18. Kapitel
»Kate, hallo, aufwachen.«
Ich schrecke aus dem Schlaf hoch. Graues Licht sickert durchs Schlafzimmerfenster, und einen Moment lang bin ich desorientiert. Tomasetti steht neben dem Bett. Meinem Gefühl nach ist es mitten in der Nacht, doch Tomasetti ist schon angezogen – Hemd, zerknitterte Hose, die Krawatte schief und mein Handy in der Hand.
Ich setze mich auf. »Was ist?« Beim Blick auf die Uhr sehe ich, dass es schon nach sieben ist. »Ich hab verschlafen«, murmele ich.
»Dein Handy hat geklingelt.« Lächelnd reicht er es mir. »Mona vom Revier.«
Weil ich daran gewöhnt bin, mitten in der Nacht Anrufe zu bekommen, stelle ich vor dem Schlafengehen immer den Klingelton lauter. Das ist das erste Mal in der Menschheitsgeschichte, dass ich es nicht läuten gehört habe. »Danke.«
»Gern geschehen.« Er beugt sich vor und drückt mir einen Kuss auf den Kopf.
Nach mehrmaligem Räuspern ist mein Hals frei. »Mona?«
»Chief, tut mir leid, Sie so früh zu stören. Aber ich dachte, dass Sie das sicher wissen wollen … ich hab letzte Nacht einen Anruf von Abigail Kline entgegengenommen. Jeremy Kline ist plötzlich sehr krank geworden und wurde ins Krankenhaus eingeliefert.«
Ich schwinge meine Füße über die Bettkante. »Was ist passiert?«
»Sie sagt, er ist krank geworden und hatte eine Art Krampfanfall.«
»Ist er wieder okay?«
»Das Krankenhaus wollte keine Informationen rausgeben, aber einer der Sanitäter hat den epileptischen Anfall bestätigt. Da Sie gerade bei den Klines waren, dachte ich, es interessiert Sie vielleicht.«
»Danke für die Info. Ich fahre sofort zum Krankenhaus.«
Fragen Sie irgendeinen Kriminalbeamten, ob es Zufälle gibt, und er wird im Brustton der Überzeugung sagen: »Nie im Leben.« Was besonders dann zutrifft, wenn ein Zusammenhang zwischen besagtem Zufall und einem aktuellen Fall besteht. Normalerweise würde es nicht die Polizei auf den Plan rufen, wenn plötzlich jemand erkrankt und in die Notaufnahme gebracht wird. Aber Jeremy Kline ist nicht irgendjemand. Er ist vielleicht – oder vielleicht auch nicht – in ein dreißig Jahre altes Geschehen verwickelt, bei dem ein Mann umgekommen ist. Hat seine Einlieferung ins Krankenhaus irgendetwas damit zu tun?
Obwohl ich nicht davon überzeugt bin, dass einer der beiden Klines mit dem Tod von Leroy Nolt unmittelbar etwas zu tun hat, sind sie nicht über jeden Verdacht erhaben. Sie wissen, dass ich mein Augenmerk auf sie gerichtet habe, und die Erfahrung hat mich gelehrt, dass polizeiliches Interesse enormen Stress auslösen kann. Wenn Jeremy sich etwas hat zuschulden kommen lassen und fürchtet, dass ich ihm auf der Spur bin, wäre er nicht der Erste, der sich selbst verletzt, um einer Verhaftung und Anklage zu entgehen. Natürlich ist das reine Spekulation, und der Grund für seine Einlieferung ins Krankenhaus ist vielleicht nichts weiter als eine schlichte Lebensmittelvergiftung. Aber ich habe gelernt, mich auf mein Gefühl zu verlassen, und heute Morgen sagt es mir, dass das Timing stinkt.
