4. Kapitel
Er hatte das Baseballtraining sausen lassen, und auf das Spiel am Samstag würde er auch verzichten müssen, sagte seine Mom. Josh Pennington war zwölf Jahre alt und liebte Baseball, aber Pfadfinder bei den Eagles zu sein gefiel ihm noch besser. Doch beides zusammen sei zu viel, hatte seine Mom gesagt und ein Machtwort gesprochen: Entweder das eine oder das andere, er müsse sich entscheiden. Da hatte sein Dad – der auch mal bei den Eagles-Pfadfindern und Shortstop beim Baseball gewesen war – ihn gerettet und gemeint, solange er gute Schulnoten mit nach Hause brächte, dürfe er beides machen.
Was aber viel schwerer war, als Josh gedacht hatte. Heute Morgen hatte er bereits um fünf Uhr aufstehen und um sechs an der Schule sein müssen, um mit der Truppe 503 im Bus nach Painters Mill zu fahren. Sie sollten als freiwillige Helfer den Müll und die Trümmer wegräumen, die der Tornado gestern hinterlassen hatte. Ihre erste Station war eine Farm – oder besser gesagt, die Überreste einer Farm – am Stadtrand. Gruppenleiter Hutchinson hatte ihnen aufgetragen, das ganze Gelände zu säubern, und Mannomann, hier sah es schlimm aus. Sogar große Bäume hatte es umgehauen. Erst vor einer Stunde waren die Männer mit den Kettensägen abgezogen und hatten zusätzlich zu dem ganzen anderen Mist – Blechschindeln und die kaputte Holzverkleidung von der alten Scheune – auch noch die abgesägten Äste hinterlassen. Wenigstens waren fast alle aus ihrer Truppe erschienen, trotzdem würden die Aufräumarbeiten bestimmt den ganzen verdammten Tag dauern. Und wenn sie auch noch über Nacht hier zelten mussten, konnte er das Training sowieso vergessen.
Ihr Gruppenleiter hatte zwei Sammelstellen vorbereitet, eine für Windbruch und Bauholz, das später verbrannt würde, und eine für Metall, das auf einen Lastwagen geladen und zum Recyceln weggebracht werden sollte. Den ganzen Morgen hatten Josh und sein Kumpel, mit dem er heute ein Team bildete, die Äste eines gefällten Ahornbaumes auf den Feuerstapel gezogen. Hoffentlich machten sie später ein Lagerfeuer und brutzelten vielleicht ein paar Hotdogs und Marshmallows. Normalerweise war Mr Hutchinson ziemlich cool in der Beziehung.
»Hey, Josh, lass uns die ganzen Bretter hier zur Feuerstelle bringen«, rief jetzt sein Kumpel.
Josh zog den Ast noch bis zur Feuerstelle und ging dann zu seinem Freund, der sich gerade die alten Holzbretter der Scheunenwände anguckte, die über ein Betonfundament verstreut lagen.
»Das muss ’ne echt uralte Scheune gewesen sein.«
»Oder ein beschissenes Riesenplumpsklo.«
Die Jungen lachten lauthals. Joshs Mom mochte Scott nicht. Sie sagte, er fluche zu viel und sei ein Klugscheißer. Josh hatte ihr nicht verraten, dass er genau deswegen gern mit Scott zusammen war.
»Okay, auf geht’s.« Josh bückte sich und nahm ein fast zwei Meter langes Brett, das auf einer Seite wohl einmal rot gestrichen war. Doch das musste lange her sein, denn jetzt war die Farbe fast schon grau.
Zwanzig Minuten lang trugen die Jungen Balken, kaputte Wandbretter und eine Tür zusammen, die in der Mitte durchgebrochen war, und schleppten alles zum Holzhaufen. Josh dachte die ganze Zeit schon an das Lagerfeuer und fragte sich, ob Gruppenleiter Hutchinson ihnen wohl Hotdogs spendierte. Es war noch nicht einmal Mittag, aber er hatte schon einen Bärenhunger.
