3. Kapitel
Als Tomasetti und ich Richtung Osten zur Maple-Crest-Siedlung fahren, fehlt mir mein Polizeifunk. Aus dem granitgrauen Himmel fällt schmuddeliger Nieselregen, der die Bäume und Felder in eine dunkle impressionistische Landschaft verwandelt. Der Tornado ist nordöstlich Richtung Geauga County weitergezogen, wo gerade neue Tornadowarnungen ausgegeben wurden.
Ich verfolge das Wetterradar auf Tomasettis Smartphone, wo der Sturmverlauf zeigt, dass der Tornado eine Schneise von Südwest nach Nordost geschlagen hat, also durch eine überwiegend ländliche Gegend, aber natürlich gibt es auch dort vereinzelte Farmhäuser und Scheunen. Auf dem Weg nach Painters Mill hatte er einen Schlenker nach Norden gemacht, die halbe Wohnwagensiedlung verwüstet, war dann kurz vom Boden abgehoben und ein zweites Mal in Maple Crest runtergekommen. Die Häuser dort sind stabiler gebaut – Backstein und Stuck –, und obwohl er sicher genug Schaden angerichtet hat, glaube ich nicht, dass es dort so schlimm aussieht wie in Willow Bend.
Wir sind gerade in die Dogleg Road eingebogen, als uns ein Fußgänger auf dem Seitenstreifen entgegenkommt.
»Was zum Teufel …?« Tomasetti fährt rechts ran und hält.
Die Hose des Mannes und das Hemd, an dem ein Ärmel an der Schulter abgerissen ist, sind pitschnass und verdreckt. Als er näher kommt, sehe ich, dass an beiden Seiten Hosenträger herunterhängen. Kein Hut. Keine Jacke. Am linken Fuß ein Stiefel, der rechte Fuß ist nackt. Dass er amisch ist, erkenne ich an seinem langen Bart. Ich bin sicher, dass er den Wagen sieht, doch er geht einfach weiter, nimmt keine Notiz von uns. Als wären wir für ihn gar nicht da.
»Sieht aus, als stehe er unter Schock«, sagt Tomasetti.
»Ich muss mich vergewissern, dass mit ihm alles in Ordnung ist.« Ich öffne die Tür und springe hinaus, noch bevor der Wagen richtig steht. Weicher, kalter Nieselregen benetzt mein Gesicht. Hinter einem halb umgefallenen Zaun ist ein Teich, in dem Enten quaken und der Sprühregen sanft auf die Wasseroberfläche plätschert.
Ich lasse den Mann vor mir nicht aus den Augen. Tomasettis Autotür schlägt zu, er ist also auch ausgestiegen.
»Sir?«, rufe ich. »Ich bin Polizistin. Sind Sie okay?«
Der Mann bleibt stehen und sieht mich an, als würde er mich gerade erst bemerken. Sein Gesicht ist schlammverschmiert. Der fehlende Hemdsärmel offenbart einen bleichen, verdreckten Arm. Das Hemd ist zerrissen und klebt nass und schmutzig an seinem Körper. Er zittert wie Espenlaub, in seinem Bart hängen Erdklumpen, Pflanzen und Gras.
Er blickt mich aus wirren Augen an. »Ich sayya Gott«, flüstert er. Ich habe Gott gesehen.
»Sind Sie verletzt?« Einen Meter vor ihm bleibe ich stehen. »Brauchen Sie Hilfe?«
Er schüttelt den Kopf. »Ich bin zimmlich gut.« Mir geht es ganz gut.
»Wie heißen Sie?«, frage ich.
»Samuel Miller.«
Tomasetti stellt sich neben mich. »Was machen Sie hier ganz allein ohne Ihren Buggy?«
Er sieht Tomasetti an, dann zeigt er in die Richtung, aus der er kommt. »Ich habe Stroh auf Big Joe Beilers Farm gebracht, seine alte Mähre kriegt ein Fohlen.«
Ich blicke an ihm vorbei, doch sehe ich weder einen Wagen noch ein Pferd. »Wo ist Ihr Heuwagen?«
»Der Wind hat ihn gepackt und umgeworfen. Das Stroh liegt im Dreck.«
»War noch jemand bei Ihnen?«, frage ich.
