15. Kapitel
O ja, Burkholder, das hast du ja mal wieder mit der gewohnten Eloquenz und reichlich Fingerspitzengefühl gehandhabt.
Ich bin zurück auf der Ohio 83, diesmal Richtung Süden, kurz hinter Millersburg. Es ist nach einundzwanzig Uhr, und der Polizeifunk schweigt. Vor zwanzig Minuten hat T.J. einen Jungen im Mustang angehalten, der auf der Dogleg Road ein Stoppschild überfahren hat. Im Westen des Countys ist das Sheriffbüro damit beschäftigt, ein freilaufendes Pferd zurück auf die Weide zu bringen.
Ich gebe es ungern zu, aber ich will nach Hause. Einfach wegzulaufen war nicht gerade vernünftig, zumal ich erschöpft und hungrig bin und morgen einen vollen Tag vor mir habe. Ich hätte nur den Raum verlassen sollen, duschen und ins Bett gehen. Tomasetti hätte mich in Ruhe gelassen, da bin ich mir sicher.
Aber Tatsache ist nun mal, dass es hier nicht einfach nur um einen Streit zwischen Liebenden geht, der außer Kontrolle geraten ist, und jeder die Gefühle des anderen verletzt hat. Die Probleme, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen, sind ernst und weitreichend. Ich habe immer gewusst, dass wir irgendwann an diesen Scheideweg kommen werden. Dass wir eines Tages die drückenden Fragen beantworten müssen, die unsere Zukunft betreffen und die Gründung einer Familie. Bis jetzt haben wir einfach so in den Tag gelebt, waren glücklich miteinander und froh, dass die Wunden der Vergangenheit langsam heilten. Wir haben all die Dinge genossen, an die wir beide schon nicht mehr geglaubt hatten, bevor wir uns kennenlernten. Und dann plötzlich, wenn man schon nicht mehr damit rechnet, läuft man gegen eine Mauer.
Ich wollte schon immer heiraten und Kinder haben, aber nichts von beidem war für mich ein dringliches Problem oder etwas, worüber ich bewusst nachgedacht habe. Ich war glücklich mit dieser Vorstellung des Irgendwann, angesiedelt in einer Zukunft, in der mein Leben eines Tages einen wundersamen Gipfel erreicht hätte und ich nicht mehr so viel arbeiten und mich auf meinen Beruf konzentrieren müsste. Einen Punkt, an dem auch Tomasetti nicht mehr so beschädigt wäre. Wenn wir beide einigermaßen geheilt und bereit sein würden, eine neue Phase in unserem Leben zu beginnen. Ehrlich gesagt, hatte ich mir über die Kinderfrage keine großen Gedanken gemacht. Aber in den letzten Monaten ist mir Tomasettis Zurückhaltung aufgefallen – in den Kommentaren, die er bei gewissen Unterhaltungen gemacht, oder Blicken, die er mir zugeworfen hat. Doch auch das habe ich nicht für wichtig gehalten. Ich habe nie eine definitive Antwort erwartet und ihn auch nie dazu gedrängt. Ich habe es auf die leichte Schulter genommen, weil ich wusste, dass unsere Liebe Bestand hat.
Doch plötzlich ist die Zukunft da, und für mich ist ein eigenes Kind nicht vorstellbarer als vor einem Monat, sechs Monaten oder einem Jahr. Ja, ich liebe Tomasetti. Ich liebe ihn so sehr, dass es mir Angst macht. Wenn er mich gebeten hätte, ihn zu heiraten, hätte ich ja gesagt. Aber das hat er nicht, und jetzt sind wir aus dem Takt gekommen. Und unsere Unfähigkeit, das bereitwillig anzunehmen, was für uns beide ein glücklicher Moment hätte sein können, bricht mir das Herz.
