21. Kapitel
Bei den Ermittlungen in einem Tötungsdelikt gehört die Frage nach dem Motiv zu den wichtigsten, die ein Polizist sich stellen muss. Hat er erst einmal das Warum verstanden, kommt er gewöhnlich auf das Wer und kann den Fall lösen. Seit dem Gespräch mit Sally Burris heute Morgen beherrscht das Warum meine Gedanken. Ich habe mich in mein Büro zurückgezogen, einen halben Schreibblock mit Hypothesen gefüllt und, nach langem Nachdenken, einen Antrag formuliert, aufgrund dessen Richter Seibenthaler mir hoffentlich einen Durchsuchungsbeschluss für die Farm von Reuben und Naomi Kaufman ausstellt.
Kann es sein, dass Abigail Kaufman (Kline), eine Swartzentruber-Amisch, als Teenager mit Leroy Nolt, einem Mennoniten der Neuen Ordnung, zusammen war? Ist es möglich, dass ihre unerlaubte Verbindung den Zorn ihres Vaters hervorgerufen hat? Ich weiß aus Erfahrung, dass manche Amische eisern an ihren rigiden Glaubensgrundsätzen festhalten und anderen gegenüber sehr intolerant sind, teilweise sogar ausgesprochen grausam. Aber ein Mord?
Niemand will glauben, dass das Mitglied einer Gruppe, das er oder sie bewundert und respektiert, zu etwas so Schrecklichem fähig ist. Doch als ich jetzt aus dem Fenster sehe und beobachte, wie die Geschäfte in der Main Street ihre Türen schließen, wird mir klar, dass meine Gedanken genau bei dieser Möglichkeit verharren – an jenem finsteren Ort, wo Religion von Fanatismus und Toleranz von Hass beherrscht wird. Wo etwas so Heiliges wie die Ordnung in ein unkenntliches und grausames Gebot verkehrt wurde.
Ich stehe auf und gehe von meinem Büro in den Empfangsbereich. Lois in der Telefonzentrale blickt vom Computer auf. »Sie wirken bekümmert«, sagt sie.
»Rufen Sie Richter Seibenthaler an, und sagen Sie, ich bin auf dem Weg zu ihm.«
»Ja, Ma’am.«
»Und sagen Sie allen Bescheid, dass in einer Stunde ein Briefing stattfindet.« Ich werfe einen Blick auf die Wanduhr und seufze. »Und wenn Sie mir obendrein noch ein bisschen Glück besorgen könnten, wäre ich Ihnen sehr dankbar.«
Zehn Minuten später stehe ich im Gerichtsgebäude von Millersburg vor dem Zimmer des ehrenwerten Richters Harry Seibenthaler. Es ist schon kurz nach fünf, so dass er mich nicht warten lässt. Seine Assistentin geleitet mich durch ihr Büro in sein Heiligtum.
»Chief Burkholder! Was für eine nette Überraschung! Was kann ich für Sie tun?«
Der Richter ist ein korpulenter, etwa fünfzig Jahre alter Mann mit graumeliertem Haar, fleckiger Haut und Kürbisnase mit vielen roten Äderchen. Er wiegt um die zweihundertzwanzig Pfund, ist aber nicht viel größer als ich. Trotz seines heiteren Gemüts und eines Sinns für Humor versteht er im Gerichtssaal keinen Spaß, was nicht immer nur die trifft, die das Gesetz brechen. Ich habe mehr als einmal miterlebt, wie er einen jungen, großspurigen Anwalt zurechtgestutzt hat. Seit ich Polizeichefin hier bin, hat er mehr Anträge für Durchsuchungsbeschlüsse verweigert als unterzeichnet, und ich habe das dumpfe Gefühl, dieser hier wird auch nicht seine Gnade finden.
»Danke, dass Sie mich empfangen.«
»Ich war schon fast zur Tür hinaus. In einer Stunde gibt meine Enkelin in Wooster ein Klavierkonzert.«
»Dann beeile ich mich.« Ich reiche ihm den Antrag, der die Zusammenfassung des Falls enthält, die Informationen von Sally Burris, der Ort und Grund für die Suche und wonach ich suche – hier also die Titanplatte, die bei den Überresten von Leroy Nolt nicht gefunden wurde. Ich gebe ihm ebenfalls eine Kopie des Polizeiberichts von vor dreißig Jahren.