»Nur ich allein.«
»Was ist mit Ihrem Pferd?«
»Sellah gaul is goot.« Dem Pferd geht’s gut. »Erschrocken. Sie ist heimgerannt, macht sie immer, und ich muss laufen.« Er grinst. »Genau wie eine Frau.«
»Sie sollten sich im Krankenhaus untersuchen lassen, Mr Miller«, sage ich. »Vielleicht hat der Wagen Sie am Kopf getroffen, als er umfiel. Ich kann Sie gern hinfahren.«
Der amische Mann denkt kurz darüber nach. »Mein Kopf ist in Ordnung. Aber ich würde gern sehen, ob es meiner Familie gutgeht.«
Ich lenke ihn am Arm sanft zum Tahoe, wobei ich auf Hinweise von Verletzungen oder Verwirrung achte. »Wo ist Ihre Farm, Mr Miller?«
»Etwa eine Meile die Straße runter.«
»Der schlimmste Teil des Sturms ist an Ihrer Farm vorbeigezogen«, sage ich. »Ihrer Familie geht es bestimmt gut.«
»War wohl heute nicht mein Tag, in den Himmel zu kommen«, sagt er.
Unter normalen Umständen würde ich darauf bestehen, dass er sich in der Notaufnahme checken lässt, auch gegen seinen Willen. Aber heute hat das Krankenhaus in Pomerene genug mit vielen anderen Verletzten zu tun, und so füge ich mich seinem Wunsch, und wir bringen ihn nach Hause.
Um vier Uhr dreißig fahren Tomasetti und ich schließlich in die Einfahrt meines alten Hauses in Painters Mill. Wir haben zwölf Stunden lang Notrufe entgegengenommen, bei der Versorgung von Verletzten geholfen, vermisste Personen gesucht, Schäden begutachtet, herunterhängende Stromleitungen sowie Gaslecks an die zuständigen Stellen gemeldet. Die letzten vier Stunden haben wir den Feuerwehrleuten in der Willow-Bend-Wohnwagensiedlung bei der Versorgung der Verletzten geholfen. Nach und nach treffen jetzt Meldungen von den Notaufnahmen des Pomerene Hospitals sowie des Wooster Community Hospitals ein. Bis jetzt gibt es insgesamt sechsundzwanzig Verletzte, achtzehn von ihnen wurden mit schweren oder lebensbedrohlichen Wunden stationär aufgenommen. Zwei Tote sind zu beklagen: Der zweiundsechzig Jahre alte Earl Harbinger wurde mit seinem Auto durch die Luft gewirbelt und starb noch am Unfallort; die siebenunddreißig Jahre alte Juanita Davis, Mutter von zwei Kindern, wurde in ihrem Wohnmobil in Willow Bend tot aufgefunden. Jede Hilfe kam zu spät. Alle anfangs Vermissten sind wieder aufgetaucht, bis auf den zwölfjährigen Billy Ray Benson, der von einer Sturzflut mitgerissen, in ein Ablaufrohr gesogen und in den Painters Creek gespült worden war. Über dreißig freiwillige Helfer – deren eigene Häuser teilweise beschädigt oder zerstört wurden – haben sich dem Such- und Rettungsdienst von Holmes County angeschlossen. Wegen des unwegsamen Geländes, der Überflutungen und Dunkelheit wurde die Suche nach dem Jungen vom Rettungsdienst abgebrochen, doch morgen bei Sonnenaufgang geht es weiter. Ich wage es nicht, mir vorzustellen, wie die Eltern des Jungen die heutige Nacht überstehen werden.
Die Sachschäden sind beträchtlich, doch in Anbetracht der Toten und Schwerverletzten kann man sie leichter nüchterner betrachten. Häuser und Geschäfte wird man wieder aufbauen, doch ein verlorenes Leben ist für immer verloren. Der Osten von Painters Mill – hauptsächlich die Willow Bend-Wohnwagensiedlung – wurde vollständig verwüstet. In Maple Crest wurden neun Häuser beschädigt. Zwei wurden komplett niedergewalzt, sie sind nur noch Schutt und Staub: ein Scherbenhaufen des Lebens.
Tomasetti und ich sind über die Maßen erschöpft. Da uns in wenigen Stunden ein weiterer strapaziöser Tag bevorsteht, haben wir beschlossen, hier in der Stadt zu bleiben, zu duschen und ein paar Stunden zu schlafen.