Als ich im Pomerene Hospital ankomme, ist es nach acht Uhr. In der Schwesternstation der Notaufnahme sitzt eine junge Frau in rosa OP-Kleidung und bearbeitet mit langen, manikürten Fingern die Computertastatur. »Oh, hallo Chief.« Sie wirft mir ein Lächeln zu. »Sie entwickeln sich zur Stammkundin.«
Ich lächele zurück. Sie heißt Cindy und hatte zwei Nächte zuvor Dienst, als ich nach den Schüssen eingeliefert wurde. »Sie müssen mich bald auf ihre Gehaltsliste setzen.«
»Ich werde mich gleich mit den Erbsenzählern in Verbindung setzen, mal sehen, was sich machen lässt.« Cindy dreht sich mit ihrem Stuhl zu mir. »Was kann ich für Sie tun?«
»Ich habe gehört, Jeremy Kline wurde heute Nacht eingeliefert.«
»Stimmt, der amische Mann, wir haben ihn vor ein paar Stunden aufgenommen. Im Moment wird er gerade von Doktor Megason untersucht.«
»Wissen Sie, was passiert ist?«
»Moment …« Sie dreht sich wieder ihrer Tastatur zu und tippt etwas. »Der Patient war beim Eintreffen nicht bei Bewusstsein, aber anscheinend haben die Sanitäter von seiner Frau ein paar Infos bekommen.« Mit zusammengekniffenen Augen liest sie vom Monitor ab. »Krampfanfälle, Erbrechen, Atemnot.«
»Hat er vielleicht eine Vorgeschichte von Epilepsie?«
»Nein.«
»Kopfverletzung?«
»Die Frau sagt nein.«
»Wurde er auf Alkohol oder Drogen untersucht?«
»Im solchen Fällen nimmt der Arzt routinemäßig Blut und eine Urinprobe ab und lässt beides auf Drogen untersuchen.« Sie rümpft die Nase. »Er ist amisch, Chief.«
»Ich bin leider nicht sicher, dass das in dem Fall von Bedeutung ist.« Ich seufze. »Ist seine Frau hier?«
»Sie sitzt im Wartebereich der Notaufnahme.«
Ich stoppe am Getränkeautomaten, kaufe zwei Tassen Kaffee und gehe zu besagtem Wartebereich. Abigail Kline sitzt auf einer orangefarbenen Kunstlederbank und blättert durch eine Ausgabe des Frauenmagazins Good Housekeeping.
Bei meinem Anblick schreckt sie zusammen und springt abrupt auf. »Chief Burkholder. Was ist mit Jeremy? Ist er okay?«
Ihr Gesichtsausdruck ist gezeichnet von Stress und einer schlaflosen Nacht. Ihre Augen sind blutunterlaufen, die Ringe darunter haben die Farbe eines Blutergusses. Ich reiche ihr einen Kaffee. »Ich bin hergekommen, um mich nach Jeremy zu erkundigen und zu sehen, wie es Ihnen geht.«
»Oh.« Sie blickt auf den Kaffee und nimmt ihn. »Danke. Ich bin okay. Aber um Jeremy mache ich mir Sorgen.«
»Was ist passiert?«
»Er ist in der Nacht einfach … krank geworden. Es ist so schnell passiert. Ich habe vier Kinder, die wirklich keine Kinderkrankheit ausgelassen haben. Aber das jetzt … Ich wusste nicht, was ich machen soll oder wie ich ihm helfen könnte. Ich hatte noch nie so große Angst.«
Ich nicke. »Können Sie mir im Einzelnen erzählen, was passiert ist?«
»Es war ein ganz normaler Abend«, sagt sie. »Wir haben zusammen Abendbrot gegessen und sind dann runter zum Bach gelaufen. Danach haben wir auf der Veranda gesessen und Kuchen gegessen. Gegen neun Uhr dreißig sind wir zu Bett gegangen.« Sie schließt kurz die Augen. »Etwa um Mitternacht wurde ich wach. Er war im Bad und hat sich übergeben und … Sie wissen schon. Ich bin zu ihm hin, um zu sehen, was los ist, es ging ihm ganz schlecht, und er hat gezittert. Ich dachte, er hat den Magen-Darm-Virus, der gerade rumgeht, und habe ihm Pfefferminztee gemacht. Aber der hat nicht geholfen, nichts hat geholfen. Es ging ihm immer schlechter. Und dann ist er einfach … er ist auf den Boden gefallen und hatte Krämpfe. Ich dachte, er stirbt.«
»Was haben Sie dann gemacht?«
»Ich konnte ihm nicht aufhelfen oder gar ins Bett bringen, er ist zu schwer für mich. Ich hab Kissen um ihn rumgelegt und bin zum Nachbarn gelaufen und hab den Notruf angerufen.«
»Wie geht es ihm jetzt?«
»Das weiß ich nicht. Der Arzt ist rausgekommen und hat mir eine Menge Fragen gestellt. Ich hab Jeremy nur ein paar Minuten gesehen. Sie haben ihm einen Schlauch in den Mund gesteckt zum Atmen. Er konnte nicht sprechen. Er war so bleich.« Sie verzieht das Gesicht, drückt die Hand auf den Mund. »Er konnte nicht mehr selbständig atmen.«
»Hat der Arzt denn eine Ahnung, warum er krank geworden ist?«, frage ich.
