5. Kapitel

Eine Stunde später blicken Dr. Ludwig Coblentz und ich an der Stelle, wo einmal die Scheune gestanden hat, auf den Schädel eines Menschen hinab. Unter normalen Umständen wären bei einem solchen Fund jede Menge Mitarbeiter verschiedener Dienststellen hier. Doch heute sind sie fast alle mit den Folgen des Tornados beschäftigt, und viele haben die ganze Nacht durchgearbeitet. Vorhin hatte Glock noch geholfen, den Fundort abzusperren, aber dann kam die Meldung, dass gerade eine vom Sturm beschädigte Tankstelle geplündert worden war, und er ist auf schnellstem Wege hingefahren. Solange ich nicht ausschließen kann, dass hier ein Verbrechen geschehen ist, muss ich diese Farm wie einen Tatort behandeln.

Mr Hutchinson ist zurück zu seinen Pfadfindern gegangen, die Burger und Pommes aus dem McDonald’s in Millersburg mampfen. Sie sitzen auf den gefällten Baumstämmen, die jetzt so nebeneinander aufgereiht sind, dass sie den Coroner und mich genau im Blick haben.

»Das finden sie bestimmt spannender als den LEGO-Film«, bemerkt der Doc und streift Schutzhüllen über seine Schuhe.

»Ist jedenfalls aufregender, als Müll wegzuräumen.« Nachdem auch ich die Hüllen über meine Schuhe gezogen habe, betreten wir gemeinsam den Fundort.

Doc Coblentz geht neben dem Schädel in die Hocke. »Definitiv von einem Menschen.«

Ich zeige auf den langen Knochen. »Und der? Ist der von demselben Skelett?«

»Es ist zumindest ein menschlicher Oberschenkelknochen.« Er dreht sich leicht und zeigt auf die Wirbelknochen in der Nähe. »Und die da sind auch von einem Menschen.«

»Irgendeine Vermutung, wie lange sie schon hier liegen?«, frage ich.

Ächzend erhebt er sich, geht zu seinem schwarzen Ausrüstungskoffer, den er am anderen Ende des Fundaments abgestellt hat, nimmt zwei Paar blaue Latexhandschuhe heraus und reicht mir eins. »Sie wissen ja, dass Sie einen forensischen Anthropologen herbestellen müssen, der sich um die Knochen hier kümmert.«

»Tomasetti hat jemanden empfohlen, der schon öfter fürs BCI gearbeitet hat.« Ich sehe auf meine Uhr. »Er müsste jeden Moment hier sein.« Ich ziehe die Handschuhe an. »Können Sie mir nicht schon mal eine grobe Einschätzung geben?«

»Okay, sehen wir uns mal die Knochen genauer an.« Er kniet neben dem Schädel und nimmt ihn in die Hand. »Es gibt keine Spuren von Weichgewebe, sogar die Haare sind weg. Ob der Zahn der Zeit, die Elemente oder Aasfresser der Grund dafür sind, lässt sich so nicht sagen. Aber davon mal abgesehen, vermute ich wegen des Zustands der Knochen und unserem Klima hier im Nordosten Ohios, dass sie mindestens seit einem Jahrzehnt hier liegen.« Er zuckt die Schultern. »Und wohl höchstens dreißig Jahre, weil sie je nach pH-Wert des Bodens irgendwann verrotten oder sogar versteinern.«

»Ziemlich großer Zeitraum.«

»Sie haben gefragt.« Er runzelt die Stirn, doch sein Blick ist amüsiert. »Genauer kann ich es wirklich nicht eingrenzen.«

»Können Sie sagen, ob es sich um eine Frau oder einen Mann handelt?«

»Ich sehe hier zwar nirgendwo ein Becken, aber …« Er legt den Kopf in den Nacken, hebt den Schädel ein Stück höher, wischt einen Erdklumpen ab und studiert ihn durch den Nahbereich der Brille. »Das ist jetzt alles andere als sicher, Chief, aber selbst mit meinen ungeschulten Augen kann ich einen ausgeprägten Augenbrauenbogen erkennen.« Er fährt mit dem Finger über eine Stelle oberhalb der Augenhöhle, wo die Braue wohl wäre. »Sicher bin ich mir nicht, aber vermutlich ist das der Schädel eines Mannes.«

»Alter?«

Er schüttelt den Kopf. »Keinen Schimmer.«

In der Umgebung ist die Erde glatt und hart, zwischen kleineren Steinen und Trümmern liegen verstreut ein paar Knochen, teilweise halb verdeckt. »Für ein vollständiges Skelett scheinen es zu wenig Knochen zu sein«, sage ich.

