10. Kapitel
Am nächsten Morgen treffe ich wenige Minuten nach sieben Uhr auf dem Revier ein. Nach dem Aufstehen bin ich Tomasetti aus dem Weg gegangen und habe geduscht, während er Kaffee machte, und als er dann duschte, bin ich aus dem Haus geeilt. Wahrscheinlich hat er sich gewundert, dass ich mich nicht wenigstens verabschiedet habe, aber ich hätte ihm unmöglich in die Augen sehen können – er hätte sofort gewusst, dass etwas nicht stimmt.
Normalerweise habe ich keine Probleme, Privat- und Berufsleben auseinanderzuhalten, so dass persönliche Angelegenheiten meine Arbeit nicht beeinträchtigen. Aber letzte Nacht habe ich nur wenig geschlafen. Weil die Realität dessen, was ich habe geschehen lassen, wie ein Hammer unaufhörlich auf meinen Verstand einschlägt. Heute Morgen bin ich krank vor Sorge. Ich weiß nicht, ob mein nervöser Magen mit der Schwangerschaft zu tun hat oder ob meine blank liegenden Nerven die Ursache sind.
»Guten Morgen, Chief.«
Mona hat das Telefon-Headset auf und steht hinter der Empfangstheke. Im Radio schmettern die Black Keys den Song »Tighten up« definitiv eine Nummer zu laut, doch ich bin dankbar für diesen Moment der Normalität. Er gibt mir das Gefühl von Beständigkeit und Kontrolle und macht mir bewusst, dass die Welt und meine Position als Chief of Police viel wichtiger sind als meine persönlichen Probleme. Frauen bekommen Kinder seit Anbeginn der Zeit. Ich kriege das hin. Tomasetti und ich können damit umgehen. Aber im Moment muss ich mich erst einmal auf meine Arbeit konzentrieren.
»Hey, Mona.« Wieder etwas gefasster, gehe ich zu ihr hinüber, hole die rosa Zettel mit den Telefonnachrichten aus meinem Fach und überfliege sie auf dem Weg ins Büro.
Die meisten sind von Presseleuten, die ein Update hinsichtlich des Knochenfunds wollen. Zwei sind von Vern Nolt, dem Vater von Leroy Nolt. Die Nolts sind die einzige Familie mit einem Vermissten, mit der ich noch nicht gesprochen habe. Da ich ihn so schnell wie möglich zurückrufen will, schenke ich mir rasch einen Kaffee ein, schließe mein Büro auf und setze mich an den Schreibtisch. Während mein Computer hochfährt, wähle ich seine Nummer.
»Vern Nolt«, meldet er sich mit der etwas zittrigen Stimme eines alten Mannes.
Noch bevor ich mich ganz vorgestellt habe, unterbricht er mich. »Haben Sie meinen Sohn gefunden? Haben Sie Leroy gefunden?«
»Das weiß ich nicht«, antworte ich schnell, darf keine Hoffnung in ihm wecken, die dann vielleicht erneut zerstört wird. »Mr Nolt, hier in Painters Mill wurden tatsächlich menschliche Überreste gefunden, und ich spreche mit allen Familien in der Gegend, die einen Angehörigen als vermisst gemeldet haben. Ich würde Ihnen gern ein paar Fragen stellen, wenn Sie einen Moment Zeit haben.«
»Natürlich habe ich Zeit.«
Ich nehme die Akte des vermissten Mannes aus Holmes County und beginne mit der Verifizierung einiger grundsätzlicher Informationen: Name, Alter, Tag des Verschwindens. Und dann: »Mr Nolt, wissen Sie, ob Ihr Sohn sich jemals den Arm gebrochen hat?«
Ich höre, wie er am anderen Ende nach Luft schnappt, dann wird die Sprechmuschel mit der Hand zugedeckt. Er antwortet nicht sofort, und ich lasse ihm Zeit.
»Leroy hat ein paar Jahre bei Quality Implement gearbeitet und dort landwirtschaftliches Gerät und Nutzfahrzeuge verkauft«, sagt er schließlich. »Es gab einen Unfall mit einem Gabelstapler. Eine Palette ist umgekippt, und eine riesige Bohrmaschine ist runtergefallen und hat ihm den rechten Arm in zwei Teile gebrochen.«
Sofort werde ich von jener Erregung erfasst, die ich immer dann verspüre, wenn ein Fall eine entscheidende Wendung nimmt. »Wurde der gebrochene Arm Ihres Sohnes operiert?«
»Doktor Alan Johnson in Millersburg hat ihn ein paar Tage nach dem Unfall operiert. Sie mussten warten, weil er so sehr geschwollen war, und dann hat er irgendwelche Stifte reingemacht.«
»Mr Nolt, ich würde gern mit Ihnen persönlich sprechen. Ist es Ihnen recht, wenn ich bei Ihnen vorbeischaue?«
Wieder eine Pause. Ein zittriges Ausatmen.
