28. Kapitel

Im ersten Moment weiß ich nicht, was mich mehr schockt: der Anblick Reuben Kaufmans, der nicht im Rollstuhl sitzt, sondern aufrecht vor mir steht, oder die Waffe in seiner Hand, den Finger am Abzug. Abigail verstummt schlagartig. Wir starren ihn beide an. Die Luft ist zum Zerreißen gespannt.

»Mr Kaufman, legen Sie das Gewehr weg.« Die .38er steckt in meinem Hüftholster, das Ansteckmikro an meinem Revers. An beides komm ich zwar schnell ran, aber keinesfalls schnell genug, um vor ihm zu schießen.

»Legen Sie das Gewehr weg«, wiederhole ich, gehe ein paar Schritte vor. »Sofort. Bevor jemand verletzt wird.« Ich zeige auf Abigail. »Ihre Tochter.«

»Geh ins Haus«, sagt er zu ihr, den Blick weiter auf mich geheftet.

Abigail rührt sich nicht. Sie starrt ihren Vater an, als sehe sie ihn nach langer Zeit zum ersten Mal. »Ich weiß, dass du dabei warst. All die Jahre … du hast es gewusst … mit Leroy, und hast es mir nie erzählt.«

»Er war ein maulgrischt.« Er war kein echter Christ. »Ich habe dich beschützt. Ich habe deine Seele gerettet. Und jetzt geh ins Haus zu deiner Mutter, und lass mich das hier regeln.«

Sie geht auf ihn zu.

Er hat den Blick weiter auf mich gerichtet. »Sie, gehen Sie zurück zur Tür.«

Ich stehe etwa drei Meter davon entfernt, habe aber eine klare Sicht auf den Koben darunter, wo etwa ein Dutzend kräftige Schweine umherlaufen, Säue und Eber und mittelgroße Ferkel. Fast alle haben uns bemerkt und sehen zu uns herauf.

»Mr Kaufman, meine Mitarbeiter wissen, dass ich hier bin«, sage ich. »Die Polizei ist unterwegs. Sie werden niemals ungeschoren davonkommen.«

Er stößt mit dem Gewehr in meine Richtung. »Rüber zur Tür!«

Seine Stimme dröhnt durch die Scheune. Und ich hatte ihn für einen gebrechlichen, alten Mann gehalten, an den Rollstuhl gefesselt und auf die ständige Hilfe seiner mitleidenden Frau angewiesen. Alles gelogen. Der Rollstuhl, die schlechte Gesundheit – alles nur, um ihn vor den Folgen seiner Tat zu schützen. Damit sein Geheimnis nicht ans Licht kommt. Die Vorstellung lässt mich schaudern.

»Legen Sie das Gewehr auf den Boden.« Um Zeit zu gewinnen, hebe ich beide Hände und mache einen Schritt Richtung Tür. »Ich tue, was immer Sie sagen.« Ich sehe Abigail an, gebe ihr mit Blicken zu verstehen, ihm zu gehorchen und zurück ins Haus zu gehen. Sie steht jetzt ein wenig seitlich hinter Kaufman, so dass der alte Mann zwischen uns ist und wir drei eine Art unregelmäßiges Dreieck bilden. Sie starrt mich an, ihr Blick ist so leer, dass es mich fröstelt.

Kaufman legt den Kopf zur Seite. Er sieht mich an wie ein Wissenschaftler ein kleines Tier, das er gleich aufschneiden wird. Sein Gesicht zeigt weder Anspannung noch Angst, nur die kaltblütige Entschlossenheit, seine Tochter zu retten, seine Familie, seinen eigenen Hals. In dem Moment wird mir bewusst, dass ich ihn mit Reden nicht von seinem Vorhaben abhalten kann.

Die Hände weiter auf Schulterhöhe, trete ich noch näher zur Tür hin und versuche eine andere Taktik. »Abigail hat mir erzählt, dass Leroy in den Koben gefallen ist. Ich weiß, dass es ein Unfall war. Ich weiß, dass sie nicht dabei war und dass Sie nichts damit zu tun hatten. Keiner von Ihnen beiden wird für etwas zur Verantwortung gezogen, das Sie nicht getan haben. Wenn Sie das Gewehr hinlegen, wird Ihnen beiden nichts passieren.«

»Sie haben ihn ermordet, Chief Burkholder. Alle drei, Jeremy, mein Bruder und mein Vater«, ruft Abigail entsetzt.

Ich sehe sie nicht an, habe den Blick weiter auf Kaufman gerichtet und warte auf eine Gelegenheit, meine Waffe zu ziehen und das Ganze hier zu beenden.

Kaufman sieht seine Tochter an. »Sei ruich.« Schweig.

»Die Wahrheit hat lange genug geschwiegen«, entgegnet sie.

»Leroy Nolt war Mennisch.« Mennonit. Er spukt das Wort aus, und sein Hass hallt kristallklar im Raum wider.

»Und du bist ein maddah.« Mörder.

»Ich hab es getan, damit du nicht in der Hölle schmorst.«

»Leeyah.« Lügner. »Und was hast du mit deinem unehelich gezeugten Enkel vor?«, zischt sie. »Wie willst du Levis Seele retten?«

Kaufmans Mund geht auf. Seine Lippen zucken, und das Gewehr zittert in seiner Hand. »Sei ruich!«

Ich nutze diesen Moment der Ablenkung, ziehe die Pistole und feuere zwei Schüsse auf ihn. Kaufman krümmt sich, einen blutroten Fleck über der Hüfte. Sein Gewehr fällt krachend zu Boden, er sinkt auf ein Knie. Ich schiebe gerade meine .38er zurück ins Holster, als er völlig unerwartet einen Satz auf mich zu macht und mir seine Schulter in den Bauch rammt. Ich stolpere rückwärts und wäre um ein Haar gefallen, während er mit erstaunlicher Geschwindigkeit sein Gewehr greift und auf mich richtet. Doch ich bin schneller, packe den Lauf mit beiden Händen und ramme ihm den Kolben in die Schulter. Er ist nicht viel größer als ich, aber trotz seines Alters und mindestens einer Schusswunde ist er stärker. Ich zerre am Lauf, versuche ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen, er stolpert vorwärts, fällt aber nicht. Ich drehe das Gewehr nach rechts, will es ihm entwinden, er hält mit einer Linksdrehung dagegen, und der Lauf rutscht mir aus den Händen. Er schwingt die Waffe nach mir, den Finger am Abzug.

In dem Moment schreit Abigail etwas, aber ich kann sie nicht verstehen. Ein Rasseln über mir im Dachsparren, ich blicke nach oben und sehe den Flaschenzug mit dem Heuballen wanken.

Auch Kaufman blickt hoch, und dann fällt die ganze Heuladung auf uns nieder, ich will aus dem Weg springen, bin aber zu langsam.

Das Heu knallt wie ein gewaltiger Rammklotz auf uns, erwischt mich im Gesicht und auf der Brust und fegt mich um. Meine Füße fliegen in die Luft, dann falle ich rückwärts ins Nichts.