13. Kapitel
Etwa alle zwei Wochen trommle ich meine Officer zu einem Meeting zusammen. Unser Polizeirevier ist klein, mich eingeschlossen sind wir nur vier Vollzeit-Polizisten, und an den meisten Tagen löst einer den anderen ab. Roland »Pickles« Shumaker, mein Hilfspolizist, hat sein Rentenalter schon mehr als zehn Jahre überschritten und arbeitet zirka zehn Stunden die Woche, meist als Lotse beim Zebrastreifen an der Schule. Ich kommuniziere mit meinen Kollegen via E-Mail, Mobiltelefon und Funk, wobei wir uns gegenseitig über die Ereignisse in Painters Mill und Holmes County auf dem Laufenden halten. Aber als Polizeichefin halte ich regelmäßige persönliche Treffen, bei denen wir zusammensitzen und reden und manchmal auch ein wenig Dampf ablassen, für ausgesprochen wichtig.
Tomasetti und ich konnten letzte Nacht nicht viel klären. Wir haben keine Entscheidungen getroffen und auch nicht über unsere Zukunft oder die Auswirkungen meiner Schwangerschaft auf unsere Beziehung gesprochen. Trotzdem bin ich heute Morgen entspannter, und zwar schlicht und einfach, weil ich ihm die Wahrheit gesagt habe. Das hat mir eine große Last von den Schultern genommen, denn ich muss nicht mehr allein damit klarkommen.
Jetzt stehe ich in unserem Besprechungszimmer mit dem bunt zusammengewürfelten Mobiliar am Tischpult. In den meisten Berichten, die ich gerade gehört habe, ging es um die Schäden und Aufräumarbeiten nach dem Tornado. Es hat ein paar nächtliche Plünderungen gegeben, hauptsächlich in Geschäften, und einige Betrüger haben sich als Handwerker ausgegeben und die Hausbesitzer übers Ohr zu hauen versucht.
Ich beende das Meeting mit einem Bericht über die neuesten Erkenntnisse hinsichtlich des Knochenfundes in der Scheune.
»Ach du heilige Scheiße«, murmelt Skid. »Tod durch Schweine.«
»Das klingt nach einem Horror-Roman«, fügt T.J. hinzu.
Der Bemerkung folgt allgemeines heftiges Kopfnicken.
»Heißt das, wir haben es mit einem Verbrechen zu tun?«, fragt Glock.
»Auch wenn der Tod selbst vielleicht ein Unfall war – zum Beispiel ein Sturz in einem Schweinekoben –, hat ein Unbekannter möglicherweise die Leiche verstecken wollen.« Ich sehe Skid an. »Nolt hat eine Zeitlang in dem großen Schweinezuchtbetrieb in Coshocton County gearbeitet.«
»Na bitte, da haben wir’s ja schon«, sagt Glock.
»Hewitt Hog Producers«, ergänzt Pickles.
Ich nicke ihnen zu, dann wende ich mich wieder an Skid. »Besorgen Sie mir die Namen und Kontaktinfos aller Personen, die in den zwei Monaten vor Nolts Verschwinden dort gearbeitet haben. Und überprüfen Sie, ob jemand davon vorbestraft ist oder polizeilich gesucht wird.«
»Mach ich.«
»Wenn Nolt also dort im Schweinestall gestorben ist«, sagt Glock, »wie kommt es dann, dass seine Leiche unter der alten Scheune gefunden wurde?«
»Mit dem Auto sind es zwanzig Minuten bis dahin«, sagt Skid.
»Vielleicht hatte Nolt eine Meinungsverschiedenheit mit einem Kollegen«, sagt T.J. »Sie haben sich im Schweinestall gestritten oder geprügelt, und Nolt ist dabei umgekommen. Der andere hat Panik gekriegt und die Leiche in dem Kriechkeller unter der Scheune versteckt.«
»Wenn es ein Unfall war, warum hat er dann nicht die Polizei gerufen?«, fragt Pickles.
Skid grinst den alten Mann an. »Nicht alle sind so smart wie du, Pickles.«
»Vielleicht stand er auf irgendeiner Fahndungsliste«, meint Glock.
