11. Kapitel

Bei Gewaltverbrechen gilt grundsätzlich: Der Verstorbene ist niemals das einzige Opfer. Die Menschen, die ihm eng verbunden waren – Familienangehörige, Freunde und Geliebte –, leiden noch lange nach seinem Tod. Und wenn eine Person spurlos verschwindet, ist es den meisten ihr nahestehenden Menschen unmöglich, jemals einen Schlussstrich zu ziehen oder auch nur ansatzweise Frieden zu finden. Zu viele nehmen den Kummer, den Verlust und das qualvolle Fehlen des Abschiednehmens mit ins eigene Grab.

Doch damit nicht genug, sind die Auswirkungen von Gewaltverbrechen oft nicht auf Freunde und Angehörige begrenzt, sondern erstrecken sich auch auf das Leben von Detectives, Special Agents und Ermittlern, die über Monate oder sogar Jahre unzählige Stunden mit den Hinterbliebenen sprechen, Vermisstenprofile erstellen und versuchen, das Rätsel zu lösen und den Vermissten nach Hause zu bringen. Im Gegensatz zu gängigen Vorstellungen sind Polizisten oft emotional involviert, einige auch zu stark. Sie können nicht mehr schlafen, verbringen kaum noch Zeit mit ihrer Familie und finden keinen Seelenfrieden.

Obwohl ich dagegen ankämpfe, belastet mich das Gespräch mit Sue und Vern Nolt schwer. Auf der Fahrt zurück in die Stadt wird mir klar, dass die Nachricht vom Tod ihres Sohnes nicht die einzige schlimme Mitteilung sein wird, die sie in den nächsten Tagen erhalten. Die Umstände seines Todes werden ihr Leid zweifellos vergrößern.

Ich ziehe mein Handy aus der Gürteltasche und drücke die Kurzwahltaste fürs Revier. Lois nimmt nach dem ersten Klingeln ab. »Hey, Chief.«

»Können Sie mir die Kontaktinformationen von Doktor Alan Johnson besorgen? Er ist vermutlich Unfallchirurg im Krankenhaus in Millersburg.«

»Wird gemacht.«

»Und die Kontaktinfos des Schweinezuchtbetriebs in Coshocton.«

»Dito.«

»Und checken Sie, ob Clarence Underwood polizeilich gesucht wird.« Ich buchstabiere den Nachnamen.

»Ich mach mich gleich dran.«

»Danke. Und melden Sie sich, wenn Sie was haben.« Ich funke Glock an. »Können Sie in die vier-sechs-zwei Gettysburg kommen und mich dort treffen?« Ich kenne Underwoods Adresse auswendig.

»Ich bin in zwei Minuten da.«

»Bis gleich.«

Clarence Underwood wohnt in einer heruntergekommenen Siedlung mit eingeschossigen Häusern aus den Sechzigern und großen Mobilheimen, die vereinzelt dazwischen stehen. Der blassblaue Wasserturm, auf der einen Seite von Eisenbahnschienen und auf der anderen von einer leerstehenden Tankstelle gesäumt, wirkt wie ein Wachposten. Das einzig Schöne in diesem Wohngebiet sind die Bäume, fast ein Wald aus stattlichen Ulmen und Ahorn. Die Gettysburg Avenue ist eine schmale Asphaltstraße mit kaputten Gehwegen und großen Schlaglöchern, die locker das Ende einer Achse bedeuten können. Das bunte Gemisch aus Fahrzeugen, von denen einige fast so alt sind wie die Häuser, lässt die Straße noch enger erscheinen. Auf dem leeren Grundstück zu meiner Rechten hat jemand einen fahrbaren Basketballkorb aufgestellt, und sechs etwa zehnjährige Jungen beäugen mich argwöhnisch, als ich langsam vorbeifahre. Ich winke lächelnd und ignoriere so gut es geht den Stinkefinger, den mir ein Kid mit blondem Zottelhaar in baggy Jeans zeigt.

Glocks Streifenwagen steht ein paar Häuser von Underwoods Domizil entfernt. Ich halte hinter ihm und gebe über Funk im Revier Bescheid, dass ich eingetroffen bin.