Er griff sich gerade eine lange Planke des zerstörten Holzbodens, als etwas Rundes, Weißes darunter wegrollte. Zuerst dachte Josh, es wäre ein Stein, aber dafür war es zu rund und rollte zu ebenmäßig. Zu leicht war es auch, und definitiv kein Fußball. Er ließ das Brett fallen, ging hin, kniete sich und stieß das Ding mit der Hand an, woraufhin bleckende Zähne und zwei schwarze Löcher von Augenhöhlen ihm entgegenstarrten.
»Heilige Scheiße!« Josh sprang auf, stolperte aber und fiel hin. »Scott!«
Sein Freund kam lachend zu ihm. »Wenn du wegen einer Maus ausflippst, erzähl ich das Missy Hansch, und die wird dich für das größte Weichei halten, das jemals –« Scott stieß einen kurzen Schrei aus. »Wow. Was zum Teufel ist das denn?«
»Ein verdammter Kopf!« Josh schluckte schwer, denn etwas total Ekliges steckte ihm im Hals.
Die beiden Jungen sahen sich an. Scotts Mund stand so weit offen, dass Josh die Löcher in den Backenzähnen sehen konnte. »Von einem Menschen?«
»Was glaubst du denn? Oder hast du schon mal Kühe mit solchen Zähnen gesehen?
Beide Jungen gingen näher ran, betrachteten ihren makabren Fund. »Wer das wohl ist?«, flüsterte Scott.
»Und warum liegt der Kopf hier und nicht irgendwo auf einem Friedhof begraben«, sagte Josh.
»Wir sollten Hutchinson Bescheid sagen.« Scott seufzte.
»Mist, hoffentlich gibt’s trotzdem ein Lagerfeuer«, sagte Josh.
Ich stehe mitten auf einer Straße umgeben von verbogenem Metall, kaputter Kunststoffverkleidung, einer getäfelten Tür und anderen undefinierbaren Trümmern. Ein paar Meter entfernt auf dem Rasen nahe des Bordsteins thront ein geblümtes, auffallend sauberes Sofa mit einem jungen Ahornbaum quer darüber. Weiter unten liegt ein übel zugerichtetes Auto auf dem Dach eines großen, ansonsten unbeschädigten Mobilheims. Auf der Parzelle daneben hat jemand einen Pfosten in den Boden gerammt und eine amerikanische Flagge gehisst.
Ein Dutzend Trailer sehen aus, als wäre ein betrunkener Riese drüber getorkelt und hätte sie plattgemacht. Mehrere wurden von ihrem Betonfundament heruntergehoben, und mindestens zwei sind völlig verschwunden, noch nicht einmal die Trümmer sind bislang auffindbar. Am Ende der Straße schiebt ein Bulldozer Bruchstücke auf einen Haufen, die später auf einen Lastwagen geladen und zur Müllhalde gefahren werden. Das Hab und Gut von Menschen, das in nur wenigen Minuten zerstört wurde.
Tomasetti und ich waren im Morgengrauen aufgestanden und nach einem Kaffee zu unserer Farm gefahren, wo ich in meinen Explorer umgestiegen bin. Danach sind wir in verschiedene Richtungen aufgebrochen, ohne noch einmal das Gespräch von letzter Nacht oder den Tod der kleinen Lucy Kester zu erwähnen.
Das Amerikanische Rote Kreuz mit einem seiner legendären rot-weißen Transporter für den Katastropheneinsatz sowie eine kleine Truppe freiwilliger Helfer waren bei meinem Eintreffen schon vor Ort, verteilten Wasserflaschen und warmes Essen und Teddybären an die verängstigten Kinder.
»So schlimm es auch ist, grenzt es doch an ein Wunder, dass nicht mehr Menschen umgekommen sind.«
Das ist Glocks Stimme, ich drehe mich um und sehe, dass seine sonst stets tadellose Uniformjacke verdreckt und verschwitzt ist, die Hosenbeine sind bis zu den Knien nass und voller Schlamm.