»Oder im Schweinezuchtbetrieb sind illegale Machenschaften gelaufen, und man wollte nicht, dass Nolt da gefunden wird«, sagt T.J. »Vielleicht hatten sie gegen Vorschriften der Umweltschutzbehörde verstoßen.«
»Das alles muss genau unter die Lupe genommen werden.« Ich werfe einen Blick auf meine Notizen. »Fast alle Zeugen, die ich wegen Leroy Nolt befragt habe, sagen, dass er eine Freundin hatte. Interessanterweise hat er niemandem ihren Namen oder ihre Identität verraten. Weder seiner Familie noch seinem besten Freund oder seinen Kollegen.«
Pickles zuckt die Schultern. »Das Erste, was mir dazu einfällt, ist, dass sie verheiratet war.«
»Nolts Schwester, Rachel Zimmermann, hat ihn wenige Wochen vor seinem Verschwinden mit einem amischen Mädchen zusammen gesehen«, sage ich. »Leider weiß sie nicht, wer das Mädchen war. Das müssen wir unbedingt herausfinden.« Ich nehme das Foto von dem Ring, das Dr. Stevitch geschickt hat, und reiche es Pickles. »Der forensische Anthropologe hat diesen Ring vor Ort gefunden. Er sieht aus wie ein Verlobungsring. Wir glauben, der Verstorbene hat ihn bei sich gehabt, als er starb.«
Pickles legt den Kopf in den Nacken und sieht sich das Foto durch die Bifokalbrille an. »Es gab mal einen kleinen Juwelierladen hier in Painters Mill. Den Namen weiß ich nicht mehr, aber er hatte preisgünstigen Schmuck. Hat schon vor Jahren dichtgemacht.«
Mein Interesse ist geweckt. »Wie lange ist das her?«
»O je, Chief, bestimmt schon fünfzehn oder zwanzig Jahre. Ich erinnere mich nur noch daran, weil ich Clarice da einmal ein Bettelarmband gekauft habe, weil sie sauer auf mich war.« Plötzlich schlägt er sich mit dem Foto in die offene andere Hand. »Daisy’s. So hieß der Laden.«
»Versuchen Sie, den Besitzer ausfindig zu machen«, beauftrage ich ihn. »Zeigen Sie ihm das Foto, und finden Sie heraus, ob der Ring dort verkauft wurde. Wir brauchen den Namen des Kunden.«
Pickles’ Brust schwillt leicht an. »Ich fang sofort damit an.«
»Chief, glauben Sie, die mysteriöse Frau hatte etwas mit seinem Tod zu tun?«, fragt T.J.
»Ich weiß es nicht«, sage ich. »Aber wir sollten der Sache nachgehen.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine Frau die Leiche von einem Ort an einen anderen gebracht hat«, sagt Skid.
»Oder einzelne Körperteile«, wirft Glock ein.
»Die ganze Schweineszenerie klingt nicht nach einem Verbrechen, das eine Frau begehen würde«, fügt Pickles hinzu.
»Die Nolts sind Mennoniten, stimmt’s?«, fragt Glock.
Ich nicke. »Wenn das Mädchen amisch war, hat er vielleicht befürchtet, dass ihre Eltern dagegen sind, und deshalb niemandem von ihr erzählt.«
»Oder seine Eltern«, wirft Mona ein, die bei der Tür sitzt, um gegebenenfalls das Telefon zu hören. »Weil es womöglich zu einem Konflikt zwischen den Familien geführt hätte.«
Etwas schießt mir durch den Kopf, es hat mit Amischen zu tun, was ich vor kurzem gesehen oder gehört habe. Ich will es festhalten, doch es entwischt mir, und dann ist es weg. »T.J., reden Sie mit den Leuten, die in der Gellerman Road im näheren Umkreis der Scheune wohnen. Finden Sie heraus, ob jemand schon vor dreißig Jahren dort gelebt hat und vielleicht damals etwas mitbekommen hat.«
»Mach ich, Chief.«
Ich erzähle ihnen von meinem Gespräch mit dem Sohn des Arztes, der Nolts gebrochenen Arm operiert hatte. »Wenn die Seriennummern übereinstimmen, wissen wir wenigstens definitiv, wer der Tote ist.« Ich sammle meine Notizen ein und stecke sie in die Aktenmappe. »Danke, dass Sie alle gekommen sind«, sage ich zu meinem Team, und über die Schulter hinweg zu Mona. »Danke fürs Längerbleiben.«
Sie salutiert grinsend.