Sie schüttelt den Kopf. »Es dauert jetzt schon Stunden, und keiner sagt mir irgendwas.«
Ich nicke. »Wie war seine Verfassung gestern Abend?«
»Es ging ihm gut. So wie immer.«
»Hatten Sie gestern Abend Gäste? Ist noch jemand vorbeigekommen?«
»Nein, wir waren allein.«
»Sind Sie noch irgendwo hingegangen?«
»Nein.«
»Ich hoffe, es geht ihm bald besser.« Ich berühre ihre Schulter. »Ich komme später noch einmal vorbei.«
»Ich danke Ihnen, Chief Burkholder.« Sie faltet die Hände so fest, dass die Knöchel weiß werden. »Ich bete zu Gott, dass es nichts Ernstes ist.«
Als ich in meinen geliehenen Crown Vic steige, um aufs Revier zu fahren, geht mir Jeremy Klines rätselhafte Erkrankung nicht aus dem Kopf. Wahrscheinlich ist es einfach ein Magenvirus oder eine Lebensmittelvergiftung, vielleicht auch die falsche Einnahme oder eine allergische Reaktion auf ein verschreibungspflichtiges Medikament oder auch von nicht verschreibungspflichtigen Kräutern. Aber das Timing lässt mir keine Ruhe und nagt an meinem professionellen Verständnis. Selbst wenn es für seine Erkrankung keine harmlose Erklärung geben sollte, kann ich mir absolut kein Motiv vorstellen, warum ihn jemand aus dem Verkehr ziehen will. Es sei denn, er hat sich selbst Schaden zugefügt, weil ich kurz davor bin, etwas herauszufinden, was ich nicht wissen darf.
Kaum dass ich wieder im Auto sitze und den Parkplatz verlassen habe, drücke ich die Kurzwahltaste für Glock. »Haben Sie Lust auf ein Abenteuer?«, falle ich mit der Tür ins Haus.
»Wenn ich meine Pistole mitbringen darf«, kontert er.
Ich versuche erfolglos, ein Lachen zu unterdrücken. »Ich möchte, dass Sie bei Axel Equipment Rental in der Third Street für ein paar Tage zwei Metalldetektoren mieten.«
»Okay. Ich bin sogar ganz in der Nähe.« Er hält inne. »Wobei ich mich natürlich frage, wofür wir die brauchen.«
»Ich dachte, wir sehen uns mal in dem verlassenen Schweinezuchtbetrieb um, ob wir da etwas Interessantes finden.«
»Zum Beispiel eine Titanplatte?«
»Und alle sagen, ich hätte Sie wegen Ihrer Treffsicherheit eingestellt.«
»Bin vermutlich ein Alleskönner.«
Ich grinse. »Wir treffen uns dort in etwa einer Stunde, okay?«
»Alles Roger«, sagt er, und wir beenden das Gespräch.
Eine Stunde später befinde ich mich auf der County Road 24 Richtung Süden, nordwestlich von Coshocton. Rechts von mir liegt ein Maisfeld entlang der Straße, das im Westen bis zu einem steilen Hang reicht. Ich fahre einen Hügel hinunter, überquere einen kleinen Bach, danach geht das Maisfeld in Weideland über. Eine Viertelmeile hinter dem Bach komme ich in ein Waldgebiet mit jungen Bäumen und Büschen – die Natur erobert sich ihren rechtmäßigen Besitz zurück.
