23. Kapitel
Seit ich erwachsen bin, betrachte ich mich als aufgeklärte Frau. Bei Themen, die mir wichtig sind, halte ich mich auf dem Laufenden, so auch, was meine Gesundheit betrifft. Trotzdem würde ich lieber meine Hand in einen Müllhäcksler stecken, als zum Arzt zu gehen. Außer ein paar Trips in die Notaufnahme wegen geringfügiger Verletzungen, die ich mir bei meiner Arbeit als Polizistin zugezogen hatte, bin ich bislang auch drum herum gekommen. Aber da ich meine Schwangerschaft nicht länger ignorieren kann, geht es nicht mehr nur um mich, und als Skid und ich im Revier eintreffen, rufe ich den Arzt an und bekomme einen Termin für morgen um zwölf Uhr.
Ich packe gerade meinen Laptop in die Tasche und will für heute Schluss machen, als mein Telefon klingelt. POMERENE HOSPITAL steht auf dem Display, und ich drücke auf Lautsprecher. »Burkholder.«
»Hallo, Chief. Hier ist Doktor Megason vom Pomerene. Ich dachte, es interessiert Sie vielleicht … Jeremy Kline ist vor einer Stunde gestorben.«
Ich bin ehrlich überrascht. »Was war die Todesursache?«
»Das ist es ja, Chief. Ich weiß es nicht. Er litt unter Ateminsuffizienz, und wir haben ihn an ein Beatmungsgerät angeschlossen. Und er hatte Magenbluten, wir haben es einfach nicht geschafft, ihn zu stabilisieren. Dann setzte seine Herztätigkeit aus, und heute Morgen ist es zweimal zu Kreislaufversagen gekommen. Als es am Nachmittag wieder passierte, konnten wir ihn nicht mehr zurückholen.«
»Haben Sie sein Blut toxikologisch untersucht?«
»Das Ergebnis ist negativ. Keine Drogen, kein Alkohol.«
»Gesunde Männer mittleren Alters werden nicht einfach krank und sterben ohne Ursache«, sage ich.
»Selten.«
»Doc Coblentz will bestimmt eine Autopsie machen, um Todesursache und Todesart zu bestimmen«, sage ich. »Und ich will das ebenfalls.«
»Das dachte ich mir schon und hab ihn bereits informiert.« Er hält inne. »Kate, es ist gut möglich, dass die Familie sich dagegen wehrt. Als ich die Frau des Verstorbenen informierte, Abigail, wollte sie ihn sofort mit nach Hause nehmen.«
Im Staat Ohio benötigt der Coroner keine Erlaubnis der Angehörigen, um eine Autopsie zwecks Feststellung der Todesursache durchzuführen. »Ich rede mit ihr«, sage ich.
»Sie ist völlig fertig, wie Sie sich denken können.«
»Ist jemand bei ihr?«
»Eine nette amische Familie ist vor ein paar Minuten gekommen, um sie nach Hause zu bringen.«
»Gut.« Doch mein Verstand ackert sich bereits durch all die finsteren Möglichkeiten, was zum frühzeitigen Ableben von Jeremy Kline geführt haben könnte. »Doktor Megason, wenn Sie eine Vermutung aussprechen müssten, woran er gestorben ist, was würden Sie dann sagen?«
»Ich spekuliere wirklich ungern in solchen Fällen. Aber wenn ich es müsste, würde ich die These wagen, dass er mit einem Gift in Berührung kam. Etwas, das er wahrscheinlich eingeatmet hat. Vielleicht ein Pestizid. Was immer es war, es hat ihn umgebracht. Jeremy Kline hatte keine Chance.«
Wir unterhalten uns noch ein paar Minuten, dann danke ich ihm und beende das Gespräch. Das Timing von Klines Tod bereitet mir Kopfzerbrechen. Er gehörte zu den Verdächtigen im Nolt-Fall. Abigail Kline war die Verbindung zwischen den beiden Männern – ist es Zufall, dass er krank wurde und weniger als eine Woche nach dem Auffinden von Leroy Nolts sterblichen Überresten starb? Oder wollte jemand Klines Tod und hat nachgeholfen? Wenn das zutrifft, wo ist dann das Motiv? Wusste Kline etwas über Nolts Tod? Hatte jemand Angst, dass er mit der Polizei redet? Oder liege ich mit all dem total daneben?