Als ich aussteige, kommt Glock auf mich zu. »Und was hat er jetzt wieder angestellt?«, fragt er.

»Nichts von dem wir wissen.« Auf dem Weg zu dem maroden Bürgersteig erzähle ich ihm von meinem Gespräch mit Sue und Vern Nolt.

»Glauben Sie, Underwood hat was mit Leroy Nolts Verschwinden zu tun?«

»Es wäre nicht das erste Mal, dass Drogengeld eine Freundschaft zerstört.«

Wir gehen hinauf zur Veranda. Das rechte Geländer fehlt, die Pfosten sind am Boden abgebrochen. Auf knarrenden Holzdielen nähere ich mich der antiquierten Eingangstür mit den schmalen Glasscheiben rechts und links. Ich stelle mich seitlich daneben, falls irgendein paranoider Freak auf die Idee kommt, durch die Tür zu schießen, und klopfe.

Von drinnen schlägt mir Heavy-Metal-Rock entgegen, dessen Basstrommel so laut schmettert, dass die Fensterscheiben klirren. Ich warte eine volle Minute, dann klopfe ich mit dem Handballen ein zweites Mal.

»Polizei!«, rufe ich. »Clarence Underwood? Öffnen Sie bitte die Tür!«

Quiekend wie eine Ratte mit dem Schwanz in der Falle geht die Tür ein Stück auf, und ich sehe mich Underwood gegenüber. Er ist jetzt Mitte fünfzig, hat einen graumelierten Vollbart und trägt ein AC/DC-T-Shirt, verschossene Jeans und ausgetretene Doc Martens. Er ist zwar dünn, aber das T-Shirt spannt über einem ausladenden Bauch. Er hat bemerkenswert blaue, intelligente und jetzt gerötete Augen, doch sein Blick ist feindselig.

Ich hole meine Dienstmarke heraus und halte sie ihm unter die Nase. »Mr Underwood?«

»Steht vor Ihnen.«

»Ich würde Ihnen gern ein paar Fragen stellen«, sage ich. »Können wir hereinkommen?«

Mit seinen blutunterlaufenen Augen sieht er von mir zu Glock und wieder zu mir. »Worum geht’s?«

»Leroy Nolt.«

Ich bin nicht sicher, aber einen Moment lang glaube ich, ein Lächeln in seinen Augen zu sehen. Ob wegen der Erinnerung an einen alten Freund oder der Gewissheit, ungestraft davongekommen zu sein, kann ich nicht sagen. »Habe ich eine Wahl?«, fragt er.

»Es geht nur um sein Verschwinden. Natürlich müssen Sie nicht mit mir reden, aber wenn Sie sich weigern, lasse ich Sie vorladen.«

Er wirft einen kurzen Blick hinter sich, was bedeutet, dass wir nicht sehen sollen, wer oder was sich dort verbirgt. »Ich komme raus.«

Glock und ich treten gleichzeitig ein paar Schritte zurück. Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass Glocks Hand locker und einsatzbereit auf der Waffe liegt und er einen sicheren Abstand zu Underwood hält, falls der etwas Dummes im Sinn haben sollte.

Die Tür schwingt auf, und Underwood tritt auf die Veranda. Selbst aus einem Meter Entfernung rieche ich seine Alkoholfahne. Er ist zwar nicht stockbesoffen, aber auch nicht nüchtern.

»Ich hab von den Knochen gelesen, die draußen bei der alten Scheune gefunden wurden«, sagt er langsam. »Die sind von Leroy?«

Die Frage überrascht mich nicht. In einer Kleinstadt sprechen sich Neuigkeiten schnell herum, besonders bei einem Leichenfund. Normalerweise bringen Leute, die etwas zu verbergen haben, das fragliche Thema nicht selbst zur Sprache. Andererseits ist Underwood nicht auf den Kopf gefallen und beherrscht die Spielregeln.

»Das ist noch nicht sicher«, sage ich.

»Ich schätze mal, Sie wären nicht hier, wenn Sie es nicht zumindest glauben würden.« Er schüttelt den Kopf. »Ich hab immer gehofft, er hätte es aus diesem Dreckloch hier rausgeschafft. Dass er stinkreich zurückkommt und ein bisschen von der Knete mit seinem alten Kumpel teilt.« Leicht wankend geht er von der Tür weg und stützt sich mit der Hand an der Hauswand ab, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. »Was wollen Sie von mir?«

»Wann haben Sie ihn das letzte Mal gesehen?«, frage ich.