Laut meinem GPS liegt Hewitt Hog Producers geradeaus auf der rechten Seite. Ich fahre einen weiteren Hügel hinab und komme in eine Niederung. Die Belaubung wird dichter, ausgewachsene Bäume werfen dunkle Schatten. Ich halte rechts Ausschau nach einem Schild oder Briefkasten, einer überwucherten Einfahrt oder Straße. Als ich den Bach ein drittes Mal überquere, entdecke ich kurz dahinter auf der linken Seite einen fast vollständig überwachsenen Weg und trete so fest auf die Bremse, dass mein Sicherheitsgurt blockiert.
Ich biege in den Weg ein, und mein Wagen holpert über alte Spurrillen und ausgetrocknete Schlammlöcher. Als ich durch einen höhlenartigen Eingang fahre, kratzen Äste und Büsche entlang der Autotüren. Nach einhundert Metern öffnen sich die Bäume zu einem großen Schotterplatz mit einer riesigen Stahlhalle, die wie eine primitive Ruine aus dem Boden ragt, je ein Silo an beiden Enden. Roststreifen in der Farbe von altem Blut lassen das Gebäude aussehen wie eine niedergestreckte Bestie.
Ich parke in sicherer Entfernung von dem hüfthohen Unkraut, in dem sich Löcher oder Schlangen oder was immer verbergen könnten. Gerade will ich Glock anrufen und ihm sagen, dass die Ortsangabe des GPS falsch ist, als ich Autoreifen knirschen höre, mich umdrehe und sehe, dass sein Streifenwagen sich nähert. Ich steige aus und nehme die Segeltuchtasche vom Rücksitz, in die ich ein paar kleine Schaufeln und einen Klappspaten gepackt habe.
Kurz darauf bleibt Glock hinter meinem Crown Vic stehen, steigt ebenfalls aus und öffnet seinen Kofferraum. »Hey, Chief«, sagt er, als ich zu ihm trete.
»Hatten Sie Probleme, es zu finden?«, frage ich.
»Nee.« Er holt den ersten Metalldetektor heraus und lehnt ihn an die Stoßstange. »Bin bloß viermal vorbeigefahren.«
Grinsend blicke ich zu der Stahlhalle. Ein maroder, inzwischen aufgeschnittener Maschendrahtzaun umgibt einen Stromkasten, dessen Tür aufgebrochen wurde.
»Sieht aus, als wären die Kupferdiebe auch schon hier gewesen.« Er lehnt auch den zweiten Metalldetektor an die Stoßstange und wirft den Kofferraum zu. »Wie lange ist der Betrieb schon geschlossen?«
»Plus minus achtzehn Jahre.«
»Sieht auch so aus.« Sein Blick wandert über die Bäume und das dichte Unterholz. Er gehört nicht zu den Ängstlichen, aber ich spüre seine Anspannung – die gleiche, die sich auch in mir breitmacht. Wir sind hier in einer total abgeschiedenen Gegend, um uns herum gibt es wunderbare Möglichkeiten zum Verstecken. Wenn man einen Polizisten aus dem Hinterhalt überfallen will, ist das hier der perfekte Ort.
Als könne er meine Gedanken lesen, grinst er. »Könnte sein, dass jeden Moment ein Zombie zwischen den Bäumen hervorkommt.«
»In dem Fall laufen wir, was die Schuhe hergeben.« Ich nehme die Leinentasche und hänge sie mir über die Schulter.
Die Vorderseite des Gebäudes ist verputzt und mit Moos überzogen, der Rest ist aus Wellblech. Von hier aus sehe ich die Überreste von riesigen Ventilatoren, wahrscheinlich um im Sommer die Hitze und den Gestank zu verteilen. Schweigend arbeiten wir uns durch Unkraut und Baumschösslinge zum Eingangstor vor. Aus den Wäldern um uns herum dringt Vogelgezwitscher und Zikadengezirpe. Ein verblichenes und von Vogeldung bekleckertes Holzschild lehnt an einem dürren Wacholderbaum, der früher sicher das Landschaftsbild verschönert hat. Mit einiger Mühe kann ich noch die verblasste Schrift darauf lesen: HEWITT HOG PRODUCERS, inklusive des Logos eines lächelnden weißen Schweins. Das ebenfalls verblichene BETRETEN VERBOTEN-Schild daneben heißt uns willkommen.