»Das sehe ich auch so.«

»Sie könnten vergraben sein.«

»Vielleicht.« Er legt den Schädel zurück auf den Boden und blickt sich um. »Wenn Tiere Zugang zu diesem Bereich hatten, könnten sie die Knochen im Laufe der Jahre woanders hingeschleppt oder sogar gefressen haben.«

Ich zeige auf die kleinen schwarzen Fetzen, die wie Plastik aussehen. »Ist das Plastik? Oder Stoff? Vielleicht ein Stück Kleidung?«

Er tritt zu einem der größeren Fetzen, bückt sich und nimmt ihn genauer in Augenschein. »Irgendein nicht poröses Material, aber ziemlich verrottet.«

Ich gehe neben ihm in die Hocke. »Doc, das ist ziemlich sicher von einem schwarzen Müllsack.«

Er blickt mich vielsagend an. »Kein gutes Zeichen in Bezug auf die Todesursache dieses Menschen.«

Beunruhigende Fragen gehen mir durch den Kopf. Ist dieser Mensch hingefallen und gestorben? Ist er unter der alten Scheune umhergekrochen und stecken geblieben? Hat er da unten gearbeitet und einen Herzinfarkt erlitten? Oder wurde er umgebracht, in einen Müllsack gesteckt und hier abgeladen?

Dass es nur wenige Knochen gibt, lässt mich Schlimmes vermuten. »Wenn diese Fetzen hier wirklich von einem Müllsack stammen, dann dürften wir es hier mit einem Verbrechen zu tun haben.«

»Knochen erzählen immer eine Geschichte«, bemerkt Doc Coblentz.

»Der Besitzer von diesen hier kann vermutlich über kein gutes Ende erzählen.«

* * *

Es dauert fast drei Stunden, bis der forensische Anthropologe schließlich eintrifft, doch ich nutze die Zeit, um den Fundort zu dokumentieren und ein Dutzend Fotos zu machen, einschließlich Nahaufnahmen der Knochen und Plastikfetzen und des Bodens drum herum. Zudem habe ich mich in der näheren Umgebung umgesehen, in der Hoffnung, so etwas wie eine Erklärung für den Knochenfund oder zumindest um weitere Knochen zu finden, die von Tieren weggeschleppt wurden. Ich trinke gerade das Wasser, das einer der Pfadfinder mir gebracht hat, als Tomasettis Tahoe, ein Streifenwagen vom Holmes County Sheriffbüro und ein silberner Toyota Prius eintreffen und im kniehohen Unkraut parken, klugerweise in sicherer Entfernung vom Fundort.

Doc Coblentz sitzt in seinem Escalade und telefoniert. Ein Deputy vom Holmes County Sheriffbüro und ich stehen bei meinem Explorer, tauschen Theorien aus und holen uns einen Sonnenbrand. Zwei mir unbekannte Männer steigen aus dem Prius, und Sheriff Mike Rasmussen ist der Fahrer des Streifenwagens. Alle vier Männer kommen auf uns zu.

»Hier sollen Knochen gefunden worden sein«, sagt der Sheriff.

Wir begrüßen uns mit Handschlag. »Zwei Pfadfinder haben beim Aufräumen einen Schädel gefunden.«

»Hoffentlich hat sie das nicht traumatisiert.«

»Eher fasziniert, scheint mir.«

»Leichen geben immer gute Geistergeschichten ab.«

Jetzt tritt auch Tomasetti zu uns, mustert mich etwas zu genau. »Chief.«

Ich komme mir komisch vor, ihm die Hand zu schütteln, immerhin teilen wir uns nachts das Bett. Außerdem weiß Rasmussen bestimmt, dass wir zusammenleben. Aber um der professionellen Etikette Genüge zu tun, begrüßen wir uns förmlich. »Hi, John.«

Er wendet sich an den etwa vierzig Jahre alten Mann neben ihm. »Darf ich vorstellen, Lyle Stevitch, forensischer Anthropologe von Lucas County. Ich hab von ihm erzählt.«

Stevitch hält mir die Hand hin. »Glauben Sie kein Wort, was er über mich gesagt hat«, bemerkt er.

