Prolog

29. August 1985

Über die alte Scheune kursierten viele Geschichten. Die neunjährige Sally Ferman kannte sie alle, und jede einzelne machte ihr Angst. Ihr Dad hatte erzählt, dass das Stück Land ursprünglich Hans Schneider gehört hatte, einem jungen deutschen Einwanderer. Hans baute eine Blockhütte darauf und heiratete Rebecca, eine Französin. Sie bekamen drei Söhne, und über die Jahre errichteten er und seine Söhne die Scheune, züchteten Rinder und Schafe und pflanzten Tabak und Mais an.

Dann, in einer verschneiten Nacht des Jahres 1763, überfiel eine Bande Delaware-Indianer die Farm. Hans, der mit seinem Vorderlader am Fenster stand, wurde erschossen, seine Frau aus dem Haus gezerrt und skalpiert. Die drei Jungen – alle bewaffnet und bereit für den Kampf auf Leben und Tod – verbrannten bei lebendigem Leib, als die Delawaren das Blockhaus in Brand setzten. Es hieß, dass man nachts noch immer die Schreie Rebeccas hören könne, wie damals, als man ihr die Kopfhaut vom Schädel zog.

Sally wusste nicht, ob die Geschichte stimmte; sie hatte hier immer nur das Gurren der Tauben und gelegentlich das Quieken der Schweine gehört. Doch eines wusste sie sicher, nämlich dass sie keinen unheimlicheren Ort kannte als die alte Scheune mit dem steinernen Fundament und den dunklen Fenstern.

Sie wohnte auf dem Nachbargrundstück, von wo aus die Scheune mit dem verblichenen roten Anstrich und dem rostigen Blechdach ganz normal wirkte. Doch wenn man näher heranging, war sie ziemlich verrottet und sah unheimlich aus, nicht zuletzt wegen des schulterhohen Grases und Unkrauts um das brüchige Fundament herum. Letzten Sommer waren sie und ihre beste Freundin, Lola, dort hingeschlichen. Doch gerade als sie allen Mut zusammengenommen hatten und in die Scheune reingehen wollten, kam ein amischer Mann heraus. Sie bekamen einen Riesenschreck und versteckten sich im hohen Gras, was aber auch ziemlich aufregend war. Der Mann hatte dann aber nur vor die Tür gepinkelt, und obwohl sie sich vor Angst fast in die Hose gemacht hatten, mussten sie auf dem ganzen Nachhauseweg lachen. Sally hatte einige Mühe gehabt, ihrer Mutter die Kletten in ihren Haaren zu erklären.

Bei der Erinnerung seufzte Sally. Lola und sie hatten immer viel Spaß zusammen gehabt, doch Lola war letzte Weihnachten wegen des blöden Jobs ihres Vaters weggezogen, und sie fehlte ihr sehr. In letzter Zeit traf sich Sally öfter mit Fayrene Ehrlich, die vor kurzem aus Columbus nach Painters Mill gezogen war. Fayrene war hübsch und beliebt (ihre Mom erlaubte ihr sogar, Lippenstift zu tragen und die Beine zu rasieren) und hatte auch schon einen Platz im Softball-Team und im Mädchenchor ergattert, was Sally bisher nicht gelungen war. Und das lag sicher nicht daran, dass sie es nicht eifrig genug versucht hätte. Alle hielten Fayrene für das Beste, was Painters Mill seit dem neuen Baseballfeld bei der Mittelschule passiert war. Sally hielt Fayrene für eine großmäulige Besserwisserin. Und sie wusste genau, dass Fayrene gar nicht so klug war, denn sie hatte schon zweimal die Hausaufgaben bei Sally abgeschrieben.