Er reicht mir eine dampfende Tasse Kaffee. »Ich dachte, den könnten Sie vielleicht brauchen.«
»Kann ich wirklich, danke.« Ich trinke einen Schluck, verbrenne mir die Lippen, doch es ist den Schmerz wert, denn er ist stark und genau das, was ich jetzt brauche. »Waren Sie mit dem Suchtrupp unterwegs?«
Er nickt. »Der Junge ist noch immer verschwunden.«
»O Gott, ich hoffe, sie finden ihn. Ich will mir nicht einmal vorstellen, was die Eltern gerade durchmachen.«
»Die Suche geht weiter, keiner gibt auf.«
Ich nicke. »Ich sorge dafür, dass Sie die Überstunden bezahlt kriegen.«
»Ist nicht so wichtig.« Er nippt an seinem Kaffee, lässt den Blick über die Verwüstung wandern. »Ich würde sowieso bei der Suche helfen.«
»Ich weiß.« Ich trinke gerade den zweiten Schluck Kaffee, als mein Handy klingelt.
»Chief.« Es ist Lois Monroe, die morgens in der Telefonzentrale arbeitet.
»Was gibt’s?«
»Ich hab gerade einen Anruf von Ken Hutchinson bekommen, einem Gruppenleiter der Pfadfinder. Er ist mit einem Trupp Eagles bei der alten Scheune an der Gellerman Road, die vom Tornado plattgemacht wurde, und zwei Jungs haben bei den Aufräumarbeiten einen menschlichen Schädel gefunden.«
Um ein Haar hätte ich meinen Kaffee verschüttet. »Ist er sich sicher, dass er von einem Menschen stammt?«
»Das behauptet er jedenfalls.«
Die Gellerman Road markiert im Norden die Stadtgrenze von Painters Mill. Alles weiter nördlich der Straße fällt in die Zuständigkeit vom Holmes County Sheriffbüro, alles südlich davon gehört zu meinem Bereich. Besagtes Grundstück liegt südlich.
»Informieren Sie die Bezirksbehörde.«
»Mach ich.«
»Und Doc Coblentz.« Dr. Ludwig Coblentz ist der örtliche Kinderarzt, aber auch der Leichenbeschauer von Holmes County.
»Verstanden.«
»Lois, hat Hutchinson gesagt, ob bei dem Schädel auch ein Skelett war?«
»Er meint, da war kein Skelett, nur ein paar verstreute Knochen.«
»Ich bin in fünf Minuten dort.« Ich drücke die Aus-Taste und grabe in der Tasche nach meinen Autoschlüsseln.
»Ihre Frage, ob bei dem Schädel auch ein Skelett war, lässt auf einen interessanten Anruf schließen«, bemerkt Glock.
»Sie haben das Gespräch gerade wunderbar zusammengefasst.« Ich mache mich auf zum Explorer. »Ich halte Sie auf dem Laufenden.«
Über die Jahre bin ich Dutzende Male an der Farm vorbeigefahren, es ist einer jener Orte, die man kaum mehr wahrnimmt, weil fast alles verfallen ist: die Scheune, die paar kleinen Nebengebäude und das rostige Silo sind von hüfthohem Unkraut umwuchert. Ein Schandfleck in der Landschaft, den man lieber übersieht. In den 1970er Jahren wurde das Haus von einem Blitz getroffen und brannte völlig nieder. Da es nicht versichert war, zogen die älteren Besitzer – Mr und Mrs Shephard – zu ihren Kindern, die das Land weiterhin bewirtschafteten.
Schon von weitem fallen mir die vielen Trümmer auf, die Bretter der Scheunenwand, die über den ganzen Platz verstreut sind, und ein großer Walnussbaum mit nackten Ästen. Ich biege in den Feldweg ein, der von kniehohem Gras überwuchert ist. Ohne die alte Scheune, von der nur noch ein paar Holzhaufen, verbogene Metallschindeln und Holzbalken übrig sind, wirkt das Grundstück noch öder als zuvor. Ich sehe die Brocken eines Betonfundaments, die wie die Zähne eines alten Mannes etwa dreißig Zentimeter aus dem Boden ragen. Die Pfadfinder, etwa zehn bis zwölf Jahre alte Jungs, sind noch da. Sie sitzen im Kreis auf Holzklötzen, Steinen oder im Schneidersitz auf dem Boden zusammen, Wasserflaschen in den Händen. Sie starren in meine Richtung, und einige zeigen auf mich.