»Is verdammt lange her.« Er kratzt sich am Kopf, wobei ein Schuppenregen auf sein T-Shirt niedergeht. »Ein paar Tage vor seinem Verschwinden. Zu der Zeit hab ich bei Quality Implement gearbeitet, und wir waren die Wochenenden zusammen unterwegs, sind im frisierten Camaro rumgefahren und haben Little Kings getrunken.« Sein Kichern endet in einem verschleimten Hustenanfall. »Der konnte echt was vertragen, das kann ich Ihnen versichern.«

»Haben Sie beide sich jemals gestritten?«, frage ich. »Gab es mal wegen irgendwas Meinungsverschiedenheiten zwischen Ihnen?«

»Nee und noch mal nee. Leroy war immer locker drauf. Es hat Spaß mit ihm gemacht, wir sind gut miteinander klargekommen.«

»Hat er Feinde gehabt?«

Underwood schüttelt den Kopf. »Nee, niemals. Leroy war ein total gelassener Typ. Und immer lustig. Alle mochten ihn.«

»Hat er Drogen genommen? Oder irgendwelche illegalen Geschäfte gemacht?«

»Das war ja wohl mein Part.« Sein Lachen ist düster und freudlos. »Wir haben genug gesoffen, das ja, aber sonst hat Leroy nix angestellt. Nicht mal Gras hat er geraucht.«

»Hat er eine Freundin gehabt?«

Er runzelt die Stirn. »Ab und zu haben wir ’n paar Puppen aufgegabelt und sind zur überdachten Brücke rausgefahren, um … Sie wissen schon.« Er schiebt die Hände in die Hosentaschen. »Is nicht leicht, daran zu denken. Wir waren so jung.«

»Lassen Sie die Hände, wo wir sie sehen können«, sagt Glock hinter mir.

Underwood blickt ihn finster an, zieht aber die Hände wieder aus den Taschen und zeigt uns die Handflächen. »Herr im Himmel«, murmelt er.

»Easy, Clarence«, sage ich mit warnendem Unterton. »Nur noch wenige Fragen, okay?«

»Egal.« Er lehnt sich an die Hauswand und verschränkt die Arme.

»Also, hatte Leroy eine Freundin?«, frage ich noch einmal.

»Ich bin nicht sicher. Er hat vielleicht ein- oder zweimal erwähnt, dass er sich mit jemandem trifft. Aber an eins erinnere ich mich noch genau, nämlich dass er ein paar Monate vor seinem Verschwinden aufgehört hat, mit mir zur Brücke zu fahren. Und er hat weniger getrunken. Es war, als wäre er plötzlich religiös geworden oder so.«

»Glauben Sie, dass er eine Beziehung mit einem Mädchen hatte?«

»Schon möglich. Und nicht die Sorte Mädchen, die wir mit zur Brücke genommen haben. Sie wissen schon … Wenn, dann eine, die er achtete.«

»Hat er jemals von ihr erzählt? Ihren Namen genannt?«

»Nee.«

Ich nicke. »Also gut.« Ich halte ihm die Hand hin. »Danke.«

Er blickt auf meine Hand, als reichte ich ihm einen Hundertdollarschein und seine Hand wäre nicht sauber genug, ihn zu nehmen. »Klar, sicher.«

»Und tun Sie mir einen Gefallen, Clarence, bleiben Sie anständig, okay?«

Sein Grinsen offenbart einen fehlenden oberen und einen goldüberkronten unteren Eckzahn. »Ich tu mein Bestes, aber versprechen kann ich nix.«

Zurück auf der Straße, stehen Glock und ich zwischen unseren Autos und sehen den Jungen beim Basketballspielen zu. »Und, glauben Sie jetzt eher, er hat was mit Nolts Verschwinden zu tun?«, fragt er wieder.