Doch eines weiß ich genau, nämlich dass wir heute Nacht nichts mehr klären können. Deshalb ist es besser, wenn ich in meinem eigenen Haus in Painters Mill schlafe. So haben wir beide Gelegenheit, uns zu beruhigen, nachzudenken und in uns zu gehen.
Ich hole mir bei McDonalds in Millersburg einen Burger, Pommes und einen Schokomilchshake und fahre weiter Richtung Süden nach Painters Mill, wobei ich an dem kalten Getränk nippe und Pommes esse. Als ich in die Main Street mit den hübschen Läden und antiken Laternen einbiege, überkommt mich ein Gefühl von Zuhause, und als ich am Revier vorbeifahre, überlege ich kurz, haltzumachen. Doch ich bin nicht in der Verfassung, mit jemandem zu reden, auch wenn ich mich ein bisschen einsam fühle. Es ist besser, in mein Haus zu fahren, zu essen, zu duschen und gut zu schlafen.
Ich bin schon fast da, als mein Handy klingelt. Beim Blick aufs Display erwarte ich Tomasettis Namen, doch zu meiner Überraschung ist es mein Revier. Ich schiebe den drahtlosen Kopfhörer auf den Kopf und antworte beim dritten Klingeln. »Was gibt’s?«, frage ich.
»Chief, tut mir leid, Sie zu Hause zu stören«, sagt Jodie in der Telefonzentrale, und ich korrigiere sie nicht. »Ich hab gerade einen Anruf von einem Mann aus der Telefonzelle in der Hogpath Road bekommen, die von der Amisch-Gemeinde benutzt wird. Er sagt, Ihr Bruder hätte einen Unfall mit dem Buggy gehabt und wäre schwerverletzt.«
»Was? Jacob?« Ich trete auf die Bremse und fahre an den Rand. »Wo?«
»Auf der County Road 14.«
»Was zum Teufel hat er da zu suchen?« Die Straße ist fast sechs Meilen von der Farm meines Bruders entfernt. »Ich fahre sofort hin. Schicken Sie einen Krankenwagen, und auch jemanden vom Sheriffbüro.«
»Verstanden.«
Nach einem schnellen Blick in den Rückspiegel wende ich mitten auf der Straße und trete aufs Gas, presche durch die Stadt, achte zwar auf Fußgänger und andere Verkehrsteilnehmer, aber überfahre die Main-Street-Ampel. Als ich das Gaspedal bis zum Anschlag durchtrete, ächzt der Motor des Explorers, und vage nehme ich den Funkruf wahr, der jetzt rausgeht. Ich denke an meinen Bruder und an all die unausgesprochenen und unerledigten Dinge zwischen uns, und ein erneutes Gefühl von Dringlichkeit trifft mich voll in die Brust.
»Bleib am Leben, Jacob, bitte«, flüstere ich.
Mit achtzig Meilen auf dem Tacho erreiche ich die Delisle Road, trete voll auf die Bremse und biege mit quietschenden Reifen in die County Road 14. Nach wenigen Metern müsste ich eigentlich Laternenlicht oder Autoscheinwerfer oder Trümmer auf der Straße vor mir sehen, aber da ist nichts. Kein Buggy, kein Pferd. Kein Unfallfahrzeug, kein Hinweis, dass irgendwer hier ist. Ich aktiviere den Autofunk. »Wo genau ist der Unfall?«
»County Road 14, kurz hinter dem Abzweig Delisle.«
»Bin vor Ort. Hier ist nichts.« Ich halte inne. »Wer war der Anrufer? Und wo ist er?«
»Hat seinen Namen nicht genannt. Bleiben Sie dran.«
Der Explorer hat keinen Suchscheinwerfer, also hole ich die MagLite aus der Tasche vom Beifahrersitz und lege sie neben mich. Als ich wieder aufblicke, sehe ich weiter vorn ein schwaches Flackern am Nachthimmel. Ein Fahrzeug, das mit Standlicht fährt, oder ein Buggy, etwa zweihundert Meter weit weg. Ich blende auf und trete aufs Gas.