Die Akte in der Hand, verlasse ich das Besprechungszimmer und gehe zu meinem Büro, mache aber an der Kaffeetheke halt und schenke mir einen Kaffee ein. Ich versuche, den Gedanken, der mir gerade entwischt war, irgendwie zurückzuholen, als ich jemanden durch die Eingangstür kommen höre. Ich drehe mich um und sehe einen kleinen Mann mit ungepflegtem, graumeliertem Bart, in Hawaiihemd und mit leicht ramponiertem Filzhut auf die Empfangstheke zusteuern. Er kommt mir bekannt vor, ich habe ihn schon in der Stadt gesehen, aber keine Ahnung, wer er ist.
Lois steht auf. »Kann ich Ihnen helfen?«, fragt sie ihn.
»Chief Burkholder?«, fragt er.
Ihr Blick schnellt zu mir, sie will wissen, ob ich zu sprechen bin. Ich stelle die Kaffeetasse ab und gehe zu ihnen hinüber. »Ich bin Chief Burkholder«, sage ich. »Was kann ich für Sie tun?«
Er hält mir einen großen weißen Briefumschlag hin. Ich nehme ihn entgegen, und er grinst. »Damit ist er ordnungsgemäß zugestellt. ’nen schönen Tag noch.«
Ich blicke auf den Umschlag. Er ist an mich adressiert, der Absender ist eine Anwaltskanzlei. Noch bevor ich ihn öffne, weiß ich, was drin ist. Die Eltern von Lucy Kester verklagen mich wegen schuldhaften Verhaltens mit Todesfolge, vielleicht sogar die Polizei und die Stadt Painters Mill.
Um mich herum ist es still geworden. Vage nehme ich wahr, dass Lois mit einem Anrufer spricht. Mona steht zwischen Empfangs- und Kaffeetheke. Sie hatte eine SMS geschrieben, blickt jetzt aber in meine Richtung. Skid, T.J. und Pickles hatten sich vor ihren Boxen unterhalten, doch selbst sie sind jetzt verstummt und sehen mich an.
Glock kommt mit einer Tasse Kaffee in der Hand zu mir. »Ist alles in Ordnung, Chief?«
»Wahrscheinlich nicht«, murmele ich.
»Ich hab die Sache mit Kester gehört.« Er nippt an seinem Kaffee, als wäre das alles kein Problem. Doch wir beide wissen, dass das nicht stimmt. »Sie wissen aber, dass es in Ohio eine gesetzliche Haftungserleichterung für Retter gibt, ja?«
Er ist der Zweite, der mich daran erinnert. Obwohl ich seinen Beistand zu schätzen weiß, ist mir doch klar, dass so eine Klage trotz dieses Gesetzes problematisch sein kann. Und auch teuer, nicht nur für die Stadt, sondern auch für mich persönlich.
Ich hebe den Umschlag an und schlage mit der freien Hand drauf. »Ich muss mir das mal ansehen.«
»Diese verdammten Aasgeier«, murmelt Pickles und meint die Anwälte.
Skid zeigt zur Tür, durch die der Bote hinausgegangen ist. »Dem kleinen Scheißer hätte ich vor ein paar Tagen einen Strafzettel verpassen sollen und nicht nur eine Verwarnung.«
Mein Team versucht, mich trotz der ernsten Situation aufzuheitern. »Ich glaube nicht, dass mir das jetzt viel geholfen hätte«, entgegne ich.
»Stimmt, aber wir alle würden uns besser fühlen«, sagt Glock.
Ich bin keine Rechtsanwältin, muss aber auch nicht Jura studiert haben, um zu wissen, dass dieser Rechtsstreit ein ernstes Problem werden kann. Kester verklagt nicht nur die Stadt Painters Mill und die Polizeibehörde, sondern auch mich persönlich. Trotz der gesetzlichen Haftungserleichterungen für Retter in Ohio muss ich an dem Verfahren teilnehmen. Ich bin gezwungen, einen Anwalt zu bezahlen und Zeit und Energie in die Verteidigung meines Verhaltens am Tag von Lucy Kesters Tod zu investieren. Und obwohl ich wahrscheinlich von jeglichem Fehlverhalten freigesprochen werde, besteht doch auch immer die Möglichkeit, dass es anders läuft. Falls das geschieht, würde es mich nicht nur als Privatperson treffen, sondern auch meine Position als Polizeichefin gefährden.