Mit der Nickelbrille und dem akkurat gestutzten Spitzbart sieht er aus wie ein typischer Intellektueller und hat eher etwas von einem Collegeprofessor als einem forensischen Anthropologen. Doch sein Blick ist bereits an mir vorbei zu dem abgesperrten Bereich gewandert, was mir klarmacht, dass er so schnell wie möglich anfangen will.

»Danke, dass Sie gekommen sind«, sage ich.

Er stellt den jungen Mann neben sich vor. »Das ist Tyler Hochheim. Er studiert an der Mercyhurst University in Erie und absolviert sein Sommerpraktikum bei mir.«

Hochheim hat eine Kappe auf, unter der im Nacken ein schulterlanger Pferdeschwanz heraushängt, und gleicht mehr einem Mitglied von Occupy Wall Street als dem Assistenten eines berühmten forensischen Anthropologen. In der einen Hand hält er eine große Leinentasche, in der anderen eine Werkzeugkiste.

Doc Coblentz kommt zu uns. Nachdem sich alle vorgestellt haben, gehen wir zum Fundort, wo Coblentz kurz die Situation darlegt. »Es sind zu wenige Knochen für ein vollständiges Skelett, vermutlich wurden einige über die Zeit von Aasfressern weggetragen.«

»Oder sie sind vergraben«, füge ich hinzu.

Ich weiß, dass Rasmussen und Tomasetti das Gleiche denken wie ich. Oder die Leiche wurde irgendwo anders zerstückelt und die einzelnen Teile an verschiedenen Orten entsorgt …

Die Hände in den Hüften, lässt Stevitch den Blick über den Fundort schweifen und nickt. »Wir markieren Rasterfelder und sammeln alles, was auf der Oberfläche liegt. Wenn alles eingetütet, gekennzeichnet und fotografiert ist, fangen wir mit dem Umgraben an.« Er wendet sich an Tyler. »Wir brauchen Bodenproben, und es muss alles gründlich mit dem Metalldetektor abgesucht werden.«

»Okay.« Sein Assistent verlässt den abgesperrten Bereich, stellt die Werkzeugtasche ab, nimmt Ganzkörperschutzanzüge mit vorderem Reißverschluss heraus und reicht Stevitch einen. Als Nächstes legt er ein frisches blaues Laken auf den Boden und breitet sein Arbeitswerkzeug darauf aus: einen kleinen Klappspaten, verschiedene feine und grobe Pinsel, ein weiteres Werkzeug, das aussieht wie eine rostfreie Kelle, mehrere unterschiedlich große Spitzhacken und Meißel und etwa ein Dutzend verschließbare Plastikschüsseln. Zum Schluss bindet er sich eine Art Werkzeuggürtel um, geht zurück zu seiner Leinentasche und nimmt mehrere Plastikpflöcke heraus, einen Hammer und eine Rolle Schnur. Dann fängt er an, den Arbeitsbereich abzustecken.

Das Ganze kommt mir merkwürdig unwissenschaftlich vor angesichts der Tatsache, dass es sich um die Freilegung menschlicher Überreste handelt. Aber Tomasetti hatte mir versichert, dass Stevitch eine Kapazität auf seinem Gebiet ist, und die eigentliche Arbeit wird sowieso erst im Labor stattfinden.

Ich möchte natürlich so schnell wie möglich wissen, um wen es sich bei dem Toten handelt, doch es wird ein mühsames Unterfangen sein und könnte Wochen, wenn nicht gar Monate dauern. Andererseits ist Painters Mill nicht gerade eine Großstadt. Wenn ich die Vermisstenanzeigen durchsehe, könnten durchaus mehrere Personen darunter sein, die in Frage kommen, besonders wenn ich sie anhand von Geschlecht und des Zeitpunkts ihres Verschwindens eingrenzen kann. Was natürlich nur zutrifft, wenn der Tote nicht aus einer ganz anderen Gegend kommt und hier nur abgeladen wurde …

Ich wende mich an Doktor Stevitch. »Doc Coblentz meint, die Knochen stammen von einem Mann und könnten seit einem Jahrzehnt oder länger hier liegen. Stimmen Sie dem zu?«