»Weiß das Sheriffbüro, dass wir hier draußen sind?«, fragt Glock.
Ich nicke. »Ich hab angerufen und gesagt, dass wir uns hier umsehen.«
Die offene Tür hängt gefährlich schief an einem einzigen Scharnier und knarrt in der Brise. Das Holz ist ohne jeden Anstrich und von den Naturgewalten verzogen. Im Inneren erkenne ich einen Bereich, der wohl mal der Empfang gewesen war, und mehrere Büros.
Glock geht als Erster durch die Tür. »Was ist hier damals eigentlich passiert?«, fragt er, als ich nach ihm eintrete.
»Der Betrieb wurde nach Problemen mit der Umweltschutzbehörde geschlossen – Hewitt musste eine hohe Strafe zahlen, weil er Abfall im Wasserschutzgebiet entsorgt hatte.« Ich folge ihm ins Innere, wo mir sofort der Geruch von verrottetem Holz und der unangenehme Gestank von Schimmel entgegenschlägt. »Er hat alles einfach zurückgelassen, ohne jemanden zu informieren, dass sich noch mindestens ein Dutzend Schweine hier befanden. Die wurden dann von der Behörde eingeschläfert.«
Glock dreht sich um und sieht mich an. »Solche Geschichten machen mich immer total wütend. Menschen, die Tiere quälen, sind echt krank im Hirn.«
»Sehe ich genauso.«
Wir durchqueren die Büros, die bis auf einen fußlosen Drehstuhl komplett leergeplündert sind. Auch die Bürotüren sind verschwunden. Die Wände sind größtenteils mit Graffiti überzogen, einige bunt und kreativ, die meisten aber geistlose Schmiererei. Auf dem Boden liegen eine Meth-Pfeife und mehrere Spraydosen sowie die winzigen Knochen eines lange verendeten Nagetiers. Alles ist verdreckt und mit Flechten und anderen nicht identifizierbaren organischen Substanzen überzogen.
Wir kommen zu einer Tür mit Dutzenden Einschüssen von Schrotkugeln und einem faustgroßen Loch. Glock zerrt sie auf. Wir gehen einige Stufen hinunter und gelangen in den Bauch einer Art Halle mit Laderampe und Dutzenden alten Schweinekoben. Die meisten Stahltrenngitter sind verschwunden, einige verrostet und kaputt. Wahrscheinlich wurde die ganze Einrichtung vor langem versteigert, und was keinen Käufer fand, wurde einfach zurückgelassen. Daran haben sich die Leute im Laufe der Zeit dann selbst bedient, je nachdem was sie brauchten. In der Hälfte der Koben befinden sich ein Meter tiefe Jauchegruben, teilweise mit Gitterrosten abgedeckt, andere sind gähnende Löcher.
Durch eine Tür auf der anderen Seite der Halle erkenne ich die Fassade einer baufälligen Wellblechbaracke mit großem Schiebetor und winzigen quadratischen Fenstern.
Allein die Ausmaße der ganzen Anlage lassen mich aufstöhnen. »Das sieht nach viel Arbeit aus.«
»Soll ich Skid oder T.J. anrufen?«, fragt Glock.
Ich stelle mir vor, wie viel Planung und Überstunden das bedeuten würde, und schüttele den Kopf. »Wir gucken erst mal, wie viel wir zu zweit schaffen. Wenn es nicht reicht, können die beiden morgen herkommen.«
Er nickt. »Da die Knochen des Opfers Spuren von Schweinezähnen aufweisen und er sogar hier gearbeitet hat, sollten wir uns wirklich genau umsehen.«
»Die Frage ist, ob die Titanplatte einfach zurückgelassen wurde.« Ich blicke auf meinen Metalldetektor. »Hat der Mann vom Verleih Ihnen erklärt, wie man die Dinger bedient?«
»Ja.« Er beugt sich vor und drückt auf einen Knopf. »Das ist der An-Schalter. Der Regler steht auf ›empfindlich‹ und spürt so ziemlich alles auf, einschließlich Kronkorken und sonstigem Mist. Er meint, das sei die richtige Einstellung, weil wir beide Amateure sind.« Glock grinst. »Ich glaube, er hat ›idiotensicher‹ gesagt.«
»Was er ganz sicher nicht wörtlich gemeint hat.«
Er lacht und erklärt mir, wie es geht. »Wir müssen den Boden in einzelne Abschnitte unterteilen, einen nach dem anderen ablaufen und das Gerät dabei langsam hin und her schwenken, so etwa.« Er führt es mir vor.