Ich schließe die Eingangstür auf und trete in ein kaltes, stilles Wohnzimmer, in dem der Geruch eines Hauses hängt, das schon länger nicht mehr bewohnt wird. Seit ein paar Wochen steht es zum Verkauf. Mehrere Leute haben es bislang besichtigt, aber ein Kaufangebot gibt es noch nicht. Es ist natürlich nichts zu essen da, und in den sieben Monaten, die ich jetzt mit Tomasetti draußen auf der Farm lebe, habe ich den Großteil meiner persönlichen Habe und einige Möbel zu ihm gebracht. Aber mein Bett ist noch hier, und Bettwäsche liegt im Flurschrank. Da ich den Strom nicht abgemeldet habe, haben wir Licht und warmes Wasser zum Duschen.
»Kate.«
Ich bleibe in der Tür zwischen Wohnzimmer und Küche stehen, drehe mich zu Tomasetti um und sehe, dass ich eine Dreckspur quer durchs Wohnzimmer hinterlassen habe.
»Schuhe.« Als er auf meine Füße zeigt, bemerke ich, dass er seine Schuhe vor der Tür ausgezogen hat.
»Oh.« Ich versuche zu lachen, aber es klingt gequält, denn Schmutz und Teppich sind mir momentan ziemlich egal.
Trotzdem gehe ich zurück zur Tür, verliere dabei weitere Erdklumpen, knie nieder und ziehe einen Stiefel aus. »Ich hab das Gefühl, ich müsste da draußen weiter helfen.« Mit einem Schuh noch am Fuß, zucke ich mit den Schultern. »Irgendetwas tun.«
»Ich weiß«, sagt er.
»Es gibt Menschen da draußen, die haben kein Dach mehr über dem Kopf, keine trockene Kleidung und nichts zu essen oder zu trinken.«
Er sieht mich stirnrunzelnd an. »Keinem ist damit geholfen, wenn du überhaupt nicht schläfst.«
Ich streife den zweiten Stiefel ab. »Weißt du was, Tomasetti, ich kann es wirklich nicht leiden, wenn du logischer bist als ich.«
»Dann verklag mich.« Er schenkt mir ein Lächeln und geht in die Küche.
Während ich die nassen, verdreckten Socken ausziehe, muss ich an das Baby denken, das wir am Nachmittag aus dem umgekippten Mobilheim gerettet haben. In den letzten Stunden habe ich andauernd an es denken müssen, doch keine Zeit gehabt, mich nach seinem Zustand zu erkundigen.
Als ich höre, wie Tomasetti in der Küche das Wasser laufen lässt, Schranktüren öffnet und wieder schließt, ziehe ich mein Handy aus der Tasche und tippe die Nummer vom Pomerene Hospital ein. Ich lande in mehreren Warteschleifen, bis ich schließlich zur Notaufnahme durchgestellt werde. Normalerweise gibt das Krankenhauspersonal Leuten, die nicht zur Familie gehören, keine Auskunft, doch die Umstände sind alles andere als normal. Ich hoffe, irgendjemand wird mit mir reden, zumindest über die allgemeine Situation.
»Hi, Chief Burkholder. Hier ist Cat Morrow, wie kann ich Ihnen helfen?«
Ich bin Cat über die Jahre mehrere Male begegnet und kann nicht sagen, dass ich sie kenne, aber wir haben ein paarmal miteinander gesprochen. »Am Nachmittag wurden ein Baby und seine Mutter eingeliefert. Das kleine Mädchen heißt Lucy, Nachname Kester. Ich würde gern wissen, wie es den beiden geht.«
»Sie können sich bestimmt denken, dass es hier schon den ganzen Tag wie im Tollhaus zugeht, aber ich sehe mal nach.« Am anderen Ende höre ich Computertasten klicken. »Also: Paula Kester und ihr Kind, Lucy Kester. Der Mutter scheint es gutzugehen, sie wird am Morgen entlassen.« Wieder Klicken von PC-Tasten. »Und Lucy Kester, vier Monate altes Mädchen.« Sie hält inne. »Hm, Chief, tut mir leid, aber das Baby ist vor zwei Stunden gestorben …«
Die Nachricht trifft mich wie ein Schlag in die Magengrube. Verschwommen nehme ich wahr, dass Cat weiterredet, irgendetwas über eine mögliche Rückenmarksverletzung, doch die entsetzlichen Worte hallen wie ein Echo in meinem Kopf wider.
Das Baby ist vor zwei Stunden gestorben.
»Chief Burkholder, sind Sie noch da?«
Ich halte das Telefon so fest umklammert, dass meine Hand zittert, und weiß nicht, was ich antworten soll. Bin ich schuldig, weil ich sie nicht retten konnte? Wütend, weil das verdammte Schicksal ein unschuldiges Kind hat sterben lassen? Fix und fertig, weil ich zu müde zu irgendeiner Reaktion bin?