Er setzt sich eine Brille auf, überfliegt meinen Antrag und schaut mich dann über den Brillenrand hinweg an. »Naomi und Reuben Kaufman, Kate? Ist das Ihr Ernst?«
Da ich auf die Frage vorbereitet war, breite ich alles, was mir über den Fall bekannt ist, vor ihm aus. »Ich habe eine Zeugin, die einen Mann in den Schweinekoben hat fallen sehen. Ich habe die Überreste menschlicher Knochen mit Zahnspuren von Hausschweinen darauf.«
»Die Kaufmans sind eine Stütze der Gemeinde! Der amischen Gemeinde, die zufällig auch den ökonomischen Wohlstand unserer Stadt sichert. Himmelherrgott, Kate, meine Frau kauft ständig bei ihnen ein.«
»Mir ist bewusst, dass sie Amische sind.«
Stirnrunzelnd überfliegt er das zweite Blatt und sieht mich wieder an. »Sie suchen nach einer orthopädischen Titanplatte? Was zum Teufel ist das?«
»Ein orthopädisches Implantat«, erkläre ich. »Der Verstorbene erlitt einen Armbruch, und bei einer Operation wurden zwei Platten eingesetzt, aber nur eine wurde bei den Überresten gefunden.«
»Sie glauben also, die fehlende zweite Platte liegt noch auf der Farm der Kaufmans?«
»Ja.«
Er nimmt die Brille ab und legt die Blätter auf den Schreibtisch. Sein Ledersessel protestiert knarrend, als er sich zurücklehnt. »Das reicht nicht für einen Durchsuchungsbeschluss, und das wissen Sie auch.«
»Abigail, die Tochter von Reuben und Naomi, hatte einen Quilt gemacht, den Leroy seiner Mutter schenkte. Als ich sie deswegen befragte, hat sie mich angelogen. Sie war sehr wohl mit Leroy Nolt zusammen. Herr Richter, ich weiß, dass da irgendetwas ist.«
»Wurden die Knochen wenigstens zweifelsfrei als die von Nolt identifiziert? Ich meine durch DNA?«
»Nicht durch DNA, aber durch den Sohn des Arztes, der damals die Operation vorgenommen hatte. Er hat die Seriennummer auf der gefundenen Titanplatte mit den Unterlagen seines Vaters verglichen, und sie stimmt überein.«
»Hm.«
»Herr Richter, Leroy Nolt wurde zur gleichen Zeit als vermisst gemeldet, als Sally Burris während eines Streits auf der Kaufman-Farm einen Mann in einen Schweinekoben fallen sah.«
»Hier steht, sie war damals neun Jahre alt! Ich halte das nicht für ein glaubwürdiges Alter, besonders da das alles schon vor dreißig Jahren passiert ist.«
»Sie ist glaubwürdig.«
»Kaufman sagt, er hätte Schweine geschlachtet. Das reicht, um einem neunjährigen Mädchen Angst einzujagen.« Er schüttelt skeptisch den Kopf und tippt mit seinem wurstigen Zeigefinger auf meinen Antrag. »Und sie hat keine Gesichter gesehen. Sie kann nicht mal einen der Männer identifizieren. Das reicht nicht für einen Durchsuchungsbeschluss, Punkt aus.«
»Alles, was ich brauche, sind ein paar Stunden mit dem Metalldetektor in Scheune und Koben.«
»Und wenn Sie sich irren? Haben Sie überhaupt eine Vorstellung, was für Auswirkungen das auf die Beziehung zwischen den Amischen und dem Rest von uns hat? Die Lage hier ist sowieso schon angespannt. Viele Amische verkaufen alles und ziehen nach Upstate New York. Wenn Sie jetzt auch noch bei den Kaufmans nach Körperteilen suchen, bricht die Hölle los.«
»Richter Seibenthaler, bei allem Respekt –«
Er durchschneidet die Luft mit der Hand. »Es geht nicht, Kate.«
»Was brauchen Sie?«
»Zuallererst einmal DNA, die beweist, dass es Nolts Knochen sind. Bis dahin werde ich keinen Durchsuchungsbeschluss für die Kaufman-Farm oder irgendeine andere unterschreiben. Ohne die eindeutige Identifikation kann ich das nicht machen.«
Trotz meiner Verärgerung, spreche ich mit ruhiger Stimme. »Herr Richter, ich glaube, Leroy Nolt wurde ermordet, und jemand ist seit dreißig Jahren ungeschoren davongekommen. Ich glaube ebenfalls, dass Jeremy Kline und Abram Kaufman involviert sind.«
»Sie glauben? Kate, das reicht nicht. Wir können nicht einfach daherkommen und die Farmen amischer Familien auf den Kopf stellen. Bringen Sie mir Beweise. Bringen Sie mir etwas Konkreteres als eine Theorie, die auf den unbestätigten Beobachtungen eines neunjährigen Mädchens von vor dreißig Jahren basiert. Sonst kann ich Ihnen nicht helfen.« Er blickt auf seine Uhr. »Und jetzt muss ich gehen.«
Obwohl ich mich wirklich bemühe, bin ich bei meiner Ankunft auf dem Revier immer noch frustriert und muss mich zusammenreißen, die Tür nicht hinter mir zuzuknallen.