Ich hole mein Smartphone heraus und suche das Foto der Titanplatte. »Die wir suchen, sieht der hier ähnlich. Vielleicht gehörten auch Schrauben dazu, aber sicher ist das nicht.«
Er nickt. »Ich fange mit der Nordseite an, Chief. Wollen Sie die Südseite nehmen? Dann arbeiten wir aufeinander zu.«
»Gute Idee.«
Er zeigt zur Wellblechbaracke. »Wenn Sie nichts dagegen haben, checke ich dort zuerst.«
»Vergessen Sie aber nicht die Parole, wenn Zombies auftauchen«, sage ich.
»Ja ja, jeder läuft um sein Leben.«
Wir trennen uns, ich gehe rechts zur Südseite mit dem Labyrinth der Schweinekoben, er geht Richtung Wellblechbaracke.
Es ist jetzt zwei Wochen her, dass ich vor etwa vierzig Oberstufenschülern der Painters Mill Highschool einen Vortrag gehalten habe. Die meisten Schüler hatten geglaubt, Polizeiarbeit wäre glamourös und aufregend, gespickt mit superschnellen Verfolgungsjagden, CSI-Technologie und gefährlichen Undercover-Einsätzen, bei denen Millionen von schmutzigen Dollars sichergestellt werden und der Drecksack von Drogendealer am Ende im Gefängnis landet. Ein Irrglaube, von Film und Fernsehen verbreitet. Doch niemand lässt gern die Seifenblasenträume eines jungen Menschen platzen, und so fiel es mir schwer, sie darauf hinzuweisen, dass die Realität vollkommen anders aussieht. Was ich trotzdem getan habe.
Einen fast achthundertfünfzig Quadratmeter großen Schweinezuchtbetrieb mit einem Metalldetektor abzusuchen, ist ein Paradebeispiel dafür, wie wenig glamourös Polizeiarbeit sein kann, besonders, wenn sie von Stahlgittern, Jauchegruben und herunterfallenden Futterspendern behindert wird. Bis jetzt hat meine Suche einen Schraubenzieher zutage befördert, sechs Bierdosen, leere Patronenhülsen, diverse Nägel und eine Strumpfbandnatter. Es ist heiß und schwül, und wegen des nahen Flusses im Osten sind die Moskitos so groß wie Fledermäuse und immens blutrünstig.
Nach zwei Stunden finde ich einen Schädel. Ich stehe am Fuß einer Jauchegrube auf einem über Jahrzehnte angewachsenen Schweinekothaufen – der zu meiner Erleichterung zu Erde kompostiert ist –, als er weiß aus dem Dreck ragt. Ich lehne den Metalldetektor an die Betonwand, ziehe den Spaten aus der Gesäßtasche und gehe in die Hocke, um mir den Schädel genauer anzusehen. Er ist glatt und anscheinend unversehrt. Ich löse ihn mit dem Spaten vorsichtig aus der Erde, und obwohl ich keine Expertin bin, sieht er ganz nach einem Schweineschädel aus – länglich, relativ flach von Scheitel bis Nase und kleine Hauer, die aus dem Unterkiefer nach oben ragen. Mein Blick fällt auf einen zweiten weiß schimmernden Knochen, ich lege mehrere Wirbel frei, etwa ein Dutzend Rippen, ein Schulterblatt. Dann nehme ich wieder den Metalldetektor und schwenke ihn langsam über den Bereich. Als er nicht anschlägt, lasse ich die Knochen liegen und setze meine Suche fort.