Aber durch Lolas Wegzug blieb ihr nur Fayrene als Freundin. Und Tatsache war, dass Sally sich anstrengen musste, um zu beweisen, dass sie mutig und reif genug für die fünfte Klasse war. Ihre Mom hatte gesagt, sie solle sich von den Amischen nebenan fernhalten, weil die nicht wollten, dass englische Kinder in ihrer Scheune rumschnüffelten. Aber genau das musste Sally jetzt tun, um allen zu zeigen, dass sie kühner und doppelt so interessant war wie Fayrene Ehrlich. Deshalb wollte sie in der Schulcafeteria eine coole Story zu bieten haben und am besten noch irgendeinen sichtbaren Beweis, dass sie sich das wirklich getraut hatte.

»Kinderleicht«, flüsterte sie, als sie die Böschung am Bach hochstieg. Was Fayrene wohl machen würde, wenn Sally mit Rebecca Schneiders Skalp zurückkäme? Das würde sie bestimmt für alle Zeiten zum Schweigen bringen.

Sally blickte sich um, ob die Luft rein war, und flitzte dann über den Fußpfad hinauf zur Scheune, die an einen Hang gebaut war. Die Vorderseite zeigte hangaufwärts, und die Rückseite, unter der sich niedrige Ställe und im Freien davor Schweinekoben befanden, ging zur Weide. Vorne war ein großes Schiebetor, wo die Amischen mit ihrem Fuhrwerk rückwärts reinfuhren, um Heu abzuladen. Aber durch das Tor konnte Sally nicht rein, da man sie von ihrem Haus aus sehen würde. Und da es keine Seitentür gab, musste sie durch die hinteren Ställe gehen.

Mit gespitzten Ohren und den Blick auf die Vorderseite gerichtet, schlich sie nach rechts. Hier konnte sie bereits die Schweine riechen, den beißenden Ammoniak-Gestank, über den sich ihre Eltern jedes Mal aufregten, wenn der Wind ihn zu ihrem Haus herübertrug. Sie presste den Rücken an die Wand und spähte um die Ecke. Die Ställe hatten einen Lehmboden, am hinteren Ende war ein etwa dreißig Zentimeter hoher Misthaufen, und überall hatten Murmeltiere Löcher für ihre Höhlen gegraben. Murmeltiere fand sie auch total gruselig, besonders die großen. Ihre Mom sagte, sie sähen aus wie riesige Ratten.

Sally wollte gar nicht erst groß darüber nachdenken, schlüpfte um die Ecke und schaute nach oben. Die Scheune hatte zwei Stockwerke, oder drei, wenn man die Ställe darunter mitzählte. Es gab nur eine Möglichkeit, nach oben zu gelangen, und zwar durch eine der Heuluken in der Decke über den Ställen. Sie musste nur die Klappe wegschieben und durchklettern.

Sie blickte ein letztes Mal um sich, dann lief sie geduckt in den Stall und weiter bis ans hintere Ende, wobei sie immer Ausschau nach Murmeltieren hielt. Die tiefhängende Decke war voller Spinnweben, die wie schmutzige Zuckerwatte herunterbaumelten. Sie hörte die Schweine draußen in den Koben grunzen und mit ihren gespaltenen Hufen über den Betonboden scharren. Sie kam zu einer Heuluke, checkte sie kurz nach Spinnen und drückte dann die schwere Holzabdeckung mit beiden Händen nach oben. Staub, Dreck und Heureste rieselten ihr auf Gesicht und Schultern. Mit einiger Anstrengung schob sie die Platte beiseite, stellte sich auf die Zehenspitzen und steckte den Kopf durch die Luke.

Ein übler Geruch schlug ihr aus dem Inneren der Scheune entgegen. Es war so dunkel, dass sie weiter vorn nur mit Mühe einen Heuhaufen erkennen konnte, einen einzelnen Ballen Alfalfagras und an der Wand ein paar Leinensäcke mit Maiskörnern. Sally zog sich durch die Luke nach oben, rappelte sich auf die Füße, schlug den Staub von ihrer Hose und sah sich um. Die Tür mit Blick auf die Schweinekoben lag zu ihrer Rechten, links waren das riesige Scheunentor, ein Fuhrwerk und ein Fenster zum Farmhaus. Sie konnte kaum glauben, dass sie es ganz allein bis hierher geschafft hatte. Jetzt musste sie nur noch etwas finden, als Beweis, dass sie hier gewesen war, und dann nix wie weg.