»Ich hab die Stelle gefunden«, melde ich Jodie über Funk.
»Roger. Sheriffbüro ist unterwegs.«
Ich achte auf irgendwelche Bewegungen, behalte die Straßengräben auf beiden Seiten im Auge und fahre mit vierzig Meilen, als etwas Daumengroßes meine Windschutzscheibe durchschlägt. Zuerst denke ich, ein großer Vogel oder sogar eine Eule sind dagegengeprallt. Aber dann ist ein zweites Loch im Glas, und ein Splitter vom Armaturenbrett trifft mich am Nasenrücken, ritzt ihn auf. Schmerz im Gesicht. Tausend Haarrisse durchziehen die Scheibe in alle Richtungen. Dann das allessagende Plopp! Plopp! von Gewehrschüssen. Das Beifahrerfenster birst. Ich hab Glas in den Haaren, vorn auf der Uniform.
Ich reiße das Lenkrad nach rechts, trete auf die Bremse. Meine Scheinwerfer streifen über hohes Gras. Der Explorer holpert über den Seitenstreifen, ein kaputter Zaun kommt in mein Blickfeld. Der Baum erscheint wie aus dem Nichts. Wieder reiße ich das Lenkrad rum, doch zu spät. Der Aufprall schleudert mich gegen meinen Sicherheitsgurt. Der Airbag wird ausgelöst und schlägt mir wie eine Riesenfaust ins Gesicht.
Einen Moment lang bin ich zu benommen, um mich zu bewegen. In meinem Kopf überschlägt sich alles. Ein Motor, der auf einem Zylinder läuft. Ich blinzele, versuche mich zu orientieren. Die Kühlerhaube ist eingedrückt, in der Windschutzscheibe sind zwei Einschusslöcher. Ich hebe die Hand, doch sie zittert so stark, ich finde kaum den Knopf vom Ansteckmikro. »Vorsicht Schüsse.« Ich wollte die Warnung laut hinausschreien, doch meine Stimme ist kaum mehr als ein Krächzen. »Zehn-drei-drei. Zehn-drei-drei.« Der Polizeicode für einen Hilferuf.
Der Funk erwacht knisternd zu neuem Leben. Ich öffne den Sicherheitsgurt, befreie mich vom wieder geschrumpften Airbag, sehe Blut auf dem weißen Stoff. Mein Gesicht brennt, aber ich weiß nicht, ob ich von einer Kugel getroffen wurde.
Mit der linken Hand versuche ich, die Tür aufzumachen, doch sie klemmt. Ich drücke auf den Fensterschalter, aber es tut sich nichts, also krieche ich über die Mittelkonsole zur Beifahrertür, die auch nicht aufgeht, und schiebe mich langsam durchs Fenster. Glassplitter ritzen mir die linke Hand auf, ich bin mit dem Oberkörper draußen, als mir dämmert, dass ich keinen blassen Schimmer habe, wo der Schütze ist und ich eine ziemlich gute Zielscheibe abgebe.
Dann bin ich mit den Händen am Boden, wuchte mich hinterher, meine Arme knicken ein und ich knalle mit der Schulter hart auf, rolle kurz und liege lang ausgestreckt im taunassen Gras. »Mist.«
In der Ferne heulen Sirenen. Um mich herum zirpen Grillen, unter der Kühlerhaube zischt Dampf. Ich hieve mich auf die Knie und ziehe meine Waffe. Dann hocke ich im Straßengraben, der nicht sehr tief ist und kaum Schutz bietet, so dass ich geduckt bleibe. Der Dreiviertelmond bietet gerade genug Licht, um zu sehen, dass das Fahrzeug oder der Buggy von vorhin nicht mehr da ist.
Scheinwerferlicht gleitet über mich. In der Krone des Baumes, gegen den ich gefahren bin, flackert Blaulicht. Ich sehe nach rechts, wo ein Streifenwagen vom Holmes County Sheriffbüro zum Stehen kommt.