Ich habe nur ein paar Meter geschafft, als mich Übelkeit überkommt, nicht zum ersten Mal an diesem Morgen. Wieder schiebe ich sie auf meinen Hunger und will sie wie vorher ignorieren, doch diesmal gelingt es mir nicht. Ich lehne den Metalldetektor an den Gitterzaun, schaffe es gerade noch aus den Schweineställen heraus und übergebe mich ins Unkraut. Vornübergebeugt, die Hände auf die Knie gestützt, bin ich noch nicht ganz fertig, als ich Glock hinter mir höre.
»Chief?«
Ich hebe die Hand, wackle mit dem Zeigefinger und übergebe mich erneut. So stehe ich eine weitere Minute da, spuckend und schwitzend und peinlich berührt. Schließlich richte ich mich auf, ziehe ein Taschentuch aus der Tasche und wische mir den Mund ab. »Sorry«, murmele ich.
»Brauchen Sie Wasser oder so?«, fragt er.
»Nein.« Ich rücke mein Chief-of-Police-Gesicht wieder gerade und drehe mich zu ihm um. »Es ist die Hitze, glaube ich.«
Ich hab schon besser gelogen, denn es sind höchstens fünfundzwanzig Grad, und es weht eine angenehme Brise. Ich wünschte, ich hätte ihm erzählt, dass ich gestern Abend zu viel getrunken habe.
»Ich bin daran gewöhnt«, sagt er bloß. »LaShonda übergibt sich seit vier Monaten. Die ersten drei Monate der Schwangerschaft –« Er bricht mitten im Satz ab.
Angespannte Stille folgt, als wäre uns plötzlich der Sauerstoff ausgegangen. Ich starre Glock an, als könnte ich ihn so dazu bringen, seine Worte rückgängig zu machen. Mein Mund steht offen, doch ich schaffe es nicht, ihn zu schließen. Ich stehe einfach nur blöd und stumm da, sicher, dass mir mein gut gehütetes Geheimnis ins Gesicht geschrieben steht.
Glock hebt die Hand. »He, das geht mich absolut nichts an.«
Als ich dann zu ihm hingehe, grummelt mein Magen immer noch. »Haben Sie etwas gefunden?«
Er hält eine Tüte mit etwa einem Dutzend schmutzigen Patronen hoch. »Sieht aus, als lägen die schon eine Weile hier rum.« Er zeigt zu der Stelle, wo er sie gefunden hat. »Die Leute ballern hier draußen zwar wild rum, aber ich denke, es lohnt sich, die hier mal genauer anzusehen.«
»Irgendwelche Knochen?«
»Eine Menge.« Er zeigt zur Ecke des Gebäudes. »Wer immer die Tiere eingeschläfert hat, hat die Kadaver einfach in die Ecke befördert und verrotten lassen.«
»Vielleicht sind deshalb die ganzen Patronen noch hier.« Ich denke kurz darüber nach. »An Nolts Überresten waren keinerlei Schussspuren, was in dem Fall aber nichts heißen muss. Wir tüten sie vorsichtshalber ein.«
Aus dem Funkgerät klingt knisternd die Stimme meiner Telefonistin.
»Chief«, unterbricht sie uns, »ich hab einen Anruf gekriegt, in McNaries’ Bar ist eine Schlägerei im Gange.«
Glock und ich sehen uns an. »Eine Schlägerei«, murmelt er. »Sind wir hier fertig, Chief?«
»Ich muss hinten an der Nordseite noch einen kleinen Bereich zu Ende machen«, sage ich. So wie er mich jetzt ansieht, will er mich hier draußen nicht allein lassen. »Fahren Sie los, in ein paar Minuten bin ich auch hier weg.«
Er zögert.
