ich gerade behauptet habe.
Keiner von uns beiden erwähnt meine Schwangerschaft, aber genau das sagt mehr als Worte.
Ich erzähle ihm von Doc Coblentz’ Befund, dass Lucy Kesters Verletzungen höchstwahrscheinlich von einem Schütteltrauma stammen. »Er wollte noch eine zweite Meinung einholen, aber das ist bei seiner Untersuchung herausgekommen.«
Tomasetti spannt die Kiefermuskeln an. »Dieser beschissene Kester will das vertuschen und ungeschoren davonkommen.«
»Er versucht, es mir anzuhängen. Seine Frau beschuldigt mich …«
»Sie weiß vielleicht nicht, dass er das Kind misshandelt hat. Ein Scheißspiel ist das.«
Ich versuche zu lächeln, um ihm zu zeigen, dass ich damit klarkomme. Doch das Lächeln ist nur ein Lippenzucken und fühlt sich obendrein wie eine Lüge an.