Er weiß es, denke ich.
»Ich sage meiner Frau, dass Sie kommen«, erwidert er und legt auf.
Vernon und Sue Nolt wohnen in einem gepflegten Craftsman-Stil-Haus gegenüber eines Supermarkts. Ich biege in die asphaltierte Einfahrt und parke im Schatten einer Ulme. Zum Haus gehören eine freistehende Doppelgarage und ein Garten mit weißem Holzzaun, hinter dem mich eine betagte Promenadenmischung dubioser Abstammung anbellt, als ich mein Auto verlasse.
Ich steige gerade die Steintreppe zur Veranda hoch, als die Haustür aufgeht und ein älterer Mann herauskommt. Er blickt mich an, und in seinen Augen liegen Vorahnung und Hoffnung, und ich weiß, dass er nach dreißig Jahren Ungewissheit über das Schicksal seines Sohnes bereit ist für des Rätsels Lösung, selbst wenn sie traurig ist. Hinter ihm erscheint eine etwa siebzig Jahre alte füllige Frau, und erst beim Anblick ihres bunten Kleides, der blauweißkarierten Schürze, die sie um die Taille gebunden hat, und der Kopfbedeckung wird mir bewusst, dass die Nolts Mennoniten sind.
»Mr und Mrs Nolt?« Ich reiche ihm die Hand und stelle mich vor. »Danke, dass Sie mich so kurzfristig empfangen.«
Die Hand des alten Mannes fühlt sich zittrig und fragil an. »Ich heiße Vern.« Er tritt zur Seite und stellt seine Frau vor.
Sie macht einen Schritt auf mich zu und sieht mir in die Augen. »Sagen Sie uns bitte, ob Sie ihn gefunden haben.« Sie blickt hinab auf meine hingehaltene Hand, und als wäre es ihr gerade eingefallen, schüttelt sie sie einmal schwach. »Haben Sie Leroy gefunden?«
»Das ist noch nicht sicher, aber in Painters Mill wurden menschliche Überreste entdeckt, und ich würde gern mit Ihnen über Ihren Sohn sprechen.«
Sie starren mich an, hängen an meinen Lippen, und ich mache mir bewusst, dass ich über einen Sohn rede, von dem sie dreißig Jahre lang gehofft haben, dass er lebend zu ihnen zurückkehrt. »Mr und Mrs Nolt, können wir vielleicht ins Haus gehen?«
»Natürlich. Wo sind nur meine Umgangsformen geblieben?« Die Frau wischt sich die Hand an der Schürze ab und öffnet die Tür. »Sie können Sue zu mir sagen. Ich habe Eistee gemacht, kommen Sie doch herein.«
Vern bedeutet mir mit der Hand, ihr ins Haus zu folgen, das düster und vollgestellt ist, ohne bedrückend zu wirken. Durch die Spitzengardine des vorderen Fensters fallen Sonnenstrahlen ein, in denen der Staub tanzt. Der Duft von Vanille-Potpourri und frischgebackenem Brot sorgt noch zusätzlich für eine behagliche Atmosphäre. Ich habe meine Großeltern nie kennengelernt, aber wenn ich mir je ihr Zuhause vorgestellt hätte, wäre es so wie dieses gewesen.
Ich zeige auf den amischen Quilt an der Wand über dem Sofa. Er sieht ganz nach einem Erbstück aus, eine faszinierende Kombination aus mauve, creme und schwarz mit dem typischen achtzackigen Stern in der Mitte. »Der ist wunderschön«, sage ich. »Haben Sie ihn gemacht?«
Sue ringt sich ein trauriges Lächeln ab. »Leroy hat ihn mir zum Geburtstag geschenkt, ein paar Wochen vor seinem Verschwinden. Ich hatte schon lange einen in diesen Farben gesucht.« Als müsse sie sich vor dem Abdriften in längst vergangene Zeiten schützen, schnalzt sie mit der Zunge. »Ich hole den Tee.«
Vern bittet mich, Platz zu nehmen, und ich lasse mich auf dem Brokatsessel neben dem Couchtisch nieder. Er selbst setzt sich auf das Sofa mit den vielen Häkelkissen. Wie viele Nächte seine Frau wohl wach war, diese Kissen gehäkelt und sich gefragt hat, wo ihr Sohn ist, ob er noch lebt und ob sie ihn jemals wiedersehen würde?