»Ich glaube zwar, dass er viele Jahre lang sein Unwesen hier getrieben hat«, erwidere ich, »aber nicht, dass er weiß, was mit Nolt passiert ist.«

»Haben Sie eine Idee, wer Nolts Freundin gewesen sein könnte?«

Ich schüttele den Kopf. »Nein, aber inzwischen bin ich neugierig geworden und will es herausfinden. Nolts Eltern haben auch eine mysteriöse Frau erwähnt, aber keiner scheint zu wissen, wer sie ist.«

»Vielleicht verheiratet?«

»Möglich. Keine Ahnung. Jedenfalls würde ich sie gern finden. Zumal sie sicher ein paar Leerstellen füllen könnte.« Ich halte inne. »Danke für Ihre Unterstützung. Gehen Sie jetzt mittagessen?«

Er blickt versonnen zu der Gruppe Jungen hinüber. »Ich glaube, ich werfe ein paar Körbe zum Mittagessen.«

Am liebsten würde ich ihn umarmen, aber so eine spontane Gefühlsäußerung kann ich mir als Polizeichefin nicht leisten, und so grinse ich nur. »Viel Spaß«, sage ich und schließe meinen Wagen auf.

* * *

Als Nächstes fahre ich zum Roselawn-Friedhof, wo die Beerdigung von Earl Harbinger stattfindet. Harbinger, ein zweiundsechzig Jahre alter Zahnarzt im Ruhestand, hat sein Leben lang in Painters Mill gewohnt. Er wurde in seinem Wagen vom Tornado erfasst, durch die Luft gewirbelt und erlitt tödliche Verletzungen. Er hinterlässt eine Frau, mit der er sechsunddreißig Jahre verheiratet war, und vier Söhne, die alle noch hier in der Gegend wohnen.

Juanita Davis wird in einer anderen Stadt beerdigt, und Lucy Kestlers Beerdigung ist morgen Nachmittag. Obwohl ich tagsüber immer wieder an sie gedacht habe, will ich mich nicht zu intensiv damit beschäftigen. Als Polizeichefin wollte ich auf alle Beerdigungen gehen, um meine Unterstützung der Familien und der Gemeinde zu demonstrieren, aber wegen des feindseligen Verhaltens der Kesters werde ich Lucys Beerdigung nicht beiwohnen.

Ich betrete das Polizeirevier, wo es zu meiner großen Freude herrlich ruhig ist. Lois sitzt an ihrem Schreibtisch und verspeist ein Truthahn-Sandwich von LaDonna’s Diner. Auf dem Korkuntersetzer neben ihrem Computer steht ein beschlagenes Glas Eistee.

»Was haben Sie mit all den Presseleuten gemacht, die uns wegen des Knochenfundes bombardiert haben?«, frage ich und nehme die Nachrichten aus meinem Fach.

»Verhaftet und unten in die Zelle gesteckt.« Sie beißt in ihr Sandwich und verdreht die Augen.

»Haben Sie schon was wegen der Kontaktinfos für Doktor Alan Johnson in Millersburg erreicht?«

Nickend schluckt sie ihr Essen runter. »Die schlechte Nachricht ist, dass er sich 2004 zur Ruhe gesetzt hat. Und die gute, dass sein Sohn, Alan junior, ebenfalls Arzt geworden ist.« Sie hält mir einen handgeschriebenen Zettel hin. »Hier sind Telefonnummer, Adresse und E-Mail.« Sie wirft einen Blick auf die Computeruhr. »Er ist bis zirka siebzehn Uhr zu erreichen, hat er gesagt.«

»Sie sind meine Rettung.« Ich nehme den Zettel und zeige auf das Sandwich. »Essen Sie ruhig weiter.«

Zwei Minuten später sitze ich an meinem Schreibtisch und wähle die Nummer von Dr. Alan Johnson jr. Eine übertrieben enthusiastische Rezeptionistin bittet mich, am Apparat zu bleiben. Ich lausche Barry Manilow geschlagene zwei Minuten und will gerade auflegen und noch mal anrufen, als Johnson sich meldet. Ich stelle mich kurz vor und erzähle ihm, worum es geht.

»War Leroy Nolt ein Patient Ihres Vaters?«, frage ich.