Ich überfliege die einzelnen Anklagepunkte: Am oder gegen Nachmittag des 3. Juni betrat Chief of Police Kate Burkholder, zu der Zeit dienstfrei, die schwer beschädigten Räumlichkeiten von Paula und Nick Kester, 345 Westmoreland, Painters Mill, Ohio. Burkholder, eine ausgebildete Rettungssanitäterin, stellte bei der vier Monate alten Lucy Ann Kester schwere Verletzungen fest und trug das Kind, entgegen den Vorschriften für Rettungssanitäter, ohne Verwendung einer Halskrause oder Rückenstütze ins Freie. Als unmittelbare Folge von Burkholders Entscheidung, das Kind ohne diese Hilfsmittel aus den Räumlichkeiten zu entfernen, verstarb Lucy Ann Kester vier Stunden später im Pomerene Hospital in Millersburg. Laut Autopsiebericht des Homes County Coroner hat der Säugling Lucy Ann Kester einen Bruch der Halswirbelsäule erlitten. Es wird festgestellt, dass der verstorbene Säugling die schwere Verletzung voraussichtlich überlebt hätte, wenn eine Halskrause oder Rückenstütze angelegt worden wäre …
Die Klageschrift umfasst noch weitere Seiten, die ich aber nicht lese. Und zum hundertsten Mal wird mir klar, dass die gesetzliche Haftungserleichterung für Retter mich zwar juristisch, nicht aber vor meinem eigenen Gewissen schützt.
Ich will mit Tomasetti sprechen und seine Meinung dazu hören – und merke mit Schrecken, wie sehr ich ihn in diesem Moment brauche. Es macht mir Angst, denn wenn wir uns jemals trennen sollten, wüsste ich nicht, was ich tun soll. Vielleicht verlasse ich mich ein bisschen zu sehr auf ihn.
Ich wähle Bürgermeister Auggie Brocks Büronummer aus dem Gedächtnis. Er klingt verstört, und mir ist sofort klar, dass man auch ihm die Klageschrift zugestellt hat. »Haben Sie auch die Klage bekommen?«, frage ich trotzdem.
»Ja«, sagt er. »Und Sie?«
»Leider.«
»Abgesehen vom Tod des kleinen Mädchens, ist das keine gute Werbung für Painters Mill oder die Polizeidienststelle. Wir sind eine Touristenstadt, Himmelherrgott.«
»Das ist mir bewusst.«
»Haben Sie einen Anwalt?«
»Nein.« Die Vorstellung bereitet mir Unbehagen. »Gibt es jemanden, der uns in solchen Fällen vertritt?«
»Seitz und Seitz.«
Hoover Seitz ist ein brillanter Anwalt, aber auch ein Genießer von Happy-Hour-Martinis.
Auggie seufzt und benennt schon das nächste Problem. »Wir haben kein Budget mehr für einen verdammten Prozess.«
Möglicherweise macht er nur seiner Frustration Luft, allerdings befürchte ich auch, dass ich keine Rückendeckung von ihm erwarten kann. Er ist gezwungen, die Kosten für die Verteidigung meiner Dienststelle zu tragen, aber nicht für mich persönlich. Das könnte meinen finanziellen Ruin bedeuten.
»Auggie«, sage ich mit fester Stimme. »Ich erwarte Ihre Unterstützung in dieser Angelegenheit.«
»Natürlich unterstütze ich Sie, Kate. Ich tue alles, was ich kann, aber wenn kein Geld da ist, ist keins da.«
Blanke Wut steigt in mir auf, doch ich lasse sie nicht raus, obwohl schon genug andere negative Emotionen in mir wüten.
»Wenn Sie irgendwelche Nachfragen von Presseleuten bekommen, schicken Sie sie zu mir«, sagt er.
»In Ordnung.«
»Und rufen Sie Hoover auf jeden Fall vor der Happy Hour an.«
Nach dem kurzen Gespräch mit Hoover Seitz fühle ich mich ein wenig besser. Er erklärt mir, dass der Rechtsbeistand der Familie Kester eine Kanzlei in Columbus ist. Sie ist bekannt dafür, dass sie solche Fälle kostenlos vertritt, weil sie auf Klientenfang ist und den Kummer trauernder Eltern benutzt, um sich mildtätig zu geben. Es sei mit einer außergerichtlichen Einigung zu rechnen, wobei die Kosten von der Haftpflichtversicherung der Stadt getragen werden. Jeder bekäme ein bisschen Geld, ein Happy End für alle, außer natürlich für Lucy Kester.