Lautlos schlich sie über den Holzboden nach rechts, kam an einem Stützbalken vorbei, an dem Zaumzeug an einem Nagel hing, das nach Pferdeschweiß und Leder roch, ging um eine Schubkarre mit Pferdeäpfeln und Stroh herum, erreichte die Tür und sah hinaus auf einen moosgrünen Teich und den Fluss weiter hinten. Etwa drei Meter fünfzig unter ihr liefen Dutzende Borstentiere – Hampshire-Schweine und große rosa Schweine mit schwarzen Flecken – in einem Koben herum, der mit einem Stahlrohrgeländer umzäunt war. Ein paar Tiere sahen mit Knopfaugen flehentlich zu ihr hoch, und sie schaute sich nach Heu oder Mais um, das sie ihnen runterwerfen könnte.

»Ihr habt bestimmt Hunger«, flüsterte sie.

Sally zog gerade ein Büschel Alfalfa aus dem Ballen, als sie Stimmen hörte. Sie wirbelte herum und sah, dass das große Scheunentor aufgeschoben wurde. Vor Schreck hielt sie die Luft an, dann schoss sie zurück zur Luke, setzte sich auf den Rand, schob die Füße durch und sprang runter, gerade als mehrere Männer die Scheune betraten. Sie landete auf den Füßen, stellte sich sofort auf die Zehenspitzen, steckte den Kopf durch die Öffnung, packte die Holzplatte und zog sie zurück an ihren Platz. Doch sie schloss die Luke nicht ganz, sondern hielt sie mit dem Kopf ein Stück auf und spähte durch den etwa fünf Zentimeter großen Spalt. Viel konnte sie nicht sehen, nur drei Paar Beine in Hosen und Männerarbeitsschuhe.

»Sis alles eigericht«, sagte einer der Männer.

Ihr Herz hämmerte vor Aufregung und Angst, doch sie rührte sich nicht, hielt die Luke so weit offen, wie sie sich traute. Wenn sie in Sallys Richtung sahen, konnten sie sie entdecken, doch die Gefahr war gering, denn sie unterhielten sich angeregt. Oder stritten sie sich sogar?

Sie wollte die Luke gerade ganz schließen und nach Hause laufen, als die drei Männer zu schreien anfingen. Sie verstand weder Pennsylvaniadeutsch, noch konnte sie ihre Gesichter sehen, doch das war auch gar nicht nötig, um zu wissen, dass sie wütend waren. Ihre Mom hatte immer gesagt, die Amischen seien religiöse, sanftmütige Menschen, die nie gewalttätig würden. Doch diese Unterhaltung hatte nichts Sanftmütiges. Sie traute ihren Augen kaum, als einer der Männer den anderen heftig stieß.

Um ein Haar hätte sie aufgeschrien, denn sie kamen ihrem Versteck immer näher, scharrten mit den Schuhen über den Boden und wirbelten Staub auf, waren kaum noch einen Meter von ihr entfernt. Eine Faust traf klatschend auf nacktes Fleisch, gefolgt von einem wütenden Schrei, wildem Stoßen und Schlagen, jetzt wieder in Richtung der offenen Tür. Einer der Männer stürzte sich auf den Mann nahe der Tür, knurrte dabei wie ein Tier. Sally sah Füße vom Boden abheben, und dann fiel der Mann in hohem Bogen rückwärts, drehte sich mitten in der Luft mit ausgestreckten Armen und schien sie direkt anzusehen, den Mund offen in einem lautlosen Schrei. Dann war er verschwunden.

Der Zaun schepperte beim Aufprall seines Körpers so laut, dass Sally ein Winseln entfuhr. Als er auf dem Betonboden aufschlug, drückte sie sich die Hand auf den Mund und duckte sich so schnell, dass die Luke zuknallte, sie das Gleichgewicht verlor und auf dem Po im Dreck landete.