»Meine Büroleiterin hat im Archiv nachgesehen, und ja, er war ein Patient meines Vaters.«

»Doktor Johnson, ich habe mit Leroy Nolts Eltern gesprochen, sie sagen, ihr Sohn hatte sich den rechten Unterarm gebrochen und dass Ihr Vater ihm operativ eine Platte eingesetzt hat.«

Am anderen Ende der Leitung raschelt es, und ich bekomme das Gefühl, dass er mir nicht seine volle Aufmerksamkeit schenkt. »Was genau wollen Sie wissen, Chief Burkholder?«

»Ich habe die Seriennummer der implantierten Platte«, sage ich, »und wollte Sie bitten, in Ihren Unterlagen nachzusehen, ob sie mit der in Leroys gebrochenem Arm übereinstimmt.«

»Wann genau war die Operation?«, fragt er.

»Ich glaube 1982 oder 1983

»Das ist lange her.«

»Haben Sie die Unterlagen noch, Doktor Johnson? Es ist wichtig.«

Er seufzt. »Also eine Computerdatei gibt es nicht, aber ich wette, sie sind noch im Archiv. Mein Dad war in der Beziehung absolut pedantisch.« Ein weiterer Seufzer gibt mir zu verstehen, dass ich ihn nerve – ein Arzt, der keine Zeit für Tote hat. »Ich lasse Diane die Unterlagen raussuchen, sie wird Sie dann anrufen.«

Ich gebe ihm die Nummer meines Mobiltelefons und vom Revier. »Je früher, desto besser«, sage ich. »Ich muss die Identität des Toten so schnell wie möglich klären.«

»Alle haben es eilig«, murmelt er.

* * *

Ich fahre zu LaDonna’s Diner, hole mir ein Schinkensandwich und einen Eistee und bin eine Stunde später wieder zurück an meinem Schreibtisch. Neben meinem Abendessen liegt die Liste der Schweinehalter, die Lois aus den Datenbanken verschiedener Bezirks- und Staatsbehörden zusammengestellt hat, sowie der lokalen Veterinäre, und zwar für den Zeitraum von fünf Jahren vor und nach Leroy Nolts Verschwinden. Sie besteht aus neununddreißig Namen mit Adressen und Kontaktinformationen und ist zweifellos unvollständig, denn in dieser Gegend verweigern viele Amische jegliche Auskunft gegenüber Regierungsbehörden. Aber mehr habe ich nun mal nicht, und es ist wenigstens ein Anfang.

Wenn Dr. Nelson Woodburns Behauptung zutrifft und Leroy Nolts Leiche zum Teil von Hausschweinen verzehrt wurde, wo hat Nolt dann mit Schweinen zu tun gehabt? Laut Herb Strackbein sind in der Scheune, in der die Knochen gefunden wurden, nie Schweine gehalten worden, er muss also irgendwo anders damit in Berührung gekommen sein. In dem Schweinezuchtbetrieb, in dem er gearbeitet hat?

Wobei dem nicht zwangsläufig ein Verbrechen vorausgegangen sein muss, es kann auch sein, dass Nolt beim Schweinefüttern krank zusammengebrochen ist – zum Beispiel aufgrund eines Aneurysmas –, und dass die Schweine im Verlauf der nächsten Stunden aus Neugier – oder Hunger – angefangen haben, an ihm zu knabbern. Oder er ist gestürzt und bewusstlos geworden – mit den gleichen Folgen. Doch hier enden auch schon mögliche »natürliche« Ursachen, die zu seinem Tod geführt haben könnten. Denn wenn wir die Beweise richtig interpretieren – hauptsächlich das Vorhandensein des Müllsacks –, hat jemand die Leiche fortgebracht und sich große Mühe gegeben, das zu verbergen.

Deshalb sind es die schlimmeren Alternativen, die mich an diesem frühen Abend verfolgen. Hat jemand Nolt überfallen und seinen bewusstlosen – oder toten – Körper in einen Schweinekoben geworfen? Geschah das in dem Glauben, dass die Tiere ihn auffressen und damit alle Hinweise auf ein Verbrechen verschwinden würden? Oder hat ihn jemand einfach in einen Koben mit aggressiven und hungrigen Tieren gesperrt, um den perfekten Mord zu begehen?