Ich parke hinter dem gelben Schulbus. Ein rundlicher Mann in lohfarbener Gruppenleiter-Uniform lehnt an einem alten Jeep, und spricht in sein Smartphone. Als er mich aus dem Wagen steigen sieht, beendet er das Gespräch und winkt mich zu sich. Er ist um die vierzig, hat graumeliertes Haar, einen Schnauzbart und die Sonnenbrille oben auf den Kopf geschoben.
»Ken Hutchinson?«
»Ja, Ma’am.« Er kommt mit ausgestreckter Hand auf mich zu, einen aufgeregten Ausdruck im Gesicht.
»Kate Burkholder, Chief of Police.«
Er schüttelt kraftvoll meine Hand. »Danke, dass Sie so schnell gekommen sind.«
In zwölf Metern Entfernung rufen die Jungen etwas zu uns herüber, ich blicke hin und sehe, dass sie fast alle aufgestanden sind und zu der Stelle zeigen, wo die alte Scheune gestanden hat. »Da drüben. Da liegt ein Kopf! Es ist ein Schädel. Da drüben!«
Ich schenke ihnen ein kleines Lächeln. »Die Jungs sind okay?«
»Sie sind eher aufgeregt als erschüttert, würde ich sagen, aber so sind Jungs eben.«
»Wir schätzen es sehr, dass alle beim Aufräumen mithelfen.«
»Na ja, dafür sind Pfadfinder doch da.« Er lacht. »Natürlich haben wir nicht damit gerechnet, einen menschlichen Schädel zu finden. So was Gruseliges hab ich noch nie gesehen.«
Ich deute mit dem Kopf zur Scheune. »Können Sie mir zeigen, was Ihre Jungen entdeckt haben?«
»Ja, Ma’am.«
Hutchinson geht auf dem Trampelpfad, der durch zentimetertiefen Matsch und kniehohes Unkraut führt, voraus. Die Sonne brennt mir auf den Kopf und wärmt meine Haut. Ich höre die trillernden Rufe von Rotschulterstärlingen, die über den kleinen Teich im hinteren Bereich des Grundstücks flattern. Wir umrunden einen umgefallenen Baumstamm, dann sehe ich aus sechs Metern Entfernung das brüchige Betonfundament, auf dem unweit vom Rand tatsächlich eine weiße Kugel liegt, die aussieht wie ein menschlicher Schädel.
Vor dem Fundament bleibe ich stehen und hebe die Hand, so dass Hutchinson auch stoppt. »Es ist besser, wenn wir nicht zu nah rangehen«, sage ich.
»Oh, richtig. Natürlich.«
»Hat jemand etwas angefasst oder bewegt?«, frage ich. »Die Jungen?«
»Ja, die beiden, die den Schädel gefunden haben. Zuerst dachten sie, es wäre ein Stein, haben ihn umgedreht und dann erst die Zähne und die Augenhöhlen gesehen.« Er schüttelt sich übertrieben. »Dann sind sie so schnell sie konnten weggerannt.«
Mein Blick fällt auf kleine schwarze Fetzen, die wie die Reste eines verrotteten Müllsacks aussehen. Der Boden ist von Schuhabdrücken und von den Spuren des Sturms übersät. Etwa einen Meter vor mir liegt ein grau-weißer längerer Knochen – vom Oberschenkel? Zudem ein Rückenwirbel und weitere kleine Knochen.
»Stammt er von einem Menschen?«, fragt Hutchinson.
»Sieht so aus«, erwidere ich.
»Wow, kaum zu fassen, dass wir eine Leiche entdeckt haben.« Er kratzt sich am Kopf. »Was glauben Sie, wie die da hingekommen ist?«
»Keine Ahnung«, sage ich. »Aber ich gehe mal davon aus, dass sie nicht ohne fremde Hilfe in dem Müllbeutel gelandet ist.«