Ich brüte eine Stunde lang über den Papieren und Berichten, die sich in der immer dicker werdenden Akte von Leroy Nolt angesammelt haben. Todesart und -ursache kenne ich zwar noch immer nicht, doch in Anbetracht der vorliegenden Informationen neige ich zu der Auffassung, dass er ein gewaltsames Ende gefunden hat. Der bei den Knochen gefundene Müllbeutel weist darauf hin, dass jemand sie dorthin transportiert und versteckt hat. Wenn Nolt bei einem gewöhnlichen Arbeitsunfall gestorben wäre, hätte selbst jemand mit dem Verstand einer Ameise die Polizei gerufen – es sei denn, er hätte den Tod direkt oder indirekt mitverschuldet. Aber wer konnte einen Grund haben, einen zwanzigjährigen Mennoniten umzubringen?
Zwei Szenarien fallen mir dazu ein. Erstens: Drogen. Vor dreißig Jahren waren Methamphetamine die neuen Verkaufsschlager unter den Drogendealern. Auch Kokain, Marihuana und eine Vielzahl illegal hergestellter Pillen brachten viel Geld ein, selbst in ländlichen Gegenden wie Painters Mill. Wenn Nolt eine Zeitlang »über die Stränge geschlagen hatte«, wie seine Eltern sagten, und unbedingt das große Geld machen wollte, wäre ein schiefgelaufener Drogendeal ein nicht von der Hand zu weisendes Szenario.
Trotzdem fühlt sich der Drogen-Ansatz irgendwie falsch an. Wenn Eltern mir erzählen, ihr Kind habe nichts mit Drogen zu tun, betrachte ich das grundsätzlich nur unter Vorbehalt, weil Eltern immer die Letzten sind, die davon erfahren, und zwar meistens von der Polizei. Aber in diesem Fall glaube ich Sue und Vern Nolt. Und auch Clarence Underwood – obwohl er ein Ex-Sträfling und ehemaliger Drogenkonsument ist –, der gesagt hat, Nolt hätte niemals Drogen genommen oder verkauft.
Das zweite Szenario hat etwas mit der unbekannten Frau zu tun, mit der Leroy angeblich eine Beziehung hatte. Die Amische, mit der Rachel Zimmermann ihn zusammen gesehen hat. War sie minderjährig? Oder verheiratet? War das der Grund, warum sie die Beziehung geheim gehalten hatten? Beide Szenarien würden passen. Untreue ist ein gängiges Mordmotiv und hat schon viele Menschen zu Gewalttätern werden lassen. War das in diesem Fall auch so? Wer war die Frau? Weiß sie, was mit Nolt passiert ist? Und was ist aus ihr geworden? Lebt sie noch hier in der Gegend?
Ich verbringe die nächste Stunde damit, Vermisstenanzeigen von amischen und mennonitischen Frauen zwischen vierzehn und fünfundzwanzig durchzusehen, die etwa zur gleichen Zeit wie Nolt verschwunden sind, doch ohne fündig zu werden. Aber als ich noch einmal meine Notizen vom Gespräch mit Nolts Eltern durchlese, bekomme ich plötzlich den Gedanken zu fassen, der mir vorhin entwischt war: der amische Quilt an der Wand im Haus von Sue und Vern Nolt. Laut Sue Nolt war er ein Geburtstagsgeschenk ihres Sohnes kurz vor dessen Verschwinden. Woher hatte er ihn? Amische Quilts sind sehr arbeitsaufwendig – und keineswegs billig. Manche kosten über tausend Dollar. Wie ist es möglich, dass ein zwanzig Jahre alter Mann, der in einem Geschäft für Farmbedarf arbeitet und Geld auf die Seite legen will, einen amischen Quilt für seine Mutter kaufen kann?
Der Gedanke gibt mir einen Energieschub, ich greife zum Telefon und rufe die Nolts an. Sue nimmt nach dem dritten Klingeln ab. »Oh, hallo, Chief Burkholder.«
»Tut mir leid, Sie schon wieder zu stören«, beginne ich, »aber ich habe gerade noch einmal meine Notizen von unserem Gespräch durchgelesen und dabei gemerkt, dass ich Sie gar nicht über den Quilt befragt habe.«
»Den Quilt? Den mir Leroy zum Geburtstag geschenkt hat?«
»Wissen Sie, wo er ihn herhatte?«
»Nein. Ich hab immer angenommen, er habe ihn in einem Laden im Ort gekauft.«
»Wissen Sie, ob die Quilterin ihre Initialen eingestickt hat? Das machen sie ja manchmal.«
»So genau habe ich ihn mir nie angesehen, aber das kann ich gleich mal nachholen. Bleiben Sie einen Moment dran.«
Sie legt das Telefon ab, ich höre gedämpfte Stimmen, warte, klopfe mit dem Stift auf die Akte. Ganze zwei Minuten vergehen, dann ist sie wieder am anderen Ende.