Stevitch bückt sich, nimmt den Schädel und wiegt ihn in den Händen. »Der ausgeprägte Augenbrauenbogen ist zwar kein sicherer Beweis, aber in diesem frühen Stadium und ohne die Hüftknochen gesehen zu haben, kann ich mit relativer Gewissheit sagen, dass es sich um einen Mann handelt.« Er nickt Doc Coblentz zu. »Was das Alter der Knochen betrifft …« Er zuckt die Schultern. »Zehn Jahre ist eine solide Schätzung. Aber so lange ich sie nicht gesäubert und unter gutem Licht betrachtet habe, kann ich den Zeitraum leider auch nicht näher bestimmen.«

Ich sehe Tomasetti an. »Wie geht es jetzt weiter, um Todesart und Todesursache festzustellen?«

»Wenn der forensische Anthropologe mit seiner Arbeit fertig ist«, erklärt er, »wird alles ins örtliche Leichenschauhaus geschickt, wo der Coroner und ein Experte in forensischer Knochenkunde alles genau unter die Lupe nehmen. Wir haben einen Knochenkundler aus Lucas County in unserer Kartei, den wir in solchen Fällen anfordern.«

»John Harris«, wirft Doc Coblentz ein. »Ich kenne ihn. John und ich haben zusammen Medizin studiert. Er ist gut, einer der Besten.«

Tomasetti nickt. »Danach wird alles nach Fort Worth ins Medizinische Wissenschaftszentrum der University of North Texas geschickt, wo man versucht, mitochondriale DNA zu extrahieren.«

Mein Optimismus schwindet zusehends, je klarer mir wird, dass eine definitive Identifikation tatsächlich einige Zeit braucht. Ich wende mich an Dr. Stevitch. »Ist es trotzdem irgendwie möglich, das ungefähre Alter zum Todeszeitpunkt zu bestimmen?«

»Um es noch einmal zu betonen: Definitiv lässt sich im Moment gar nichts sagen, aber ich kann Ihnen einen ungefähren Rahmen geben.« Er fährt mit dem Finger von vorn bis hinten über die Oberseite des Schädels. »Sehen Sie die schnörkelige Linie, die über den ganzen Schädel verläuft?«

Ich trete näher heran. »Ja, die sehe ich.«

»Das ist die sagittale Schädelnaht.« Dann fährt er mit dem Finger über eine weitere, kaum sichtbare Erhöhung des Knochens, diesmal von links nach rechts. »Und das hier ist die coronale Schädelnaht. Keine der beiden ist verschmolzen, was bedeutet, dass es sich um eine relativ junge Person handeln muss.«

»Wie jung?«

»Reicht Ihnen eine Schätzung?«

»Wenn sie gut ist.« Ich sehe ihn lächelnd an.

»Ich würde sagen zwischen sechzehn und fünfunddreißig.« Er spreizt die Hände. »Dr. Harris wird Ihnen eine definitivere Antwort geben können.«

Ich zeige auf den Oberschenkelknochen. »Größe oder Gewicht?«

»Lässt sich so nicht sagen, Chief Burkholder.« Aber er grinst.

Stevitch macht sich wieder an die Arbeit, ich gehe ein Stück zur Seite und rufe Lois an.

»Hi, Chief.«

»Checken Sie alle unaufgeklärten Vermisstenanzeigen von Holmes County, die zehn Jahre oder älter sind und bis zu vierzig Jahre zurückreichen. Wir suchen eine männliche Person, sechzehn bis fünfunddreißig Jahre alt. Wenn nichts dabei herauskommt, dehnen Sie die Suche auf die Countys Coshocton und Wayne aus. Wenn das immer noch nichts bringt, versuchen Sie’s in Cuyahoga County.«

»Wird gemacht.«

Ich halte inne. »Alles okay bei Ihnen?«

»Die Telefone klingeln nonstop. Einige der Leute ohne Strom werden allmählich unruhig. Und manche haben von dem Knochenfund gehört und rufen an, um Näheres zu erfahren.«

»So was spricht sich schnell herum.«

»Na ja, Kids und Technologie, inzwischen weiß es die halbe Stadt.«

»Sagen Sie Bescheid, wenn bei der Suche was rauskommt.«

»Mach ich, Chief.«

Ich habe kaum aufgelegt, als das Knirschen von Autoreifen auf Schotter zu hören ist. Zuerst glaube ich, es ist Steve Ressler, der Herausgeber der Lokalzeitung, der einen Exklusivbericht über den Knochenfund haben will. Aber es ist nicht Resslers Ford Focus, sondern ein älterer Thunderbird mit breitbereiften Aluminiumfelgen, rostigem Lack und einer vom Hagel beschädigten Motorhaube. Ein strohblonder Mann mittleren Alters, in Jeans und schwarzem T-Shirt, steigt aus. Ohne einen Blick in meine Richtung zu werfen, geht er vorn um sein Auto herum, öffnet die Beifahrertür und beugt sich vor, um einer Frau beim Aussteigen zu helfen.