Ich nehme den Hörer ab und rufe Doc Coblentz an. »Ich dachte mir schon, dass Sie sich melden werden«, sagt er ohne Vorrede.
»Doc, ich muss Todesart und Todesursache von Jeremy Kline wissen.«
»Und ich ebenfalls. Ich habe ein paar Sachen verschoben und kann die Autopsie übermorgen machen.«
Ich habe gehofft, dass er früher Zeit findet, aber auch gelernt, ihn nicht zu drängen. »Doc, gibt es irgendein umfassendes toxikologisches Screening, das Sie durchführen können?«
»Suchen Sie nach etwas Bestimmtem?«
»Eigentlich nicht. Aber Doc Megason glaubt, Kline könnte mit einem Gift in Berührung gekommen sein.«
»Zum Beispiel?«
»Da Kline ja Farmer war, könnten wir ihn vielleicht auf Pestizide untersuchen. Oder irgendwelche anderen Gifte, die in der Landwirtschaft verwendet werden und die er geschluckt oder eingeatmet haben könnte.« Ich muss daran denken, dass Jeremy Kline als Amischer wahrscheinlich eine Vorliebe für Heilpflanzen hatte, und füge hinzu: »Gibt es einen Test, der ein Gift isoliert, das pflanzlichen Ursprungs ist?«
»Ich kann Blut-, Gewebe- und Urinproben toxikologisch untersuchen lassen.« Er hält inne. »Viele Giftstoffe bleiben unentdeckt, wenn man nicht konkret danach sucht. Es wäre ungemein hilfreich, wenn Sie etwas spezifischer sein könnten.«
»Ich wünschte, das könnte ich«, sage ich. »Können Sie nicht einfach nach allem suchen, was Ihnen einfällt?«
»Ich tue mein Bestes.«
»In der Zwischenzeit rede ich mit Abigail Kline und versuche, ein bisschen Licht in das Dunkel zu bringen.«
»Kate, da ist noch eine Sache: Heute Morgen habe ich die Autopsie an der kleinen Lucie Kester durchgeführt und einige Unregelmäßigkeiten festgestellt, von denen Sie wissen sollten.«
Im ersten Moment habe ich die furchtbare Vorstellung, dass er jetzt sagt, die Fehler des Ersthelfers hätten den Tod des kleinen Mädchens herbeigeführt, denn er weiß nicht, dass ich der Ersthelfer war. »Was haben Sie gefunden?« Ich schließe die Augen und mache mich auf alles gefasst.
»Ich glaube nicht, dass das Kind an den Verletzungen durch den Tornado gestorben ist, wie wir ursprünglich angenommen hatten.«
»Wie meinen Sie das?«
»Todesursache war ein Subduralhämatom –«
»Was ist das?«, unterbreche ich ihn.