»Sheriffbüro! Wer sind Sie?«
»Polizei Painters Mill!«, schreie ich. »Ich wurde beschossen.«
Ein Deputy von Holmes County kommt mit gezogener Waffe und MagLite in der Hand geduckt auf mich zugelaufen. »Wo ist der Schütze?«
»Weiß ich nicht.«
Sein Blick schnellt nach rechts und links. »Burkholder?«
»Ja.«
Sein Versuch, die Beifahrertür aufzumachen und als Schutz zu nutzen, scheitert ebenfalls, und so hockt er sich neben mich. »Sind Sie okay?«
»Gute Frage.«
Ich will aufstehen, doch er legt mir die Hand auf die Schulter. »Langsam, Sie bluten, Chief. Der Krankenwagen ist unterwegs.« Er tätschelt unbeholfen meine Schulter. »Sie müssen untersucht werden«, sagt er. »Brauche Unterstützung«, gibt er per Funk durch.
Ein zweiter Streifenwagen trifft ein. Ich erkenne die Insignien unseres Polizeireviers in dem Moment, als T.J. die Tür aufstößt, sie als Deckung nutzt und die Waffe zieht. »Chief, wo ist der Schütze?«
»Unbekannt!«, ruft der Deputy neben mir, spricht dann weiter in sein Funkgerät: »Verdächtiger flüchtig. Wir brauchen Straßensperren. Delisle Road. County Road 14, Township Road und Gaylord.«
Ein weiterer Streifenwagen von Holmes County schießt mit dröhnendem Motor an T.J.s Auto vorbei, ein Krankenwagen hält wenige Meter dahinter. Die ganze Zeit läuft der Funk auf Hochtouren, alle Polizisten im Umkreis sind im Einsatz auf der Suche nach einem unbekannten Schützen.
»Was ist passiert?«, fragt der Deputy.
»Ein Anrufer im Revier hat gesagt, mein Bruder hätte einen Buggy-Unfall gehabt«, informiere ich ihn kurz, dann drücke ich auf mein Ansteckmikro. »Irgendwelche Hinweise auf einen Buggy?«, frage ich. »Verletzte?«
»Negativ.«
Der Deputy und ich blicken uns an.
»Chief?«
Ich sehe an ihm vorbei zu T.J., dessen Schritt kurz stockt, als er meinen Explorer am Baum entdeckt. »O verdammt.« Dann ist er bei uns und geht neben mir in die Hocke. Beim Anblick meines Gesichts macht er große Augen. »Sind Sie getroffen? Sie bluten stark.«
»Ein Stück vom Armaturenbrett hat mich erwischt, glaube ich.«
Der Deputy geht zur Vorderseite meines Wagens.
»Sicher?« Als ich aufstehe, hält T.J. mich am Arm.
»Ich hab keinen Schuss in den Kopf abgekriegt, falls Sie das meinen.«
»Dafür zwei Einschusslöcher in der Windschutzscheibe.« Der Deputy macht ein finsteres Gesicht. »Ich glaube kaum, dass er aufs Armaturenbrett gezielt hat.«
T.J. sieht mich fragend an. »Eine Idee, wer das gewesen sein könnte?«
Ich schüttele den Kopf. »Keinen Schimmer.«
Der Deputy flucht. »Keine Spur vom Schützen, der Kerl hat sich in Luft aufgelöst. Wir sehen uns hier um, vielleicht finden wir Patronenhülsen oder Reifenspuren.« Er sieht mich an. »Haben Sie das Fahrzeug gesehen? Lichter? Irgendwas?«
»Das Licht von einem Fahrzeug oder Buggy. Dann sind die Schüsse gefallen.« Mit Blick auf meinen Wagen, runzele ich die Stirn. »Keine Ahnung, wo der Baum plötzlich herkam.«
Das Gelächter der beiden Männer verstummt beim Eintreffen der Sanitäter. Ich stöhne, und der Sanitäter grinst. »Sie scheinen sich wirklich zu freuen, uns zu sehen.«
»Ich glaube, ich bin okay.«
»Klar, das Blut in Ihrem Gesicht ist der schlagende Beweis«, sagt er unbeeindruckt von meiner abwehrenden Haltung.