Was sie gerade beobachtet hatte, machte sie fassungslos. »Omeingott«, flüsterte sie. »Omeingott. Omeingott

War der Mann tot?

Die Männer über ihr waren still geworden. Hatten sie sie gesehen?

Sie rannte zur Vorderseite des Stalls, warf einen Blick nach rechts zum Schweinekoben und sah trotz der vielen Schweine durch die Stahlrohre der Einzäunung den Mann auf dem Betonboden liegen. Er bewegte sich, hob den Kopf und blickte benommen um sich. Ihr fiel ein Stein vom Herzen, denn sie war sicher gewesen, dass er den Sturz nicht überlebt hatte.

Doch die Erleichterung währte nicht lange. Die Schweine rannten quiekend umher, ein paar größere Tiere scharten sich dicht um den Mann herum, eines stupste ihn sogar mit der Schnauze. Der Mann schrie etwas und schlug mit der Faust nach dem Schwein.

»Helft ihm«, flüsterte sie mit Blick zur Decke, wo die Männer über ihr sicher alles mit ansahen. Warum halfen sie ihm nicht?

Sally wurde übel. Jetzt brüllte ein großer weißer Eber, drängte sich nach vorn und rammte seine Stoßzähne in den Mann, der einen furchtbaren Laut von sich gab. Sally sah den aufgerissenen Hemdsärmel, das schockierende Rot von Blut, und klapperte mit den Zähnen.

Sie machte die Augen fest zu. »Helft ihm«, wimmerte sie. »Bitte.«

Auf einmal veränderten sich die Geräusche im Koben, irgendetwas passierte gerade. Sally machte die Augen wieder auf. Die Schweine rannten aufgeregt hin und her, dicht an den Mann heran und wieder weg. Und dann beobachtete sie entsetzt, wie sich eine große Sau in der Schulter des Mannes festbiss und ihn wild schüttelte, so wie ein Hund ein Eichhörnchen in seinem Maul schüttelte. Der Mann wand sich und versuchte wegzurollen, doch ein weiteres Schwein biss ihn in den Arm. Sally hielt sich die Hände vors Gesicht, doch die Geräusche und Schreie konnte sie nicht ausblenden.

»Omeingott! Omeingott!« Sie unterdrückte ihre Schluchzer und rannte so schnell sie konnte weg von der Scheune. Dass die Männer sie sehen würden, wenn sie in ihre Richtung blickten, war ihr egal. Ohne sich nur einmal umzudrehen, erreichte sie den Zaun, quetschte sich zwischen dem Draht durch, riss ihr Shirt an einem Stachel ein und ritzte sich den Arm auf. Doch sie fühlte keinen Schmerz, raste mit angewinkelten Armen und brennenden Beinen den Feldweg entlang, das Grauen im Nacken.

Ihre eigenen Schreie verfolgten sie auf dem ganzen Weg nach Hause.

* * *
30. August 1985

Sie kam zwanzig Minuten zu früh an der überdachten Brücke an. Niemand wusste, wohin sie gegangen war. Ihre Nervosität trieb sie schier in den Wahnsinn. Aber freudig erregt war sie auch und froh, dass sie diesen Treffpunkt gewählt hatten. Die Tuskarawas-Brücke, an der sie sich im Sommer über ein Dutzend Mal getroffen hatten, war etwas ganz Besonderes. Hier hatten sich schon viele junge Verliebte zum ersten Mal geküsst, hatten sich Versprechen zugeflüstert, gelacht und von der Zukunft geträumt. Und wenn man alleine war, konnte man einfach hier sitzen und nachdenken.