»Nun«, beginnt sie. »Ich bin nicht groß genug, um mir die oberen zwei Ecken anzusehen, deshalb musste Vern ihn abhängen. Und tatsächlich hat die Quilterin oben ihre Initialen eingestickt.«
»Wie lauten sie, Mrs Nolt?«
»A.K.«, sagt sie. »Sie sind direkt auf den Stoff gestickt, mit braunem Garn.« Sie seufzt. »Wer immer sie ist, sie macht wunderschöne Quilts.«
Nachdem ich mich dankend von ihr verabschiedet und die Initialen auf einem neuen Blatt Papier notiert habe, durchforste ich mein Gedächtnis nach Namen mit diesen Anfangsbuchstaben in Verbindung mit dem Fall, doch mir fällt keiner ein. Ich blättere meine Notizen und die Berichte durch, doch auch da finde ich nichts. Ist A.K. das Mädchen, mit dem Leroy Nolt vor seinem Tod zusammen war? War sie eine Quilterin? Oder ist A.K. die Mutter oder eine Verwandte des Mädchens? Oder liege ich total falsch und Leroy hat tatsächlich eintausend Dollar berappt, um seiner Mutter einen Quilt zum Geburtstag zu schenken? Mein Verstand sagt mir, dass das doch eher unwahrscheinlich ist.
Ich hole die Liste der Schweinezüchter hervor, die meine Rezeptionistin zusammengestellt hat, und überfliege sie nach amischen und mennonitischen Namen mit dem Anfangsbuchstaben K. Aber keiner der amischen Nachnamen beginnt damit. Entweder gibt es keine entsprechenden Namen, oder, was wahrscheinlicher ist, die Amischen haben die Auskunft verweigert.
Frustriert lasse ich die Liste auf meinen Schreibtisch sinken. Da fällt mir plötzlich ein Ort ein, wo ich den Namen der Quilterin eines so alten Quilts eventuell erfahren könnte – und dieser Ort ist vom Revier aus zu Fuß zu erreichen.
En Schtich in der Zeit ist Pennsylvaniadeutsch und heißt in etwa: »Ein Stich nach dem anderen.« Es ist der Name eines amischen Quilt- und Handarbeitsladens in der Main Street, nur zwei Blocks vom Polizeirevier entfernt. Seit meiner Rückkehr nach Painters Mill bin ich Hunderte Male daran vorbeigefahren, aber da ich nicht handarbeite, hatte ich nie einen Grund hineinzugehen. Die schönen Schaufenster sind mir jedoch oft aufgefallen. Zu jedem Feiertag lässt sich die Besitzerin interessante und kreative Dekorationen für die altmodischen Fenster einfallen, besonders zu Weihnachten.
Beim Betreten des Ladens klimpert heiter das Windspiel an der Eingangstür. Der Duft von Zimt und Haselnüssen empfängt mich und beschwört in meinem Kopf Bilder von frischem Gebäck und Kaffee herauf. Der langgezogene, schmale Verkaufsraum ist angenehm hell von dem Tageslicht, das durch die Schaufenster hereinfällt. Rechts und links an den Wänden hängt auf Holzbügeln Kinderbekleidung – schlichte Kleider, Hemden und Hosen für Jungen –, die handbeschriebenen Preisschilder diskret nach innen gedreht. Weiter vorn und rechts von mir sind schwenkbare Holzstangen an der Wand befestigt und mit akkurat zusammengelegten Quilts bestückt, immer der schönste obendrauf. Die traditionellen Muster – Rauten, Sterne und Friedenstauben – fallen mir sofort ins Auge. Weiter hinten stehen zwei Betten mit Quilts für Kinder darauf, die sicher an viele Generationen weitervererbt werden. An der Wand über den Betten hängen Quilts für Babybettchen sowie Wandbehänge.