»Ein Bluterguss zwischen äußerer und mittlerer Hirnhaut.«
»Eine Hirnverletzung?«
»Ja, aber das ist nicht alles. Es gab verschiedene Unregelmäßigkeiten, die mir schon bei der Voruntersuchung des Leichnams aufgefallen waren, nämlich eine leichte Wölbung der vorderen Fontanelle …«
»Doc, ich bin keine Medizinerin …«
»Die weiche Stelle oben auf dem Kopf«, sagt er. »Da war eine kleine Beule. Ich habe also eine Kernspintomographie machen lassen, und da wurde sichtbar, dass es tatsächlich einen Bluterguss zwischen äußerster und mittlerer Hirnhaut gab.«
»Kann das während des Tornados passiert sein? Doc, das Wohnmobil lag auf der Seite. Ich habe das Baby unter einem Babybett gefunden, aber in dem Zimmer waren auch noch ein Sofa, ein Fernseher und ein Stuhl – irgendetwas davon könnte auf das Kind gefallen sein.«
Die nachfolgende Pause sagt mir, dass ihm gerade bewusst geworden ist, dass ich die Ersthelferin war. »Kate, bei dem Sachverhalt würde ich normalerweise kein zweites Mal hinschauen. Und zweifellos wurde das Kind während des Sturms im Wohnmobil umhergeworfen. Aber die Verletzungen, die ich gerade beschrieben habe, stammen nicht daher.« Er seufzt bedrückt. »Ich habe obendrein Netzhautblutungen in beiden Augen festgestellt. Und Röntgenaufnahmen zeigen zwei verheilte Rippenbrüche.«
Furchtbare Bilder gehen mir durch den Kopf. Das süße Gesicht eines hilflosen kleinen Mädchens. Ein winziger Körper in meinen Armen, warm an meiner Brust. Und dunklere, verstörende Bilder eines blindwütigen Erwachsenen. Gleichzeitig verwandelt sich die Schuld, die seit der Nachricht vom Tod des Babys auf mir lastet, in Wut.
»Doc, wollen Sie mir sagen, das Kind wurde misshandelt?«
»Ich habe die starke Vermutung, dass die gefundenen Verletzungen – die alten wie die neuen – dem Baby Stunden oder sogar Wochen vor dem Sturm von einer Bezugsperson zugefügt wurden.«
Ich denke an Nick und Paula Kester und frage mich, wie eine junge Mutter oder ein junger Vater dem eigenen Kind so etwas antun kann. »Mein Gott, sie war erst vier Monate alt.«
Er stößt einen tiefen Seufzer aus. »Hören Sie, Kate, Schütteltraumata werden äußerst kontrovers diskutiert, selbst unter Medizinern. Angesichts der Umstände, unter denen das Kind gestorben ist, und bevor ich über Todesart oder -ursache entscheiden kann, brauche ich einen forensischen Pathologen für eine zweite Meinung.«
Schütteltrauma. Mein Gott.
»Sagen Sie mir sofort Bescheid, wenn Sie eine zweite Meinung eingeholt haben?«, frage ich.
»Darauf können Sie sich verlassen«, sagt er und legt auf.
Nach dem Gespräch mit Doc Coblentz verlasse ich das Polizeirevier, doch seine Worte verfolgen mich, weil sie furchtbaren Möglichkeiten Raum bieten.
… dass die gefundenen Verletzungen – die alten wie die neuen – dem Baby Stunden oder sogar Wochen vor dem Sturm von einer Bezugsperson zugefügt wurden.
… Schütteltraumata werden äußerst kontrovers diskutiert, selbst unter Medizinern.
Ich denke an Lucy Kester, klein und verletzlich, und frage mich, wie jemand einem Baby Gewalt antun kann. Was für ein Mensch so etwas macht. Doch als Polizistin, die manchmal mit Leuten zu tun hat, die am absoluten Tiefpunkt angelangt sind – Leute, die aus welchem Grund auch immer unfähig sind, sich zu beherrschen oder auch nur die fundamentalsten menschlichen Gefühle zu entwickeln –, weiß ich auch, dass solche Menschen zu unserer Gesellschaft gehören und solche Dinge viel zu oft passieren.
Als ich die Farm der Klines erreiche, dämmert es bereits. Im Verlauf der Fahrt habe ich es geschafft, die Neuigkeiten über Lucy Kester in einen kleinen Winkel meines Bewusstseins zu packen, denn ich brauche einen klaren Kopf für die Situation, mit der ich jetzt konfrontiert werde.