Ich bin ihm schon einmal begegnet, er ist kompetent und humorvoll, und alle nennen ihn Fisch. »Lassen Sie uns den Spaß, Chief. Zurückweisung halten wir nur schlecht aus.« Beim Anblick meines Explorers schnalzt er mit der Zunge. »Hat Ihnen schon mal jemand gesagt, dass Sie Ihre Autos ziemlich hart rannehmen?«
»Klar«, sage ich. »Das letzte hab ich zu Schrott gefahren.«
Er stößt einen Pfiff aus. »Die Leute im Stadtrat werden Sie lieben.«
»Machen sie jetzt schon«, murmele ich und lasse mich zum wartenden Krankenwagen führen.
Als Polizeichefin einer Kleinstadt kommt man in den Genuss einiger Vergünstigungen wie kostenlosem Kaffee in LaDonna’s Diner, gratis Apfel-Beignet in der Buckhorn-Bäckerei oder hin und wieder ein Dinner oder Lunch, das auf Kosten des Hauses geht. Die Großzügigkeit lokaler Geschäftsleute ist ein Privileg, das ich nicht als gegeben ansehe und nur selten ausnutze. Doch heute Abend wehre ich mich nicht, als der Arzt in der Notaufnahme vom Pomerene Hospital mich sofort drannimmt. Ich versichere ihm, dass ich mir nicht den Kopf angeschlagen und auch nicht das Bewusstsein verloren habe, aber wie die meisten Mediziner ist er vorsichtig. Er will ein Schädel-Hirn-Trauma ausschließen und schickt mich zur Computertomographie in die Radiologie und danach zur Blutabnahme ins Labor. Dann säubert eine junge Krankenschwester den Schnitt auf meiner Nase, befindet ihn für unspektakulär, klebt ein spezielles Pflaster drauf und prophezeit mir zwei blaue Augen. Zum Schluss gibt sie mir noch Instruktionen für Eisbeutel und Schmerzmittel.
Ich hab schon Dutzende Male nach meinem Telefon gegriffen, um Tomasetti anzurufen, und es dann doch gelassen. Ich rede mir ein, alle Hände voll zu tun zu haben mit der Suche nach dem unbekannten Schützen. Außerdem rechtfertigen ein paar blaue Flecken nicht, ihn um ein Uhr morgens aus dem Bett zu holen … oder doch?
Erst als ich allein in der Notaufnahme bin und auf meine Entlassung warte, wird mir der ganze Ernst des Unfalls bewusst. Eine unbekannte Person hat mindestens vier Schüsse auf mein Fahrzeug abgegeben. Sie hätten mich töten können. War ich ein zufälliges Opfer? Hätte der Schütze auf jedes Fahrzeug geschossen, das zufällig zu diesem Zeitpunkt diese Straße entlanggefahren wäre? Hat er es auf Gesetzeshüter im Allgemeinen abgesehen? Oder war er entschlossen, mich zu treffen?
Ich sitze im Krankenhaushemd, das aussieht, als wäre es in einen Holzhäcksler geraten, auf einer Rollbahre, als im Korridor vor der Notaufnahme Stimmen laut werden, und ich denke: Mist. Ich wusste, dass das Sheriffbüro und die State Highway Patrol und hundert weitere Behörden mich über den Vorfall befragen würden, hatte aber gehofft, wenigstens aus der Notaufnahme raus und angezogen zu sein, wenn es so weit wäre. Nur wenige Dinge sind unangenehmer, als halbnackt mit einem Haufen Männer zu reden.