»Sie haben ein hübsches Haus«, sage ich. »Wie lange wohnen Sie schon hier?«
»Wir haben es 1975 gekauft.« Trotz seiner Nervosität lächelt er, und ich sehe schöne weiße Zähne. »Leroy war zehn, und als Erstes haben wir ein Baumhaus im Garten gebaut. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie viele Nächte er dort mit seinen Freunden verbracht hat. Sie haben sich Geistergeschichten erzählt und im Schein der Taschenlampe nackte Frauen in meinen National Geographic-Zeitschriften angesehen.«
Bei der Vorstellung muss ich wiederum lächeln. »Haben Sie noch andere Kinder?«
»Eine Tochter, Rachel«, sagt er. »Sie heißt jetzt Zimmermann und ist mit einem netten Mennoniten verheiratet. Sie betreiben das A Place in Thyme Cottage, ein Bed & Breakfast draußen beim Weingut.«
Ich hole Notizblock und Stift hervor und schreibe den Namen auf. »Sie und Ihre Frau sind Mennoniten?«
Er nickt. »Wir haben die Swartzentruber-Amisch kurz nach der Hochzeit verlassen.« Er winkt ab, als wäre dieser Teil seines Lebens nur eine schlechte Erinnerung. »Dem Bischof hat das nicht gepasst, und unser Kirchenbezirk hat uns exkommuniziert. Aber ihre Ordnung war uns einfach zu strikt.« Er grinst. »Mir gefielen Autos immer viel besser als Buggys.«
Sue kommt mit drei Gläsern und einem Pappteller mit Haferplätzchen auf einem Weidentablett zurück. Sie stellt das Tablett auf den Couchtisch zwischen uns und sieht mich an. »Wir haben gehört, dass Pfadfinder ein Skelett gefunden haben«, sagt sie und schüttelt den Kopf. »Und da wusste ich es.«
»Wir sind nicht sicher, dass es sich um Ihren Sohn handelt.«
»Er ist es«, sagt sie. »Eine Mutter weiß so etwas.«
Niemand schenkt dem Tee und den Plätzchen Beachtung. Sie sind reine Formsache, ein Ausdruck von Höflichkeit, um Zeit zu gewinnen, sich innerlich auf die Unterhaltung vorzubereiten. Oder die Nachrichten, die sie erfahren werden.
»Mit der Identifizierung befassen sich mehrere Behörden«, erkläre ich. »Wahrscheinlich bekommen Sie einen Anruf vom Bureau of Criminal Investigation wegen eines Termins für eine DNA-Probe, die mit einem Watteträger in Ihrem Mund genommen wird. Man braucht einen nahen Verwandten zum Abgleich mit der Knochen-DNA.«
»Sie können jederzeit kommen«, sagt Vern. »Wir wollen nur wissen, ob er es ist.«
Ich nehme mir das Glas Tee und trinke einen Schluck. Er ist kalt und schmeckt nach Pfefferminze, genau wie meine Mutter ihn in meiner Kindheit gemacht hat. »Ihr Sohn hatte also ein paar Jahre vor seinem Verschwinden den Arm gebrochen?«
Vern nickt, dann beugt er sich vor und stützt die Ellbogen auf die Knie. »Wie ich schon gesagt habe, es ist ihm bei der Arbeit passiert.« Er sieht seine Frau an, die reglos und schweigend dasitzt. »Da war er achtzehn, oder, Mama?«, fragt er.
»Siebzehn, Papa«, sagt sie. »Die Leute in dem Geschäft für Farmbedarf, wo er gearbeitet hat, waren sehr nett zu ihm. Sie haben für alles bezahlt, und sein Chef hat ihm einhundert Dollar extra gegeben, weil er so ein guter Junge war.«
»Die gefundenen Überreste sind von einem jungen Mann im Alter Ihres Sohnes zur Zeit seines Verschwindens. Es gibt Hinweise darauf, dass dieser junge Mann einmal den rechten Arm gebrochen hatte, in den zwei Platten und mehrere Schrauben operativ eingebracht wurden.«
Sue schnappt nach Luft und presst die Hand auf den Mund, als müsse sie ein Schluchzen unterdrücken. »Er ist es. O lieber Gott.«
Vern nickt einmal heftig, dann sieht er mich an. »Was ist mit ihm geschehen?«, fragt er. »Wie ist er gestorben? Er war noch so jung.«
»Wir kennen die Todesursache noch nicht.«
Kopfschüttelnd blickt er hinab auf den Boden.