Als ich aussteige und zum Haus gehe, stelle ich überrascht fest, dass niemand da ist. Normalerweise finden sich sofort amische Freunde und Nachbarn bei der Familie eines verstorbenen Gemeindemitglieds ein. Die Frauen putzen und kochen und sorgen für die Kinder. Die Männer übernehmen die Farmarbeit, füttern das Vieh und kümmern sich um die Früchte auf den Feldern. Als Big Joe Beilers Datt vor ein paar Jahren mitten in der Erntesaison starb, waren amische Männer – teilweise ihr eigenes Getreide auf den Feldern ignorierend – aus der ganzen Gegend gekommen, um sechzehn Hektar Mais zu ernten und zu bündeln.
Ich klopfe trotzdem an die Haustür, aber da niemand öffnet, trete ich an den Rand der Veranda und blicke hinaus in den Garten und das Feld dahinter. Eine angenehme Brise, die den Duft von frischem Laub und Geißblatt mit sich bringt, streicht über mein Gesicht, und ich atme tief ein. Rechts ist Abigails Garten, dahinter wiegen sich viele Reihen Mais im Wind. Ich nehme eine Visitenkarte aus der Tasche, gehe zurück zur Haustür und stecke sie zwischen Windfangtür und Pfosten, doch sie fällt raus und flattert auf den Boden. Als ich mich bücke, um sie aufzuheben, fällt mir der Weidenkorb unter der Hollywoodschaukel ins Auge. Den hatte Abigail das letzte Mal beim Löwenzahnpflücken benutzt. Seltsamerweise ist er noch voll mit welkem Grünzeug.
Ich lese die Karte vom Boden auf und will mich gerade aufrichten, als etwas in dem Korb meine Aufmerksamkeit erregt. Nicht alles darin ist Grünzeug, ich entdecke rote Stiele, die wie Mini-Rhabarber aussehen. Nur dass es kein Mini-Rhabarber ist. Meine Mamm hatte Rhabarber im Garten und oft Erdbeer-Rhabarberkuchen gebacken, so dass ich genau weiß, wie er aussieht. Ich starre auf die roten Stiele, und eine fast vergessene Erinnerung meldet sich mit unguten Nachrichten zurück. Wenn man Löwenzahn pflückt, darf man bestimmte andere Pflanzen niemals dazu ernten, hatte meine Mamm gesagt. Ist es rot, bringt es den Tod.
Ich gehe in die Hocke und nehme einen der dubiosen Stiele aus dem Korb. Die Blätter hängen welk runter, aber der Stiel selbst ist fest und rot.
Ist es rot, bringt es den Tod …
Ich ziehe einen kleinen Beweismittelbeutel aus der Tasche meines Ausrüstungsgürtels, lasse den Stiel hineinfallen und stecke den Beutel in die Hosentasche. Dann richte ich mich auf und gehe die Stufen hinunter in den Garten am Haus. Das Gras ist frisch gemäht, wahrscheinlich hat Jeremy das noch gemacht, bevor er krank wurde. Ich überquere den Schotterweg in Richtung der Pferdekoppel und Scheune. Hier ist das Gras kniehoch, und dazwischen wachsen Goldrute und blaublühende Disteln. Nahe der Scheune sehe ich eine weitere Pflanze mit rotem Stiel, hüfthoch mit ovalen, spitz zulaufenden Blättern und einer kleinen weißen Blütentraube. Ich gehe hin und sehe sie mir genau an. Es ist die gleiche wie in meinem Beweismittelbeutel.
Ist es rot, bringt es den Tod …
Ich ziehe Handschuhe an, nehme das kleine Messer aus der Gürteltasche und schneide ein etwa dreißig Zentimeter großes Stück von der Pflanze samt Stiel, Blättern und Blüte ab. Eine tintenartige, blutrote Flüssigkeit tropft aus dem Schnitt, und mein Unbehagen wächst. So eine Pflanze habe ich schon einmal gesehen. Damals hatte meine Mamm mir befohlen, mich davon fernzuhalten, weil sie giftig ist. Es ist eine Kermesbeere. Zu bestimmten Jahreszeiten kann man die Blätter bedenkenlos essen, aber sie müssen gekocht, das Wasser weggeschüttet und mit frischem Wasser noch einmal gekocht werden. Manche Amische backen Kuchen damit und wecken sogar die Knollen ein, aber man muss sehr vorsichtig sein. Meine Mamm hat das nie riskiert und uns verboten, sie anzufassen.