»Wenn Sie gleich anfangen wollen, die anderen sind alle versammelt.« Lois ist von ihrem Stuhl in der Telefonzentrale aufgestanden. Als ich an ihr vorbeifege, fragt sie vorsichtig: »Ich nehme an, Ihr Meeting mit Seibenthaler war nicht erfolgreich.«
»Das wäre eine Untertreibung.«
In meinem Büro schnappe ich mir die Notizen vom Schreibtisch und gehe ins Besprechungszimmer, das früher ein Lagerraum war. Mein ganzes Team versammelt zu sehen hat umgehend eine beruhigende Wirkung auf mich, und der Anblick von Pickles, der mit einen großen dampfenden McDonald’s-Kaffee am Tischende sitzt, entlockt mir sogar ein Lächeln. Als ich an ihm vorbeigehe, weht mir ein Hauch English Leather in die Nase. »Schön, dass Sie auch kommen konnten, Pickles.«
Er knurrt, als wäre ein sechsundsiebzig Jahre alter Polizist wirklich nichts Besonderes. »Weiß man schon, wer auf Sie geschossen hat?«, fragt er.
»Nein.« Ich gebe ihm das Fahndungsfoto des grinsenden Nick Kester. »Aber wir suchen diesen Mann hier.«
»Nettes Gebiss«, murmelt er und reicht das Foto an Glock weiter.
»Für einen Meth-Freak«, fügt Glock hinzu.
Ich komme gleich zur Sache. »Nick Kester ist ein Verdächtiger«, sage ich. »Die Fahndung ist vor ein paar Stunden raus, aber bis jetzt ohne Erfolg. Das Sheriffbüro leitet die Ermittlung, aber die State Highway Patrol und die Countys Coshocton und Wayne sind aktiv involviert.«
»Gibt’s schon was über die Kugel?«, fragt T.J.
».22er Kaliber«, erwidere ich. »Der Entfernung des Schusses nach zu urteilen, wahrscheinlich aus einem Gewehr. In Zusammenarbeit mit dem Sheriffbüro wurde ein Durchsuchungsbefehl erwirkt und das Haus von Kesters Schwiegervater durchsucht, es wurden aber weder ein Gewehr noch sonst etwas Interessantes gefunden.«
»Was nicht ausschließt, dass er es nicht bei sich hat«, sagt Glock.
»Holmes County setzt verstärkt Patrouillen ein«, merkt Skid an.
Ich nicke, doch das war mir bereits bekannt. Schüsse auf einen Polizisten sind eine ernste Angelegenheit, und die Cops in allen drei Countys sind scharf darauf, den Schützen zu finden.
Ich nehme meinen Platz am Kopfende des Tisches hinter dem Tischpult ein. »Solange der Schütze nicht dingfest gemacht ist, will ich, dass alle kugelsichere Westen tragen.« Ich sehe Pickles an. »Das gilt auch für Ihre Arbeit als Lotse beim Zebrastreifen an der Schule.«
Er nickt, wirkt ein wenig zu erfreut bei der Aussicht, die Weste zu tragen.