An diesem Nachmittag war es so still hier, dass man die Rotschulterstärlinge hören konnte, die weiter unten beim angestauten Wasser von Baum zu Baum hüpften, und das Summen der Bienen, die um die gelben Spitzen der Goldruten entlang des schlammigen Ufers des Painters Creek schwirrten. Mit der Schulmappe in der Hand betrat sie die überdachte Brücke, auf der es wegen des Schattens ein wenig kühler war. Sie hob den Rock ihres Kleides – ihr schönstes, und auch die schwarze Kapp hatte sie sonst nur sonntags beim Gottesdienst auf – und setzte sich an das Fenster mit Blick auf den Fluss, der sich friedlich dahinschlängelte. Den gleichen Frieden wünschte sie sich für ihr Herz, doch den würde sie wohl so schnell nicht bekommen.

Nie zuvor hatte sie so viele widerstreitende Gefühle wie in dieser letzten Woche erlebt. Die Vorstellung, ein neues Leben mit ihm zu beginnen, machte sie überglücklich. Und doch war der Gedanke daran, ihre Familie verlassen zu müssen, unsäglich traurig. Sie würde ihre Mamm, ihren Datt und die jüngeren Geschwister furchtbar vermissen! Wie sollte sie den Alltag ohne die Weisheit ihrer Eltern bewältigen? Wie sollte sie abends ohne die Umarmungen und Küsse ihrer Brüder und Schwestern zu Bett gehen? Wussten die überhaupt, wie sehr sie sie liebte? Würden sie sich immer an ihre Schwester erinnern?

Die Alternative war, den Rest ihres Lebens ohne den Mann zu verbringen, den sie liebte – den sie bald heiraten wollte –, und das war ausgeschlossen. Es war nicht von Bedeutung, dass er ein Mennischt – Mennonit – war und obendrein der Neuen Ordnung angehörte. Er war ein guter Mann, freundlich und arbeitsam. Und das Wichtigste: Er liebte sie und wollte sie heiraten. Es war ihr egal, dass er Gott auf eine etwas andere Weise verehrte und dass sein Glaube es zuließ, modernen Komfort zu haben und ein Auto zu fahren.

Doch ihren Eltern war es nicht egal. Sie hatte versucht, ihnen zu erklären, dass er ein guter Ehemann sein würde, bestimmt hart arbeitete und für sie und ihre Kinder sorgte. Aber ihre Familie gehörte zu den Swartzentruber, den konservativsten aller amischen Gemeinden. Ihre Eltern waren demutig – unterwürfig und bescheiden – und hielten sich strikt an die Traditionen ihrer Vorfahren. Sie fuhren fensterlose Buggys mit stahlbereiften Holzrädern, lehnten die Nutzung von Strom ab und hatten im Haus weder ein Spülklosett noch Linoleumböden. Ihre Mamm trug eine Haube und ein Kleid, das bis fast zu den Knöcheln reichte. Ihr Datt hatte sich noch nie den Bart gestutzt.

Ihre Eltern glaubten daran, dass dieses Verhalten ihnen einen Platz im Himmel sicherte. Und deswegen würden sie ihr niemals Gehör schenken und sie auch niemals verstehen, geschweige denn ihre Wahl billigen. Am Ende hatten sie ihr keine andere Möglichkeit gelassen. Sie musste sich entscheiden zwischen ihrer Familie – deren striktem amischen Glauben – und der Zukunft mit einem Mann, den sie mehr liebte als ihr eigenes Leben.

Genau an diesem Ort hier hatten sie sich vor zwei Tagen das letzte Mal getroffen. Sie hatte lachen müssen, als er vor ihr auf die Knie fiel und ihr einen Heiratsantrag machte. Ringe wurden bei Amischen nicht getauscht, wenn sie sich verlobten. Aber sie hatte sich wie eine Prinzessin gefühlt, weil er einen hatte zurücklegen lassen – einen einfachen Goldring mit einem echten Diamanten –, den er abholen wollte, sobald er seinen Lohn bekam. Ihre und seine Freude wurde nur dadurch gedämpft, dass ihre Eltern ihnen niemals ihren Segen geben würden. Sie war erst siebzehn Jahre alt, aber schon getauft und würde unter Bann gestellt werden. Exkommuniziert. Niemand in der Gemeinde würde mit ihr sprechen oder gemeinsam mit ihr die Mahlzeiten einnehmen. Aber das Schlimmste war, dass sie ihre Geschwister nicht mehr sehen durfte. Allein diese Vorstellung tat ihr im Herzen weh!