Kann es sein, dass Abigail Kaufman die Kermesbeerenblätter und den Löwenzahn zusammen geerntet und ihren Mann damit vergiftet hat? Aus Versehen? Oder in dem vollen Bewusstsein, dass ihn das töten würde?
Ein paar Monate, nachdem ich als Jugendliche aus Painters Mill weggegangen war, lernte ich im Columbus State Community College Chuck Gary kennen. Ich hatte gerade meinen Highschool-Abschluss auf dem zweiten Bildungsweg gemacht und angefangen, Strafrecht zu studieren. Die Idee dazu bekam ich von einem Detective, der im College über eine Laufbahn im Polizeidienst berichtete. Daraufhin hatte ich beschlossen, Polizistin zu werden. Denn nach dem, was mir im Alter von vierzehn Jahren von Daniel Lapp angetan worden war, hatte ich geschworen, nie wieder zum Opfer zu werden. Es war ein langer, beschwerlicher Weg für ein amisches Mädchen, das frisch vom Land kam und Teilzeit in der Telefonzentrale eines kleinen Polizeireviers in einem weniger schönen Teil von Columbus jobbte. Ich hatte Heimweh, kein Geld und war einsam, als Chuck, damals mein Biologielehrer, sich meiner annahm. Er verhalf mir zu einem zweiten Teilzeitjob im Universitätsbuchladen und ermutigte mich, durchzuhalten und einen Abschluss zu machen.
Über die Jahre haben wir uns aus den Augen verloren, aber zu Weihnachten schickt er immer eine Karte, in der er mir über sein Leben und das seiner Familie berichtet. Inzwischen hat er an der Kent State University eine Stelle auf Lebenszeit und ist nach North Canton gezogen, etwa eine Stunde nordöstlich von Painters Mill. Letzte Weihnachten schrieb er, er sei nicht nur zum ersten Mal Großvater geworden, sondern auch Leiter der Forschungsabteilung für Biowissenschaften und Teilzeitprofessor für Gartenbau. Daher rufe ich ihn heute Abend an.
»Katie Burkholder! Donnerwetter, was für eine schöne Überraschung! Wie geht es Ihnen?« Seine Stimme ist noch genauso, wie ich sie in Erinnerung habe, laut und dröhnend wie die eines Broadway-Schauspielers.
Ich erzähle ihm einiges von dem, was ich in den paar Jahren seit unserem letzten Gespräch gemacht habe.
»Ich habe die Schlächtermorde von Anfang bis Ende verfolgt«, sagt er. »Furchtbare Sache.«
»Das stimmt.«
»Ich habe immer gewusst, dass aus Ihnen mal eine gute Polizistin wird – und eine noch bessere Polizeichefin.« Er klingt fast nostalgisch. »Ich bilde mir gern ein, ein bisschen mitgeholfen zu haben.«
»Das haben Sie ganz bestimmt. Hätten Sie mich nicht unter Ihre Fittiche genommen, hätte ich das College abgebrochen und wäre mit gesenktem Kopf zurück nach Painters Mill gegangen.«
»Sie machen nie etwas mit gesenktem Kopf. Aber hätten Sie das wirklich gemacht, wäre das ein echter Verlust für die englische Welt gewesen, nicht wahr?«
Er kann mein Gesicht nicht sehen, doch ich lächele, und zum ersten Mal seit Jahren vermisse ich ihn. »Chuck, haben Sie einen Moment Zeit für mich? Ich arbeite an einem Fall und benötige Ihre Fachkenntnisse.«
»Oh, solche Worte werden einen alten komischen Kauz wie mich ganz sicher motivieren. Aber ich kann mir kein Rätsel vorstellen, das Sie nicht selbst lösen können.«
»Kennen Sie sich mit Kermesbeeren aus?«
»Ich habe Elvis Presley 1979 ›Polk Salad Annie‹ in Las Vegas singen hören. Zählt das?«
Ich lache.