Ich blicke zur Tür, wo Lois steht, damit sie das Telefon hören kann. »Stellen Sie bitte sicher, dass wir genug da haben?«
»Ja, Ma’am.«
»Falls wir selber nicht für jeden eine haben, leihen Sie welche vom Sheriffbüro aus, Holmes oder Wayne.«
»Mach ich.«
Aber wir alle sind uns natürlich bewusst, dass kugelsichere Westen nicht vor Schüssen in den Kopf schützen.
»Wir haben keine Beweise, dass Kester der Schütze ist. Aber er zählt zu den Verdächtigen und ist ein bekannter Meth-Konsument. Außerdem hat er Drohungen gegen mich persönlich und die Polizei von Painters Mill ausgesprochen.« Ich halte inne. »Ich will jetzt nicht auf Einzelheiten eingehen, aber Sie wissen ja bereits, dass die Kesters gegen mich, die Polizeibehörde und die Stadt Painters Mill Klage eingereicht haben. Das sollten wir im Hinterkopf behalten.«
»Kester ist also ein Mann mit einer Mission«, sagt Skid.
»Wenn es wegen des Kindes ist, hat er vielleicht das Gefühl, er hätte nichts mehr zu verlieren«, meint Glock.
»Wäre nicht der erste Trottel, der sich mit Glanz und Gloria aus dieser Welt verabschieden will«, stellt Pickles fest.
Ich nicke, sehe nacheinander meine Officer und schließlich Lois an. »Mit sofortiger Wirkung muss rund um die Uhr ein bewaffneter Officer auf dem Revier anwesend sein. Überstunden sind so lange Pflicht, bis Kester entweder als Verdächtiger ausscheidet oder festgenommen wurde.«
Ich höre ein paar gut getimte, übertriebene Seufzer, aber nicht die geringste Kritik. Alle meine Officer sind im Notfall bereit, unzählige Überstunden zu absolvieren.
»Ich will Sie noch kurz über die neuesten Entwicklungen im Fall des Knochenfundes in der Gellerman Road informieren«, sage ich. »Wir konnten die Titanplatte am Fundort aufgrund der Seriennummer der Platte, die in Nolts Arm eingesetzt wurde, als ihm zugehörig identifizieren. Wir haben noch keine DNA, aber ich kann mit Sicherheit sagen, dass es sich um Nolts Überreste handelt.«
»Haben Sie die Angehörigen schon informiert?«, fragt Glock.
»Ich habe ihnen gegenüber die Möglichkeit angedeutet, sie sind also vorgewarnt«, antworte ich. »Allerdings wollte ich nichts Definitives sagen, bevor es nicht absolut sicher ist, aber ich glaube, sie haben selbst den richtigen Schluss gezogen. Ich warte auf das Ergebnis der DNA-Analyse, bevor ich ihnen bestätige, dass es sich um ihren Sohn handelt. Deshalb müssen wir bis dahin Stillschweigen darüber bewahren.«
»Das ist echt hart für die Eltern«, murmelt Pickles. »Ich hasse so was.«
»Es gibt eine verdächtige Person in Bezug auf die Frau, mit der Nolt vor seinem Tod zusammen war.« Ich erzähle ihnen von dem Quilt mit den eingestickten Initialen. »Abigail Kaufman. Sie ist amisch und heißt jetzt Kline mit Nachnamen. Einen Monat nach Leroys Verschwinden hat sie Jeremy Kline geheiratet.«
Skid grinst. »Wow, die amischen Girls sind echt schnell.«
Eine flapsige Bemerkung, die jedoch die Möglichkeit ins Spiel bringt, dass es – falls sie tatsächlich mit Leroy Nolt zusammen war und so schnell nach seinem Verschwinden geheiratet hat –, vielleicht einen Grund zur Eile gab.
Glock sieht mich aus zusammengekniffenen Augen an. »Wenn Jeremy Kline, Abigail Kaufman und Leroy Nolt irgendeine Dreiecksgeschichte am Laufen hatten, könnte das ein Motiv sein.«
»Sie hat auch einen Bruder, der hier in der Gegend wohnt«, sage ich. »Abram Kaufman. Ich hab noch nicht mit ihm geredet, habe es aber vor.«
»Dann betrachten Sie Jeremy Kline als Verdächtigen?«, fragt T.J.