»Danke für die Informationen, Cat. Ihr leistet wirklich hervorragende Arbeit.«
Ich lege auf, bevor sie etwas erwidern kann, sitze einfach nur da und starre das Telefon an. Mein Puls rast. »Gottverdammt«, flüstere ich. »Gottverdammt.«
Bis zu diesem Moment habe ich die ganze Zeit unter Strom gestanden und getan, was zu tun war, ohne groß darüber nachzudenken. Doch jetzt stürmt plötzlich alles, was ich in den letzten Stunden gesehen habe – die schlimmen Verletzungen, die furchtbare Zerstörung, dieser sinnlose Sturm, der im Leben vieler Menschen so verheerend gewütet hat – auf mich ein, und wie so oft macht mich die Ungerechtigkeit fassungslos.
Ich stehe abrupt auf, gehe jedoch nicht in die Küche. Tomasetti soll mich nicht in diesem Zustand sehen. Ich will nicht mit ihm darüber reden oder ihm sagen, wie sehr mich der Tod des Babys erschüttert. Immerhin bin ich Polizistin. Ob ich es will oder nicht, das gehört zu meinem Job, und wenn ich weiterhin bei der Polizei arbeiten will, muss ich lernen, besser damit umzugehen. Härter werden. Mich emotional abgrenzen.
Ich bin gerade auf dem Weg ins Bad, wo ich duschen will und dann ein paar Stunden schlafen, als hinter mir Tomasettis Stimme ertönt. »Wo sind denn die Gläser?«
Ich bleibe stehen, atme tief durch, um mich zu beruhigen, und drehe mich zu ihm um. »Zweites Regal im Schrank neben der Spüle.«
Er nickt, bleibt aber stehen und geht nicht wieder zurück in die Küche. In der rechten Hand hat er die Flasche Bourbon, die ich über dem Kühlschrank aufbewahre, über der Schulter ein Geschirrtuch, und er starrt mich an, als hätte er plötzlich entdeckt, dass ich blute.
»Was ist los?«, fragt er.
Nicht zum ersten Mal wird mir klar, wie ähnlich wir uns sind und dass er kein Mann ist, den ich ignorieren, anlügen oder täuschen kann. »Ich hab gerade mit dem Krankenhaus gesprochen«, höre ich mich sagen. »Um mich nach dem Baby aus dem Mobilheim zu erkundigen. Tomasetti, es ist gestorben.«
Betroffen blickt er weg und reibt sich mit der freien Hand über das stoppelige Kinn. »Verdammt, ich hasse es, wenn es die Kleinsten trifft.«
Ich will mich umdrehen und weitergehen, doch er kommt zu mir und legt mir die Hand auf den Arm. »Kate, du weißt doch, dass es nicht deine Schuld ist, ja?«
Die Worte der Krankenschwester martern mein Hirn. Möglicherweise eine Rückenmarksverletzung. »Sie war erst vier Monate alt. Winzig klein. Warum sie? Das ist doch einfach nur ungerecht.«
»Ich weiß.« Er zeigt zur Küche. »Komm, setz dich einen Moment zu mir.«
Ich schaffe ein Lächeln. »Ich bin gerade nicht sehr unterhaltsam.«
Sein Blick wird sanft. »Damit komme ich schon klar.«
Ich folge ihm in die Küche, wo wir uns einander gegenüber an den Tisch setzen. Er schenkt zwei Fingerbreit Bourbon in die etwas staubigen Gläser. »Ich hasse Bourbon«, sage ich.
»Ich weiß, aber in der Not …« Er schiebt mir das Glas hin.