»Ich war Mitverfasser eines Aufsatzes über die Verwendung der Phytolacca americana durch Herbalisten sowie den unkonventionellen Einsatz als medizinisches Volksheilmittel, der vor ein paar Jahren in Horticultural Science erschienen ist. Eine faszinierende Pflanze, über die eine Fülle von Volksweisheiten existiert.«
»Ist sie für Menschen giftig?«
»Sehr sogar, besonders die Knollen oder Wurzeln.«
»Und trotzdem können Menschen sie essen?«, frage ich. »Als Kermesbeerensalat?«
»Das gehört zu den Dingen, die die Pflanze so faszinierend macht. Die jungen Blätter eignen sich tatsächlich zum Verzehr, aber dazu muss man sie dreifach kochen und jedes Mal frisches Wasser nehmen. Die Beeren werden auch in Kuchen verwendet, und Frauen haben sich mit der Farbe die Lippen geschminkt.« Er senkt die Stimme. »Ganz unter uns, ich würde Kermesbeerensalat nicht essen.«
»Ist er denn genießbar?«
»Es heißt, er schmeckt wie Spargel oder Spinat.«
Ich denke kurz darüber nach. »Wenn jemand Kermesbeerenblätter mit Löwenzahn oder anderem Salat mischt, wären sie dann immer noch giftig?«
»Hochgiftig sogar, aber wesentlich schmackhafter.«
»Welche Symptome würden sich zeigen?«
»Der Patient empfindet zunächst eine Reizung der Speiseröhre, innerhalb einer Stunde würde er dann schwere Magenschmerzen bekommen und sich übergeben, gefolgt von schlimmem Durchfall mit Blut im Stuhl. Später bekäme er Herzrasen, seine Atmung ginge schneller. Wenn er dann in der Notaufnahme ist, würde der Arzt Hypotonie feststellen –«
»Niedrigen Blutdruck?«, frage ich.
»Korrekt«, erwidert er. »Wegen Verengung der großen Blutgefäße würde der Arzt höchstwahrscheinlich ein blutdrucksteigerndes Mittel verabreichen. Bei Atemstillstand würde der Patient an ein Beatmungsgerät angeschlossen.«
»Was wäre die typische Todesursache? Ich meine, auch wenn medizinischer Beistand geleistet wurde?«
»Eine Kombination von Erkrankungen, von denen jede einzelne katastrophal oder tödlich sein kann. Hypotonie, Herzrhythmusstörung, Herzkammerflimmern, schwere Atemdepression.«
»Wonach sollte man also bei einem toxikologischen Screening suchen?«
»Das geht über mein Wissen hinaus, Kate, aber wenn ich eine Vermutung aussprechen müsste – bei einer allgemeinen Untersuchung der einzelnen Organe würde man Toxine finden, eine spezielle wäre nicht nötig. Bei einer Autopsie würde er eine Blutung und Geschwürbildung des Magens und der Eingeweide feststellen sowie eine Schädigung der Leber.« Er hält inne. »Klingt ganz so, als hätten Sie wieder einen interessanten Fall auf dem Tisch.«
»Wenn sich bei der toxikologischen Untersuchung und der Autopsie herausstellt, dass das Opfer Kermesbeerenblätter verzehrt hat, woher weiß ich, ob die Pflanze der Mahlzeit irrtümlich oder mit voller Tötungsabsicht beigegeben war?«
»Als Fan klassischer Kriminalromane würde ich sagen, das Motiv ist der Schlüssel.«