»Erst einmal als jemanden, den wir im Auge behalten müssen.« Ich erzähle ihnen, dass Kline vom Notarzt ins Krankenhaus eingeliefert wurde.
»Was hat er denn?«, fragt T.J.
Ich zucke die Schultern. »Ihm ist schlecht geworden, und dann hatte er eine Art epileptischen Anfall.«
»Interessantes Timing«, sagt Glock.
»Finde ich auch«, erwidere ich.
»Kann es sein, dass er eine Überdosis Pillen geschluckt hat?«, fragt Pickles.
»Das können wir zwar nicht ausschließen, aber im Moment gibt’s keinerlei Beweise, die das untermauern.«
»Vielleicht weiß er, dass die Polizei ihn im Visier hat, und wollte sich lieber selbst ins Jenseits befördern«, wirft Skid ein.
»Schon möglich«, antworte ich. »Aber ich hab mit ihm gesprochen, und ehrlich gesagt, kam er mir nicht wie jemand vor, der so etwas macht.«
»Vielleicht hat ihm seine Frau nach dem Auffinden der Knochen ein bisschen Rattengift ins Scrapple-Frühstück gemischt«, gibt Glock zu bedenken.
»Es gibt nichts Schlimmeres als den Zorn einer stinksauren amischen Frau«, murmelt Skid.
Diese Feststellung bringt ihm Lacher von uns allen, trotzdem ziehe ich in dieser Phase der Ermittlungen alle Möglichkeiten in Betracht. »Der Arzt in der Notaufnahme lässt sein Blut toxikologisch untersuchen«, sage ich, »das Ergebnis liegt erst in etwa einer Woche vor, aber ich halte Sie auf dem Laufenden.«
Ich wende mich an T.J. »Wollen Sie den anderen eine Zusammenfassung des Berichts vom Sheriffbüro Coshocton County geben, den Sie entdeckt haben?«
Der junge Officer räuspert sich und gibt die Einzelheiten besagten Polizeiberichts wieder. »Ein Deputy hat die Farm von Reuben Kaufman aufgesucht, nachdem eine Nachbarin einen Unfall oder auch Sturz in einen Schweinekoben gemeldet hat.«
Glock und Skid richten sich gleichzeitig in ihrem Stuhl auf.
»Die Nachbarin ist inzwischen verstorben«, sage ich, »aber das kleine Mädchen, das den Vorfall beobachtet hat, wohnt noch hier. Ich habe mit ihr gesprochen, sie heißt Sally Burris und war damals neun Jahre alt. Anscheinend ist sie öfter heimlich rüber auf die Farm geschlichen, ohne Wissen ihrer Eltern. Sie hatte von ihrem Platz aus zwar nur eine eingeschränkte Sicht, ist sich aber sicher, dass drei Männer miteinander gestritten haben.«
»Hatte Kaufman zu der Zeit Schweine?«, fragt Glock.
»Er steht nicht auf der Liste und verneint es, was aber nicht heißt, dass er keine hatte«, erwidere ich.
Pickles lehnt sich vor und stützt die Ellbogen auf den Tisch. »Wo Sie es jetzt erwähnen, Chief, ich kann mich noch genau erinnern, dass sie Schweine hatten. Damals wurden noch die niedrigen Ställe unter den Scheunen benutzt und die Schweine draußen davor auf dem Weideland gehalten.«
Ich blicke zu Skid. »Lois, Mona und Jodie haben eine Liste mit Vieh-Veterinären zusammengestellt. Sehen Sie sich die mal an. Finden Sie heraus, wer damals schon praktiziert hat, und rufen Sie da an. Wenn ein Tier krank war oder kastriert oder geimpft werden sollte, hat Kaufman vielleicht mal einen Arzt auf die Farm kommen lassen. Möglicherweise auch wegen einer schweren Geburt oder Verletzung.«
»Wird gemacht.«
»Chief«, sagt Glock. »Besteht die Möglichkeit, einen Durchsuchungsbeschluss zu bekommen?«, fragt er. »Damit wir uns da draußen mal umsehen können?«
»Richter Seibenthaler verweigert die Unterschrift.«
»Der alte Bock ist mehr am Tourismus interessiert als an der Aufklärung von Verbrechen«, brummt Pickles.