»Glock, Himmelherrgott, ich bin Polizistin.«
Er wirkt unentschlossen, seufzt. »Hören Sie, Chief, ich weiß, dass Sie eine klasse Polizistin sind, und ich will mich wirklich nicht in private Dinge einmischen … aber Tomasetti hat mir aufgetragen, auf Sie aufzupassen.«
Jetzt seufze ich. »Hätte ich mir denken können.«
»Und weil vor ein paar Tagen auf Sie geschossen wurde, finde ich das auch richtig. Zumal Kollegen zusammenhalten müssen.«
Ich klopfe auf die .38er an meiner Hüfte. »Und unter uns, in meinem Knöchelholster steckt eine .22er Mini-Magnum.«
»Verdammt, Chief, ich bin echt beeindruckt. Und irgendwie auch neidisch.«
Jetzt muss ich wirklich lachen. »Fahren Sie los, bevor McNarie jemanden krankenhausreif prügelt.«
»Ja, Ma’am.« Er dreht sich um, joggt zu seinem Streifenwagen und drückt dabei aufs Ansteckmikro. »Bin auf dem Weg.«
Ich gebe unumwunden zu, dass die Schüsse in meiner Psyche Spuren hinterlassen haben. Trotzdem weiß ich nicht, ob mich Tomasettis Anweisung, Glock solle ein Auge auf mich haben, irritiert oder erfreut. Als Polizeichefin in einer Kleinstadt lebe ich nicht übermäßig gefährlich. Die Risiken meiner Position sind minimal im Vergleich zu den Gefahren, denen Großstadtpolizisten, Sheriff-Deputys oder Highway Patrol Officers tagtäglich ausgesetzt sind. Natürlich hat Tomasetti allen Grund – und das Recht – sich Sorgen zu machen. Aber ist es mir recht, dass er ohne mein Wissen mit meinen Mitarbeitern spricht? Untergräbt er dadurch meine Autorität? Wie wird er reagieren, wenn meine Schwangerschaft nicht mehr zu übersehen ist?
Als ich schließlich die Suche im nördlichen Bereich des Gebäudes beende, kann ich nur noch eine verrostete Zange und ein altes Hufeisen vorweisen. Ich habe gerade die Laderampe erreicht und bin auf dem Weg zurück in die Büroräume, als die Eingangstür knarrt. Sicher ist einer meiner anderen Officers zu McNarie’s Bar gefahren und Glock ist zurückgekommen, um mir zu helfen.
»Wenn Sie gekommen sind, um mir zu helfen, sind Sie zu spät dran«, rufe ich.
Ich schwinge den Tragegurt des Metalldetektors über meine rechte Schulter, packe mit der linken Hand die Tasche und mache mich auf zur Tür. Auf halbem Weg wird mir schlagartig klar, dass ich keine Antwort bekommen habe. Ich bleibe stehen, stelle die Tasche ab und lehne den Metalldetektor ans Gitter eines Kobens.
»Glock? Sind Sie das?«
Ein kaum hörbarer Laut bewirkt, dass sich mir die Nackenhaare sträuben. In dem Moment bin ich sicher, dass es nicht Glock ist. »Polizei Painters Mill!«, rufe ich laut. »Wer ist da?«
Meine Frage wird mit einem Schuss beantwortet. Adrenalin durchflutet meinen Körper, ich gehe in die Hocke, ziehe meine .38er, den Finger schussbereit am Abzug. Dutzende Gedanken schießen mir gleichzeitig durch den Kopf. Ich weiß nicht, aus welcher Richtung geschossen wurde, und habe hier absolut keine Deckung.
Ich gehe rückwärts Richtung Treppe und drücke aufs Ansteckmikro. »Schusswechsel im Gange!«, schreie ich hinein und gebe meinen Standort durch.
Ein zweiter Schuss prallt einen halben Meter neben meinem Stiefel vom Betonboden ab. Den Schützen kann ich nicht sehen, bin aber ziemlich sicher, dass er in einem der vorderen Büros ist. Ich schieße dreimal.
»Brauche Unterstützung!«, schreie ich ins Mikro. »Werde beschossen! Brauche sofort Hilfe!« Und in Richtung des Schützen: »Polizei! Legen Sie die Waffe auf den Boden!«
Ein weiterer Gewehrschuss knallt, gefolgt vom Zing! eines Querschlägers. Ich muss von der Laderampe runter, trete zurück, stoße mit dem Rücken an das Stahlrohr des Rampengeländers, das scheppernd nach hinten wegknickt. Und ich falle rückwärts ins Nichts.