Mein Interesse steigt, als ich die Krücken sehe. Die Frau hat blonde Haare, die seit langem nicht mehr geschnitten wurden, trägt verblichene Jeans und eine rosa Bluse mit hochgerollten Ärmeln. Der Gips an ihrem rechten Bein reicht von kurz unterhalb ihres Knies bis zum Knöchel. Es ist die Frau aus der Willow-Bend-Wohnwagensiedlung, die mit dem offenen Bruch, die Tomasetti aus ihrem Mobilheim getragen hat. Deren Baby später gestorben ist …

Paula Kester.

Sie steht auf die Krücken gestützt neben dem Auto und starrt mich an. Lächelt nicht. Kein Wiedererkennen oder ein Anzeichen, dass sie sich an mich erinnert. Ich weiß nicht, warum sie hier ist. Um Tomasetti zu danken, dass er ihr das Leben gerettet hat? Uns für den Versuch zu danken, das Leben ihres Kindes zu retten? Oder ist sie hier, um uns Vorwürfe zu machen, weil ihr Baby gestorben ist? Ich weiß nur zu gut, dass man nach dem Verlust von etwas so Kostbarem immer einen Schuldigen sucht.

Auf dem Weg zu ihr durchforste ich mein Hirn nach tröstenden Worten, doch nichts scheint angemessen. Mehrere Dinge fallen mir gleichzeitig auf: Sie ist eine dünne Frau mit blasser Haut. Ihre Haare sind gefärbt, wie der braune Ansatz verrät. Der große Gips an ihrem Bein wirkt deplatziert, sie bewegt sich unbeholfen auf den Krücken, und wahrscheinlich hat sie Schmerzen. Und sie hat geweint.

»Mrs Kester?«, sage ich schon von weitem.

Sofort ist mir klar, dass wir kein Dankeschön erwarten können, ihr das Leben gerettet zu haben, und ich bereite mich innerlich auf ein unschönes Zusammentreffen vor.

Die Frau humpelt mir entgegen und bleibt einen halben Meter vor mir stehen, viel zu nah für mein Empfinden. Ich folge meinem Instinkt und trete einen Schritt zurück. Trauernde Menschen sind unberechenbar. Sie sieht mich an wie etwas, was sie von ihrer Schuhsohle gekratzt hat.

»Sie sind Burkholder?«, fragt sie.

Ich nicke. »Tut mir leid, dass Ihr Baby gestorben ist, Mrs Kester. Wie kann ich Ihnen helfen?«

Aus den Augenwinkeln sehe ich, dass Tomasetti auf uns zukommt. Der Mann, der sie hierhergebracht hat, lehnt wenige Meter entfernt am Kotflügel seines Autos, den Blick auf den Boden gesenkt.

»Sie können mir nicht helfen«, sagt Kester mit monotoner Stimme, die Augen ausdruckslos. »Ich wollte nur, dass Sie wissen … mein Baby ist tot. Wegen Ihnen.« Einen Ellbogen auf die Krücken gestützt, zeigt sie mit dem Finger auf mich. »Sie hatte eine Nackenverletzung, und Sie hätten sie nicht bewegen dürfen.«

Normalerweise kann ich bösartige Vorwürfe ziemlich gut abwehren, doch ihre Worte fühlen sich wie scharfe Messerspitzen in meiner Haut an. Der Tod des Kindes belastet mein Gewissen schwer. Immer wieder frage ich mich, was ich hätte anders machen können.

»Warum mussten Sie sie bewegen?« Tränen steigen ihr in die Augen, doch ich sehe mehr Wut als Trauer. »Warum haben Sie uns nicht einfach in Ruhe gelassen?«

Das Bedürfnis, mich zu verteidigen, ist groß. Aber Trauer ist ein heftiger Gemütszustand, und was immer ich jetzt sage, wird nicht helfen. Es wird weder ihren Schmerz lindern noch mir ein besseres Gefühl verschaffen. Und ganz bestimmt bringt es ihr Baby nicht zurück. Also stehe ich einfach nur da und schlucke ihren Vorwurf.