Ganz hinten sitzen fünf amische Frauen an einem langen Klapptisch, auf dem in der Mitte ein antiquiertes Nähkästchen steht und drumherum Stoffe und das benötigte Nähzeug liegen. Die Frauen sehen mich an wie einen streunenden Hund, der sich in den Laden verirrt hat. Ihre Blicke sind zwar nicht unfreundlich, aber ein Lächeln sehe ich auch nicht. Ob sie wissen, wer ich bin?
»Kann ich Ihnen helfen?«
Hinter der Verkaufstheke rechts von mir steht eine junge amische Frau im schlichten blauen Kleid mit schwarzer Schürze und Kapp aus Organdy. Sie ist schlank, hat eine Haut wie Milch und Honig und leuchtendgrüne Augen mit dichten Wimpern. Der Berg Haferplätzchen mit Rosinen neben ihr auf einem Teller sieht selbstgebacken aus.
»Hallo.« Ihr Lächeln erwidernd, gehe ich zu ihr hin und zeige ihr meine Dienstmarke. »Chief of Police Kate Burkholder«, stelle ich mich vor.
»Oh, hallo.« Sie legt den Kopf zur Seite. »Sie müssen Sarahs Schwester sein.«
»Stimmt. Kennen Sie sie?«
»Sarah kommt ab und zu her, um Nähzeug zu kaufen. Gerade gestern hat sie Garn und Stoffe geholt und erzählt, dass sie an einem Hochzeitsquilt für ihre Nachbarn arbeitet.« Als ihr bewusst wird, dass die anderen Frauen zuhören, senkt sie den Blick. Sie ist unsicher, wie freundlich sie sein darf, jetzt wo sie weiß, wer ich bin.
»Sie hot net der glaawe«, sagt eine der Frauen hinter vorgehaltener Hand. Sie hat unserem Glauben abgeschworen.
»Mer sot em sei Eegne net verlosse; Godd verlosst die Seine nicht«, füstert eine andere. Man soll sich von den Seinen nicht abwenden; Gott wendet sich von den Seinen nicht ab.
Die junge Frau presst die Lippen zusammen und blickt hinab auf die Registrierkasse. Sie sagt nichts, sieht mich auch nicht an.
Ich beuge mich zu ihr vor und sage leise: »Wer lauret an der Wand, Heert sie eegni Schand.« Wer an der Wand lauscht, hört seine eigenen Missetaten.
Die junge Frau lacht laut auf, reißt sich aber schnell zusammen und presst die Hand auf den Mund. Doch das Leuchten in ihren Augen verrät, dass sie guten amischen Humor zu schätzen weiß.
»Wie kann ich Ihnen helfen, Kate Burkholder?«, fragt sie.
»Wahrscheinlich muss ich mit einer der anderen Damen sprechen, falls sie nicht zu beschäftigt sind«, sage ich laut genug, dass die Frauen es hören.
Eine füllige, etwa vierzig Jahre alte Frau steckt ihre Nähnadel fest und legt den Stoff auf den Tisch vor sich. Sie schiebt den Stuhl zurück, steht auf und kommt auf mich zu, den Blick entschlossen auf meine Augen gerichtet. Sie ist groß und kräftig und bewegt sich wie ein Schlachtschiff, Schultern nach hinten, Kinn erhoben, die festen Schuhe wuchtig auf dem Holzboden.
»Wei geth’s alleweil, Katie Burkholder?« Wie geht es dir jetzt?
Sie hat eine Stimme wie eine Kettensäge. Ich habe sie schon öfter in der Stadt gesehen, kann mich aber nicht an ihren Namen erinnern und fühle mich dadurch etwas im Nachteil. »Ich bin zimmlich gut.« Mir geht’s ganz gut.
Mit einem kühlen Blick schickt sie das junge Mädchen weg, das hinter der Theke hervortritt und zu dem langen Tisch geht, wo sie ihre Handarbeit wieder aufnimmt.
»Ich heiße Martha Yoder«, sagt sie und betrachtet mich eingehend, nicht sicher, ob ihr gefällt, was sie sieht. »Wir sind uns vor ein paar Jahren im Carriage Stop begegnet.«
»Schön, Sie wiederzusehen, Martha.« Wir geben uns die Hand. »Ich arbeite gerade an einem Fall«, sage ich laut genug, damit die anderen es auch hören können. »Ich bin auf der Suche nach einer amischen Frau, eine Quilterin oder Näherin mit den Initialen A.K. Sie hat 1985 einen hochwertigen Quilt gemacht und darin ihre Initialen gestickt.«
»Was hat sie angestellt?«, fragt die junge Frau, die bei meinem Eintreten hinter der Theke gestanden hat.