Ich gebe ihnen einen Moment Zeit, die Nachricht zu verdauen, und sehe mich im Zimmer um. Auf dem Beistelltisch ist das Foto eines attraktiven, verschmitzt grinsenden jungen Mannes mit strubbeligen Haaren und lachenden Augen. »Ist das Ihr Sohn?«, frage ich.
Vern nickt. »Das letzte Foto, das wir von ihm gemacht haben.«
»Er sieht glücklich aus«, sage ich.
»Und hübsch.« Sue lächelt beim Anblick des Fotos. »Die Aufnahme stammt von seinem Geburtstag.« Ein leiser, trauriger Ton entweicht ihrem Mund. »Da wussten wir noch nicht, dass es sein letzter sein würde.«
Ich warte einen Moment, dann stelle ich die nächste Frage. »Wie war noch einmal der Name des Arztes, der den gebrochenen Arm Ihres Sohnes operiert hat?«
»Doktor Alan Johnson«, antwortet Vern. »Er ist Facharzt für Orthopädie in Millersburg.«
Ich notiere den Namen. »Auf der Platte ist eine Seriennummer, vielleicht ist es die gleiche wie die in der Krankenakte Ihres Sohnes.«
Der alte Mann nickt. »Hoffentlich.«
»Kannte Leroy jemanden aus der Familie Strackbein?«, frage ich. »Den Strackbeins gehörte die Farm an der Gellerman Road, wo die Knochen gefunden wurden.«
»Ich hab nie gehört, dass er den Namen erwähnt hat«, antwortet Sue.
»Hatte Leroy Feinde, von denen Sie wussten?«, frage ich.
»Alle haben unseren Sohn geliebt«, antwortet sie. »Er war höflich und rücksichtsvoll, und er hatte viel Humor. Und hart gearbeitet hat er auch.«
Ich wende mich Vern zu, der die Plätzchen anstarrt. Sein Mund bewegt sich, und ich habe das Gefühl, dass er etwas zurückhält. »Mr Nolt?«
Der alte Mann hebt den Kopf und blickt seine Frau an. »Er hat viele Überstunden in dem Farmladen gemacht, wollte Geld sparen, um in Goshen aufs College zu gehen.«
»Das ist ein College der Wiedertäufer«, fügt Sue hinzu.
Ich habe das Gefühl, dass da noch mehr ist, und frage: »Steckte er jemals in Schwierigkeiten?«
Vern seufzt resigniert. »Leroy war ein guter Junge«, sagt er bestimmt. »Aber es hat eine Zeit gegeben, ein paar Jahre, da hat er ein bisschen über die Stränge geschlagen.«
»Manchmal geraten auch gute Kinder in Schwierigkeiten.« Ich zucke die Schultern, hoffe, dass er mehr erzählt, denn manchmal halten Eltern gewisse Dinge zurück, um ihre Kinder zu schützen. Oder in diesem Fall, um das Andenken ihres Kindes zu bewahren. »Das gehört bei manchen zum Erwachsenwerden dazu.«
»Eine Zeitlang hat Leroy Alkohol getrunken«, erzählt Sue. »Und Zigaretten geraucht. Und er hat sich mit englischen Mädchen abgegeben.«
»Leichten Mädchen«, fügt Vern hinzu.
»Hatte er eine Freundin?«, frage ich.
Wieder blickt sich das Ehepaar an, und mir wird klar, dass sie schon so lange zusammen sind, dass jeder die Gedanken des anderen lesen kann.
»Wir sind uns nicht sicher«, sagt Vern schließlich.
»Leroy hat … über solche Dinge nicht geredet«, sagt Sue. »Privatsache.«
»Aber wir glauben, dass er mit einem Mädchen zusammen war.«
»Eine Ahnung, wer das gewesen ist?«, frage ich.
Vern schüttelt den Kopf. »Einmal hab ich ihn danach gefragt, da hat er wie immer nur gegrinst und gesagt, sobald er kann, erzählt er es mir. Da ich nicht besonders neugierig bin, hab ich’s dabei belassen.«
»Wieso haben Sie geglaubt, dass er eine Freundin hat?«, frage ich.
»Na ja«, sagt Vern langsam. »Hauptsächlich, weil er sich auf einmal anders verhalten hat. Er war auf einmal ein glücklicher junger Mann voller Elan. Und er hat aufgehört zu trinken und sich rumzutreiben.«
»Er hat aufgehört, die leichten englischen Mädchen zu treffen.« Sue spuckt die Worte aus wie saure Milch.
Schweigen tritt ein. Ich nippe an meinem Tee und sortiere in Gedanken die Informationen. »Was ist mit Freunden?«
»Damals war er oft mit Clarence Underwood zusammen«, sagt Vern.