Ich rufe mir meine eigenen Erfahrungen mit Schweinen aus meiner Kindheit ins Gedächtnis. Wir haben zwar keine Schweine gezüchtet, aber hin und wieder welche zum Schlachten gehalten. Dazu hat mein Datt auf einer Auktion in Millersburg ein Ferkel ersteigert – süße kleine rosa Babys, in die ich mich mit meinen zehn Jahren auf den ersten Blick verliebt habe. Aber diese rosa Babys wuchsen schnell zu vierhundert Pfund schweren Tieren heran, die nicht immer liebenswert waren. Besonders die Eber, die meist sogar fünfhundert Pfund und mehr wogen, wurden oft aggressiv. Ich erinnere mich noch, wie ich als Achtjährige einmal miterlebt habe, dass eine unserer großen Säue ein Huhn, das sich in den Koben verirrt hatte, in die Ecke getrieben und vor meinen Augen bei lebendigem Leib auffraß und ich sie angeschrien habe, aufzuhören. Im Zusammenhang mit Leroys Tod läuft mir bei der Erinnerung ein kalter Schauder über den Rücken.

Es war ein arbeits- und ereignisreicher Tag, dank dem es mir bis jetzt gelungen ist, meine eigenen Probleme in Schach zu halten. Tomasetti hat zweimal angerufen, beide Male bin ich nicht drangegangen, und die Mailbox ist angesprungen. Ich weiß, es ist albern. Ich wohne jetzt seit sieben Monaten mit ihm zusammen, und ich liebe ihn. Vertraue ihm. Er ist mein bester Freund und Vertrauter. Trotzdem weiß ich nicht, wie ich ihm sagen soll, dass ich schwanger bin. Ich würde gern glauben, dass es ein glücklicher Moment für uns beide sein wird, habe aber ehrlich gesagt keine Ahnung, wie er reagieren wird.

Ich lege die Liste beiseite. Mein Appetit auf das Sandwich ist verschwunden, und ich nehme den Telefonhörer und wähle seine Mobilnummer. Da ich im Stillen hoffe, dass die Mailbox anspringt, will ich nach zweimaligem Klingeln gerade auflegen, als ich seine Stimme höre und ich plötzlich sicher bin, dass wir damit umgehen können. Gut oder schlecht oder irgendwas dazwischen, wir werden es hinbekommen.

»Ich habe schon fast geglaubt, du gehst mir aus dem Weg«, sagt er, aber ich höre ein Lächeln in seiner Stimme.

Normalerweise kommunizieren wir zwanglos miteinander, was eine ordentliche Portion Geplänkel mit einschließt. Doch jetzt fällt mir keine passende Antwort ein, und ich fühle so etwas wie Panik in mir aufsteigen, weil ich nicht weiß, was ich sagen soll. Am Ende entscheide ich mich für die Wahrheit und hoffe, die richtigen Worte zu finden. »Das bin ich auch.«

»Weil ich den letzten Hershey-Kuss gegessen habe …«

»Du warst das also.«

»Erwischt.« Aber seine Worte klingen nur halb amüsiert. Er ist ein schlauer Mann und weiß, dass etwas in der Luft liegt.

Als Schweigen eintritt, kann ich seine Besorgnis fast spüren, sanfte Fühler, die durch die Leitung kriechen, um herauszufinden, ob es mir gutgeht.

»Was ist los?«, fragt er.

»Ich muss mit dir reden. Von Angesicht zu Angesicht. Heute Abend.«

»Ist alles in Ordnung?«

»Ja«, antworte ich automatisch, doch füge dann hinzu: »Ich bin nicht … sicher.«

»Okay.« Nachdenkliches Schweigen. »Willst du gleich darüber reden?«

»Nicht am Telefon.«

»Soll ich in die Stadt kommen? Ich kann in einer halben Stunde da sein.«

»Nein«, sage ich schnell. »Ich hab noch ein paar Sachen zu erledigen, bevor ich hier wegkann.«

Er seufzt. »Kate.«

»Es dauert nicht sehr lange. Ist sieben Uhr okay?«

»Sicher.«

Ich lege auf, bevor einer von uns noch etwas sagen kann.