Ich nehme es und trinke zwei große Schlucke. Der Alkohol brennt in meiner Kehle, und der Geschmack lässt mich erschauern. Ich stelle das Glas auf den Tisch, drehe es im Kreis und starre die gelbe Flüssigkeit an. »In all den Jahren, die du schon bei der Polizei bist, hast du da jemals daran gezweifelt, ob du für den Job geeignet bist?«
»Nein«, sagt er. »Aber nur, weil ich zu alt und festgefahren bin, um was Neues anzufangen.«
»Kannst du bitte aufhören, Witze zu machen? Ich würde gern in aller Ruhe ein paar Minuten lang in Selbstmitleid baden.«
Er nimmt sein Glas, trinkt einen Schluck, beobachtet mich über den Rand hinweg. »Hast du Zweifel daran?«
»Ja«, sage ich übertrieben dramatisch. »Ich meine, Polizistin zu sein ist alles, was ich habe, meine Identität. Meistens gefällt es mir ja auch.« Ich schüttele den Kopf. »Aber wenn so etwas wie jetzt passiert, frage ich mich, ob es nicht andere Jobs gibt, die weniger weh tun.«
Er blickt in sein Glas, schwenkt den Inhalt. »Vielleicht ist es dir nicht klar, Kate, aber die Polizisten, denen nicht alles egal ist, haben es am schwersten. Diejenigen, die etwas dabei fühlen. Die manchmal auch zu viel fühlen und nichts dagegen tun können. Ich weiß nicht, ob dir das bewusst ist, aber du fällst in diese Kategorie. Du hast eine angeborene Unfähigkeit, dich emotional zu distanzieren. Vielleicht berühren dich die Dinge ein bisschen zu sehr.« Er sucht meinen Blick. »Und falls du dich fragst: Das ist keine Kritik, sondern eine Beobachtung.«
»Ich bin froh, dass du das klargestellt hast«, sage ich trocken.
»Sieh mal, es ist schwer, sich emotional rauszuhalten. Andernfalls wären wir keine Menschen. Manche Fälle gehen einem unter die Haut, man wird stinksauer oder es zerreißt einem das Herz. Irgendwann passiert das jedem von uns, und es bedeutet nicht, dass man kein guter Polizist ist.« Er legt den Kopf schief, sieht mir in die Augen. »Aber es ist ein hartes Stück Arbeit, Kate. Du bist Polizeichefin in einer Kleinstadt, du hast hier Familie und Freunde. Die Menschen hier sind dir wichtig. Das ist ziemlich viel Verantwortung, die du nicht auf die leichte Schulter nimmst. Das ist gut für die Stadt, aber es ist auch eine enorme Last für dich selbst.«
Ich sage nichts dazu, und jetzt scheint selbst das Haus die Luft anzuhalten, wie in Erwartung der nächsten Worte, die die weitere Richtung dieser Unterhaltung vorgeben werden. Ich will auf keinen Fall weinen. Diese beschämende Erfahrung brauche ich wirklich nicht, schon gar nicht in Gegenwart eines Mannes wie Tomasetti, den ich respektiere und bewundere. Doch ich spüre, wie die Erschöpfung mir immer mehr die Kontrolle über meine Schutzmechanismen raubt, die ich bei großem Kummer normalerweise schon aus Verzweiflung aufrechterhalten kann, weil da etwas in mir drin ist, das er nicht sehen darf.
»Sie hatte blaue Augen«, flüstere ich. »Sie hat mich angesehen, dieser ganz neue Mensch. Es ist, als ob … ich weiß nicht … als ob sie wusste, dass es schlimm um sie steht. Und sie hat sich mir anvertraut und sich darauf verlassen, dass ich ihr helfe.«
»Du hast alles getan, was du konntest, mehr kann keiner tun. Und wenn es trotzdem nicht reicht, muss man die Scherben auflesen und weitermachen.«
»Gut gesagt, Tomasetti, aber manchmal zieht einem das Leben den Boden unter den Füßen weg, und dann?«
Er sieht mich eindringlich an. Tränen laufen mir über die Wangen, heiß und ungebeten. Ich weiß, dass ich überreagiere und mich lächerlich mache. Ich bin erschöpft und emotional an meinen Grenzen. Es wäre klüger gewesen, wenn ich auf den Bourbon und die Unterhaltung verzichtet, mich geduscht und ins Bett gelegt hätte.
Beschämt stehe ich auf, um zu gehen, doch Tomasetti hält mich am Arm fest. »Worüber reden wir hier eigentlich, Kate?«
So etwas wie Panik steigt in mir auf, und einen Moment lang überlege ich tatsächlich, das zur Sprache zu bringen, was mich seit einer Woche umtreibt. Aber dazu bin ich jetzt wirklich nicht in der Verfassung. Nicht heute Nacht.
Ich sehe hinab auf seine Finger, die mein Handgelenk umfassen, und trete einen Schritt zurück. »Ich geh jetzt mal duschen und dann schlafen.«
Er lässt mein Handgelenk los, doch sein Blick hält mich weiter fest. »Du weißt, dass du über alles mit mir reden kannst.«
»Ich weiß.« Ich schenke ihm ein schwaches Lächeln. »Danke, dass du mich vom Abgrund weggezogen hast, Tomasetti.«
»Jederzeit«, sagt er.
Doch als ich gehe, spüre ich immer noch seinen Blick auf mir.