»Sie waren beste Freunde«, stimmt Sue zu. »Ich hab den Jungen nie gemocht. Er hatte einen verschlagenen Ausdruck in den Augen. Aber Leroy hielt ihn für den Größten.«
Ich notiere den Namen. Clarence Underwood ist für mich kein Unbekannter, ich habe ihn vor drei Jahren festgenommen, weil er in seinem Haus Methamphetamin hergestellt hat, was wegen der Anwesenheit zweier Kinder als Schwerverbrechen gilt. Vor zwei Monaten hat mich das Ohio Department of Rehabilitation und Correction informiert, dass Underwood nach zwei Jahren Gefängnis in Mansfield kurz vor der Entlassung steht. Als es dann so weit war, habe ich meiner Sorgfaltspflicht als Polizeichefin Genüge getan und ihn in seinem gemieteten Haus willkommen geheißen. Er war nicht erfreut, mich zu sehen, aber mein Besuch hat ihm klargemacht, dass ich ihn im Auge behalte. Bis jetzt ist Underwood clean geblieben, aber die Liste der Dinge, bei denen er nicht erwischt wurde, ist sicher länger als die, von denen die Gesetzeshüter wissen.
»Kann es sein, dass Ihr Sohn mit Drogen zu tun hatte?«, frage ich.
Vern räuspert sich. »Ich hoffe, Sie glauben mir das, aber die Antwort ist nein.«
»Leroy hat zwar eine Weile über die Stränge geschlagen, Chief Burkholder«, fügt seine Frau hinzu, »aber Drogen haben ihn nicht interessiert.«
Aber auch wenn Leroy selbst keine Drogen genommen hat, ist der Verkauf ein lukratives Geschäft und besitzt somit große Anziehungskraft. »Wie lange hat Ihr Sohn bei Quality Implement gearbeitet?«, frage ich.
»Er hatte dort schon während der Highschool als Lagerarbeiter gejobbt«, erwidert Vern, »und danach Vollzeit bis zu dem Tag, als er verschwunden ist. Er war oft Mitarbeiter des Monats, hat viele Überstunden gemacht. Leroy hat hart gearbeitet.«
»Hat er jemals auf einer der hiesigen Farmen gearbeitet? Oder eine Beschäftigung gehabt, bei der er mit Vieh zu tun hatte?«, frage ich. »Zum Beispiel mit Schweinen?«
»Ja, er hat tatsächlich ein paar Monate lang in dem großen Schweinezuchtbetrieb in Coshocton gearbeitet. Die haben vor sechs oder sieben Jahren dichtgemacht.« Vern sieht mich seltsam an. »Warum fragen Sie das?«
»Ich versuche nur, so viele Hintergrundinformationen wie möglich zu sammeln«, sage ich. »War er in dem Schweinezuchtbetrieb mit jemandem befreundet?«
»Wüsste ich jetzt nicht. Er war ja nicht lange da, die Bedingungen haben ihm da nicht gepasst.«
Ich nicke. »In den Jahren, als er viel getrunken und sich rumgetrieben hat, hatte er da so etwas wie ein Stammlokal?«
»Das zwielichtige Ding direkt am Highway.«
»Das Brass Rail?«
»Ja, genau das.«
Ich nicke, und da mir keine weiteren Fragen einfallen, stehe ich auf. »Danke, dass Sie sich Zeit für mich genommen haben.«
Sie erheben sich ebenfalls, wirken überrascht, dass ich schon gehen will. »Chief Burkholder, wir müssen wissen, ob er es ist.«
Ich sehe beiden in die Augen. »Ohne DNA-Test oder die Übereinstimmung der Nummer auf der Titanplatte kann ich Ihnen wirklich nichts Definitives sagen. Tut mir leid. Ich weiß, wie schwer Warten ist.«
»Wir müssen es wissen«, flüstert Sue. »Bitte.«
»Die Wahrscheinlichkeit, dass es sich um Ihren Sohn handelt, ist sehr hoch«, erkläre ich ruhig. »Es gibt große Übereinstimmungen – der gebrochene Arm, der Zeitpunkt seines Verschwindens, sein Alter.« Ich zucke die Schultern. »Ich wünschte, ich könnte Ihnen eine positivere Antwort geben.« Meine Worte kommen mir absolut inadäquat vor.
»Er ist bei Gott.« Der alte Mann sieht hinab auf seine Schuhe. »Er hot en gudde lewe gfaahre.« Er hat ein gutes Leben gehabt.
»Sorg dich nicht, Papa.« Seine Frau tätschelt seine Schulter. »Wenn die ganzen Untersuchungen erledigt sind, holen wir ihn nach Hause.«