Ich blicke auf meine nackten Beine und Füße. »Verdammt.« Ich nehme das Tuch am Fußende der Rollbahre und breite es über meine Beine.
»Chief? Klopf klopf«, ertönt Sheriff Mike Rasmussens Stimme hinter dem Vorhang. Ich verdrehe die Augen, dann klebe ich mir ein Lächeln ins Gesicht. »Ich bin hier.«
Der Vorhang geht ein Stück auf, dann schiebt die Krankenschwester ihn entlang der Schiene rundherum auf und öffnet meinen eben noch privaten Raum der Öffentlichkeit. »Sie haben Besuch«, sagt sie mitfühlend lächelnd und reicht mir einen Eisbeutel. »Ich kümmere mich um Ihre Entlassungspapiere.«
Der Sheriff wird von Glock und, natürlich, Tomasetti flankiert. Alle drei Männer starren mich an, und ich widerstehe dem Drang, das Tuch bis zum Kinn hochzuziehen. Stattdessen sehe ich Tomasetti in die Augen und sage: »Ich hab gerade deine Nummer gewählt.«
»Aha.« Weder seine Stimme noch sein Gesichtsausdruck verraten seinen Gemütszustand, als er das Pflaster auf meiner Nase begutachtet. »Bist du okay?«
»Ja, die Nase ist nicht mal genäht, und die CT ist unauffällig.« Ich zucke die Schulter, wobei ich mich zusammenreißen muss, denn sie schmerzt. »Aber das mit dem Explorer ärgert mich.«
»Ich hab den Bürgermeister angerufen.« Glock grinst. »Ich dachte, ich erspare Ihnen die Kopfschmerzen und bringe es ihm schon mal bei.«
Ich lächele. »Sie mögen es wohl, wenn Auggie wütend wird.«
»Darüber verweigere ich die Aussage.«
Rasmussen räuspert sich. »Fühlen Sie sich fit genug, ein paar Fragen zu beantworten, Kate?«
Ich nicke. »Haben Sie ihn erwischt?«
Der Sheriff schüttelt den Kopf. »Er ist blitzschnell verduftet.«
»Haben Sie etwas in der Umgebung gefunden«, frage ich. »Patronenhülsen oder Reifenspuren?«
»Eine einzige .22er Hülse.« Rasmussen nickt Tomasetti zu. »Wir haben das BCI eingeschaltet. Ich weiß nicht, ob man John den Fall überträgt …« Seine Stimme bricht ab, als wüsste er nicht genau, was er sagen soll. »Sie wissen schon, wegen persönlicher Beziehung und so.«
Der Sheriff weiß, dass wir zusammen sind, und vermutlich auch, dass wir zusammen leben. Ich habe jedoch keine Ahnung, ob Tomasetti es seinen Vorgesetzten vom BCI mitgeteilt hat. Falls ja, wird er an dem Fall nicht mitarbeiten.
»Auch wenn ich nicht offiziell involviert werde, kann ich bestimmte Dinge an der Bürokratie vorbei beschleunigen.«
»Das wissen wir zu schätzen.« Rasmussen wendet sich mir zu. »Kate, können Sie uns noch einmal alles erzählen? Den genauen Ablauf von gestern Nacht?«
»Ich war auf dem Weg zu meinem Haus in der Stadt«, beginne ich und muss an den Streit mit Tomasetti denken, »als ich einen Anruf vom Revier bekam, dass mein Bruder Jacob einen Buggy-Unfall auf der County Road 14 hätte.« Ich sehe von Tomasetti zu Glock. »Es gab keinen Unfall, oder?«
Glock schüttelt den Kopf. »Kein Unfall. Und auch keine Spuren von einem Buggy. Ihr Bruder war zu Hause und wusste von nichts.«
»Wissen Sie, wer der Anrufer war?«, fragt Rasmussen.
»Meine Mitarbeiterin sagt, der Anruf kam von der Telefonzelle in der Hogpath Road, die von den Amischen benutzt wird«, erwidere ich.