Letzte Nacht, nachdem alle zu Bett gegangen waren, hatte sie ihre Schultasche hervorgeholt und gepackt. Unterwäsche, Socken, Kleider zum Wechseln, ein Stück Laugenseife von ihrer Mutter. Und ihre Ausgabe des »Märtyrerspiegel«, einem dicken Buch von eintausendzweihundert Seiten. Obwohl sie eigentlich keinen Platz dafür hatte, war es doch der eine Gegenstand, ohne den sie nicht leben konnte. Denn ganz egal, welche Seelenqualen sie gerade durchlebte, die Berichte in dem alten Wälzer über die Wiedertäufer, die für ihren Glauben gestorben waren, entsetzten sie zwar, inspirierten sie aber auch, Gott noch mehr zu lieben. In den nächsten Tagen würde sie all ihre Kraft und ihren Glauben brauchen, die sie aufbringen konnte.

Heute Morgen, nachdem ihr Datt das Haus verlassen hatte, war sie in die Zimmer ihrer Brüder und Schwestern geschlichen. Sie hatte sie zum Abschied geküsst, und am Ende waren deren zarte Wangen fast genauso tränennass wie ihre eigenen. »Ich liebe euch, meine Kleinen«, hatte sie geflüstert. »Seid schön brav.« Sie hoffte, dass ihre Eltern in ein paar Wochen oder Monaten merkten, wie sehr sie ihnen fehlte, und sie wieder in ihrem Haus willkommen heißen würden. Aber so recht glauben konnte sie es nicht. Tief in ihrem Inneren wusste sie, dass sie keinen von ihnen jemals wiedersehen würde, und sie weinte noch mehr.

Zwei Stunden hatte sie bis zur überdachten Brücke gebraucht und jedes Mal einen Schweißausbruch bekommen, wenn ein Auto oder ein Buggy an ihr vorüberfuhr. Sie hatte große Angst, jemand würde sie erkennen und ihren Eltern davon berichten. Im Grunde war es natürlich egal, weil sie es doch sowieso bald merken würden. Doch auch wenn sie versuchten, sie aufzuhalten, würde sie sich nicht anders entscheiden. Nichts konnte sie jetzt mehr aufhalten. Nichts.

Sie streifte ihre Schuhe ab und ging zu der Stelle, wo er ihre beiden Initialen ins Holz geritzt hatte. So albern es war, doch der Anblick trieb ihr wieder Tränen in die Augen. Denn erst nach vielen Monaten, in denen sie sich heimlich und voller Angst, entdeckt zu werden, davongestohlen hatten, waren sie zusammen gewesen wie Frau und Mann. Sie würden heiraten, ein Haus und Kinder haben. Vor lauter Liebe schwoll ihr die Brust, und nicht zum ersten Mal fragte sie Gott, wie etwas, das sich so richtig, rein und gut anfühlte, überhaupt schlecht sein konnte.

Emotional am Rande der Erschöpfung, ging sie schließlich zurück zu dem Platz, wo ihre Schultasche stand, und setzte sich. Er war zu spät, wie immer, und sie konnte es kaum erwarten, ihn zu sehen. Sie stellte sich sein schönes Gesicht vor, die freundlichen Augen, das verborgene Lächeln, das er nur ihr schenkte. Gleich würde er in seinem alten Auto angebraust kommen, den Ellbogen aufs Fenster gestützt, das Radio aufgedreht, die Haare flatternd im Fahrtwind. Sie würde hier sitzen und warten, wenn es sein musste bis in alle Ewigkeit.

»Beeil dich, Liebster«, flüsterte sie. »Beeil dich.«