Die Frage bringt ihr ein spöttisches Lächeln ihrer Nachbarin ein.
»Was für ein Muster?«, fragt eine der anderen Frauen.
»Ein Stern in der Mitte«, antworte ich. »Die Farben sind ungewöhnlich, mauve, creme und schwarz.«
»A.K.« Martha kräuselt die Augenbrauen. »Hm, lassen Sie mich nachdenken.« Sie blickt über die Schulter zu den anderen und fragt auf Pennsylvaniadeutsch: »Wer hat nochmal ganz viel Rosa verwendet, das den Englischen Touristen so gefällt? Anna? Ada? Sie ist unten aus dem Süden, glaube ich. Hat immer schön was verdient mit ihren Quilts.«
Eine winzige Frau mit Silberhaar und wässrigen blauen Augen sieht von ihrer Handarbeit auf. »Die kleine Abby Klein hat viel mit Rosa gearbeitet. Und sie hat auch immer ihre Initialen aufgestickt. Ich kenne sie, seit der Herr sie in diese Welt gebracht hat. Das Mädchen macht Quilts seit seinem neunten Lebensjahr.«
Eine zweite Frau richtet sich im Stuhl auf und sieht mich an. »Die kleine Abby hätt ich fast vergessen, dabei hab ich ihr einen Hochzeitsquilt gemacht, als sie Jeremy Kline heiratete. Meine Güte, das ist jetzt dreißig Jahre her.«
»Dreißig Jahre und vier Babys«, fügt eine weitere Frau hinzu, beugt sich vor und beißt den Faden in ihrer Hand durch. »Sind jetzt alle schon erwachsen.«
»Sie kommt nur noch selten in die Stadt«, bemerkt eine der jüngeren Frauen.
»Hab sie letzte Woche im Lebensmittelladen gesehen«, wirft noch eine andere ein, wobei sie einen Faden durchs Nadelöhr fädelt.
Pennsylvaniadeutsch ist meine Muttersprache, und selbst nach so vielen Jahren, in denen ich fast nur englisch gesprochen habe, wechselt mein Hirn überraschend leicht zu ihr zurück. »Wie war ihr Mädchenname?«
»Kaufman«, sagt eine der Frauen.
Ich will auf keinen Fall, dass sie anfangen zu spekulieren oder irgendwelchen Tratsch verbreiten, aber ich brauche Informationen. Diese Frauen hier wissen offensichtlich gut Bescheid, was in der amischen Gemeinde so vor sich geht, deshalb gehe ich das Risiko ein. »Erinnern Sie sich zufällig, ob Abigail Leroy Nolt kannte?«
Die ältere Frau – die alt genug ist, um sich an Nolts Verschwinden zu erinnern – heftet den Blick auf mich. »Die kleine Abby war immer mit Jeremy zusammen«, erklärt sie mir. »Immer.«
Die jüngste Frau macht große Augen. »Hat Abby was mit den Knochen zu tun?«
Keine der anderen sieht sie an. Ich lasse ihre Frage unbeantwortet.
Die älteste Frau widmet sich wieder ihrer Handarbeit. »Die kleine Abby hatte immer nur Augen für Jeremy.«
»Leroy Nolt war Mennonit«, sagt Martha. »Abby und ihre Familie sind Swartzentruber.«
»Das passt nicht zusammen«, sagt eine der Frauen.
Das höre ich nicht zum ersten Mal, und es ärgert mich heute noch genauso wie damals, als ich ein wütender, rebellischer Teenager war. Denn während Mennoniten und Amische die gleichen historischen anabaptistischen Wurzeln haben, sind die Unterschiede in der Lebensführung riesengroß – die Verwendung von Strom und das Autofahren sind nur zwei Beispiele. Der gravierendste Unterschied ist jedoch der Grundsatz, sich von Andersdenkenden abzusondern – eine Maxime, die bei den Amischen eine zentrale Rolle spielt, bei den Mennoniten hingegen nicht. Die meisten Amischen, die ich kenne, verkehren zwar mit ihren mennonitischen Nachbarn, aber wie in allen Kulturen, gibt es auch hier die Intoleranten.
Die alte Frau blickt von ihrer Handarbeit auf und sieht mich aus harten blauen Augen an. »Katie Burkholder, ich halte es für das Beste, Sie kümmern sich um Ihre eigenen Angelegenheiten.«