»Wir fragen rum, vielleicht hat jemand etwas gesehen«, sagt er.
»Aber eines ist sicher«, sagt Tomasetti, »wer immer den Anruf gemacht hat, wollte, dass du da rausfährst, Kate. Er hat es auf dich abgesehen.«
»Und wenn nicht? Wenn er einfach bloß irgendeinen Polizisten erwischen wollte?«, sage ich.
»Er hat ausdrücklich deinen Bruder erwähnt«, betont er. »Er hat seinen Namen benutzt, um dich dorthin zu locken.«
»Die County Road 14 ist ziemlich abgelegen«, wirft Glock ein. »Kaum Häuser und eine Menge Bäume.«
»Perfekt für einen Hinterhalt.« Tomasetti streicht sich mit der Hand übers Gesicht.
In den nächsten fünfzehn Minuten erzähle ich ihnen alles haarklein, von meiner Ankunft am Tatort bis zum Eintreffen des Deputy von Holmes County.
Als ich fertig bin, fragt der Sheriff: »Haben Sie irgendeine Ahnung, was für eine Art Fahrzeug das auf der Straße gewesen ist?«
Ich schüttele den Kopf. »Ich bin nicht einmal hundert Prozent sicher, ob da überhaupt ein Fahrzeug war. Es war dunkel, und eigentlich habe ich nicht mehr als ein Flackern des Lichts gesehen. Vielleicht haben sich meine Scheinwerfer in einer Motorhaube oder Windschutzscheibe gespiegelt. Aber genau sagen kann ich das nicht.«
Tomasetti sieht Rasmussen an. »Sie wissen sicher, dass Kate, die Polizeibehörde und die Stadt Painters Mill gerade verklagt wurden. Der Fall ist umstritten.«
»Wenn das mal kein Motiv ist«, sagt Glock. »Ich kann mir gut vorstellen, dass Kestler dahintersteckt.«
Rasmussen nickt. »Ich schicke gleich jemanden hin, der Kestler und seine Frau aus dem Bett holt und mit ihnen redet.«
»Paula Kesters Vater sollte auch befragt werden«, sage ich.
»In den dreien hat sich eine Menge Wut aufgestaut«, sagt Tomasetti.
Rasmussen nickt und wendet sich wieder an mich. »Sonst noch irgendwelche Kontroversen oder Auseinandersetzungen, in die Sie involviert sind? Als Polizeichefin, meine ich.« Er räuspert sich. »Oder in Ihrem Privatleben? Nachbarn? Irgendwas in der Richtung?«
Es ist merkwürdig, Fragen gestellt zu bekommen, die normalerweise ich stelle. »Nein.«
»Sie sind niemandem bei der Ausübung Ihres Jobs auf die Füße getreten?«, fragt er. »Vielleicht hat jemandem Ihre Umgangsweise nicht gepasst? Oder einer ist wegen eines Strafzettels sauer?«
»Nicht in letzter Zeit«, sage ich augenzwinkernd, doch niemand lacht. »Der einzige Fall, an dem ich momentan noch arbeite, ist der Knochenfund in der Scheune«, sage ich.
»Liegt ein Verbrechen vor?«, fragt der Sheriff.
»Möglich, aber es ist noch nicht sicher. Wir kennen bis jetzt weder Todesart noch -ursache. Aber ich bin dabei, Fragen zu stellen.«
»Wem?«
Ich nenne die Namen und buchstabiere sie. »Vern und Sue Nolt. Rachel Zimmermann, Clarence Underwood. Abigail und Jeremy Kline. Die amischen Frauen im Handarbeitsladen in der Stadt.« Ich erzähle ihm weiterhin von der Möglichkeit, dass Hausschweine mit dem Tod des Mannes zu tun haben könnten.
»Heilige Scheiße«, murmelt er. »Schweine?«
»Das verstehe einer«, sagt Glock.