Ich erinnere sie an Nolts Armbruch und die fehlende Titanplatte. »Um das alles mal zu relativieren: Wenn Nolt tatsächlich einer der Männer war, die Sally Burris gesehen hat, und sie haben sich gestritten, kann er entweder gestoßen worden oder einfach so in den Schweinepferch gefallen sein. Möglicherweise hat er bei dem Sturz das Bewusstsein verloren oder war auf andere Weise außer Gefecht gesetzt, und die Schweine – hungrig und aggressiv oder beides – haben sich auf ihn gestürzt.«
»Dann haben sich aber die anderen, mit denen er zusammen war, nicht besonders um seine Gesundheit gesorgt«, bemerkt Glock.
»Sie haben zugelassen, dass die Schweine ihn töten«, sage ich.
»So kann man auch Beweise loswerden«, meint T.J.
»Was von ihm übrig war, haben sie in einen Müllsack gesteckt und im Kriechkeller der verlassenen Scheune versteckt«, fügt Pickles hinzu.
Skid schüttelt den Kopf. »Eine echt gruselige Vorstellung.«
»Wie sind die Gebäude auf der Kaufman-Farm angeordnet«, fragt T.J. »Ich meine, wo ist die Scheune?«
»Sie haben zwei Scheunen. Sally Burris sagt, der Vorfall war in der, die am weitesten von der Straße entfernt ist. Sie ist an einen Hügel gebaut und über zwei Ebenen zugänglich. Auf der Vorderseite gibt es eine Tür zur ersten Ebene. Der Streit fand im hinteren Bereich auf der zweiten Ebene statt.« Ich denke kurz darüber nach. »Ich hab das Innere noch nicht gesehen, aber ich weiß, dass viele dieser Scheunen hinten eine Heutür haben. Das ist praktisch, um Heu oder dergleichen rauszuwerfen, mit dem das Vieh draußen gefüttert wird.«
»Diese hintere Tür führt also ins Nichts und ist etwa drei Meter fünfzig über dem Boden?«, fragt Skid.
Ich nicke. »Wenn jemand da rausgefallen ist oder gestoßen wurde, ist es gut möglich, dass er benommen oder verletzt war.«
»Oder bewusstlos«, sagt Glock.
»Wenn unten Schweine waren …« T.J. lässt den Satz unvollendet.
»Machen Schweine so was?« Skid klingt skeptisch. »Ich meine, würden sie einen Menschen angreifen und auffressen?«
Ich erzähle ihm von meinem Gespräch mit dem Wildbiologen Nelson Woodburn. »Hausschweine sind zwar nicht so aggressiv wie ihre wildlebenden Vettern oder die Halsbandpekari, aber wenn sie am Verhungern sind, werden sie zweifellos ihre Beute angreifen und fressen, um zu überleben. In unserem Fall fehlen nur die Hände und Füße.«
»Brutal«, flüstert T.J.
»Wäre interessant, da mal mit einem Metalldetektor zu suchen«, sagt Glock.
»Wenn nicht schon jemand die Titanplatte in seinem Schweinerippchen gefunden hat«, flüstert Skid.
Pickles schlürft seinen Kaffee. »Dass Sie keinen Durchsuchungsbeschluss gekriegt haben, ist eine Schande.«
»Die Erlaubnis des Besitzers würde wahrscheinlich reichen«, sagt Glock.
Ich sehe ihn an. »Das wäre natürlich das Beste.«
»Klingt aber auch so, als würde der Fuchs die Hühner fragen, ob er reinkommen und eine Tasse Zucker leihen kann«, bemerkt Skid trocken.
»Laut Sally Burris«, sage ich, »waren damals keine Frauen dabei.«
»Und es ist auch nicht unbedingt ein Thema, das Ehemänner bei Kaffee und Kuchen ansprechen würden«, sagt Glock.
»Wenn also die Frau nicht weiß, was passiert ist«, sagt T.J., »hat sie vor der Polizei nichts zu verbergen.«
Ich sehe ihn an und nicke. »Und wenn sie etwas weiß und uns den Zutritt zur Scheune verweigert, überlegen wir uns etwas anderes.«