»Es ist so gut wie unmöglich festzustellen, ob es einfach ein außergewöhnlicher Unfall war, er im Stall gestürzt ist und von den Schweinen getötet wurde, oder ob ihn jemand gestoßen hat«, erkläre ich. »Aber selbst wenn es ein Unfall war, sieht es ganz danach aus, als hätte jemand sich große Mühe gegeben, die sterblichen Überreste zu verstecken.«
»Dann ist es also nicht abwegig, davon auszugehen, dass jemand etwas zu verbergen hat«, sagt Rasmussen.
Tomasetti sieht mich an. »Wie üblich stochert Kate mit einem kurzen Stock im Wespennest.«
Ich sehe ihn finster an.
»Clarence Underwood wurde vor kurzem aus dem Gefängnis entlassen«, fügt Glock hinzu. »Ehemaliger Meth-Freak.«
»Überprüfen Sie sein Alibi«, sage ich.
»Ja, Ma’am.«
Tomasetti sieht mir fest in die Augen. »Wäre vielleicht gut, wenn du ein paar Tage frei nimmst.«
»Keine schlechte Idee«, stimmt Rasmussen zu.
Glock hält klugerweise den Mund.
Ich richte mich auf, empört, dass sie sich gegen mich verschworen haben. »Das mit dem unbekannten Toten kann nicht warten –«
»Chief Burkholder?«
Ich sehe an den drei Männern vorbei zu dem Arzt, der mich in der Notaufnahme behandelt hat. »Sorry für die Störung«, sagt er und tritt auf mich zu.
»Solange Sie gekommen sind, um mich hier rauszuholen«, murmele ich.
»In zwei Minuten.« Er sieht die Männer an. »Ich muss mit der Polizeichefin reden, wenn Sie hier fertig sind.«
»Ich glaube, wir haben Sie genug gequält.« Rasmussen reicht mir zum Abschied lächelnd die Hand. »Ich bin froh, dass Sie okay sind, Chief. Lassen Sie mich wissen, wenn ich mit irgendwas helfen kann oder wenn Ihnen noch jemand einfällt, dem Sie das Ganze zu verdanken haben könnten.«
»Mache ich. Danke.«
»Das Gleiche gilt für mich, Chief.« Glock salutiert grinsend und geht zur Tür.
Der Arzt und ich sehen Tomasetti an. Er wirkt unsicher, ob er bleiben oder gehen soll. Als er auch nach einem Moment keine Anstalten macht, den anderen zu folgen, wirft der Arzt mir einen fragenden Blick zu.
»Ist okay, Doc. Wir sind … zusammen«, sage ich.
»Oh, verstehe. Also gut.« Er kommt ans Bett und sieht auf das Klemmbrett. »Wir haben die Ergebnisse von Ihren Tests bekommen«, sagt er. »Die Computertomographie sieht gut aus, die Blutwerte sind im normalen Bereich.« Er grinst mich an. »Ich hatte das Labor auch beauftragt, einen Schwangerschaftstest zu machen. Das ist Routine, für den Fall, dass wir Röntgenaufnahmen brauchen. Sie wissen, dass Sie schwanger sind, ja?«
»Ja.«
Er grinst Tomasetti an, der erschüttert wirkt. »Herzlichen Glückwunsch Ihnen beiden.«
Ich murmele ein Danke, doch in meinem Kopf geht es drunter und drüber. Im Stillen hatte ich gehofft, dass mein Test gelogen hat. Dass die ganze Sache ein falscher Alarm war und in ein oder zwei Tagen alles wieder ganz normal weitergehen würde.
»Kann man schon sagen, welcher Monat?«, bringe ich heraus.
»Da müssen Sie zu Ihrem Frauenarzt gehen.«
Er redet noch weiter, doch irgendwann höre ich auf, ihm zuzuhören, sondern starre Tomasetti an, der überall hinblickt, nur nicht zu mir.