»Mrs Kester, es tut mir sehr leid –«

Ihre Hand schießt nach vorn, und sie versetzt mir einen so kräftigen Schlag auf die linke Wange, dass ich zur Seite stolpere, mich aber gleich wieder fange. Ich packe ihr Handgelenk, so wie ich es im Training gelernt habe.

»Sie haben sie umgebracht«, schreit sie. »Mörderin!«

Jetzt greift Tomasetti ein, schiebt sich zwischen uns und packt sie bei den Oberarmen, wobei ihre Krücken umfallen. »Mörderin!«, schreit sie. »Babykiller!«

»Beruhigen Sie sich«, sagt Tomasetti.

Sie strauchelt, aber er fängt sie schnell auf und lässt sie vorsichtig auf den Boden nieder, damit sie sich nicht verletzt. »Lassen Sie mich los!«

»Bleiben Sie liegen.« Er sieht mich an. »Bist du okay?«

»Alles gut«, sage ich.

Rasmussen eilt herbei. »Das hab ich wirklich nicht kommen sehen. Sind Sie okay?«

»Ja.« Aber mit dem Kloß im Hals kann ich kaum sprechen. Ich schäme mich, weil ich nicht aufgepasst und mir eine Ohrfeige eingefangen habe. Doch emotional trifft mich die Anschuldigung der Frau viel schlimmer.

»Babykiller!«

Der Deputy kommt mit Handschellen angelaufen und kniet neben der Frau. Sie schreit und weint, als er und Tomasetti sie auf den Bauch drehen.

»Denkt an ihr Bein«, sage ich.

»Halten Sie den Mund!«, schreit sie. »Das ist alles Ihre Schuld. Ihre!«

»Klar«, knurrt Tomasetti in meine Richtung, während sie der Frau zu zweit die Arme auf den Rücken drücken und ihr Handschellen anlegen.

Es ist eine unschöne Szene, allein das Zusehen schmerzt. Und trotz ihres Benehmens will ich wirklich nicht, dass sie das jetzt durchmachen muss. Paula Kester ist verzweifelt, sie hat jede Selbstkontrolle verloren und ist hilflos wegen ihres gebrochenen Beins. Aber in Gegenwart von so vielen Polizisten, kann ich nichts machen. Sie sind gesetzlich dazu verpflichtet, sie zu verhaften. Wenn ich mich später für sie einsetzen kann, werde ich das tun.

»Hey!«, ertönt eine Männerstimme und ich sehe den Mann auf uns zukommen, der Paula hergefahren hat. Er ist korpulent und sieht besorgt aus. »Was machen Sie da mit ihr?«

Ich trete ihm mit ausgestrecktem Arm entgegen und stoppe ihn. »Bleiben Sie, wo Sie sind, und halten Sie die Hände so, dass ich sie sehen kann.«

»Okay, okay!« Der Mann bleibt auf der Stelle stehen. »Bin ganz entspannt.«

»Wie heißen Sie?«, frage ich.

»Carl Shellenberger.«

»Zeigen Sie mir irgendeinen Ausweis.«

Während er nach seiner Brieftasche kramt, deute ich auf die Frau am Boden. »Warum haben Sie sie hergebracht?«

»Sie wollte Sie sehen.«

»Warum?«

»Ich nehme an, das müssen Sie beide unter sich klären.«

»In welcher Beziehung stehen Sie zu ihr?«

Plötzlich wirkt er kleinlaut. »Ich bin ihr Vater.«

Ich spüre noch immer das Brennen ihrer Hand auf meiner Wange, aber mein Adrenalinpegel sinkt langsam. »Nimmt sie irgendwelche Medikamente?«

Er seufzt. »Ich glaube, der Arzt hat ihr was gegen die Schmerzen gegeben.«

»Ist Ihnen nicht der Gedanke gekommen, dass es keine gute Idee ist, sie hierherzufahren?«

Noch ein Seufzer. »Sie hat darauf bestanden.«

»Und jetzt nehmen wir sie fest, weil sie einen Polizisten angegriffen hat«, wirft Tomasetti ein.

Shellenberger starrt ihn ungläubig an. »Das können Sie doch nicht machen! Sie hat das Bein gebrochen und gerade ihr Baby verloren. Und auch noch ihr Zuhause. Sie können sie doch jetzt nicht ins Gefängnis stecken!«

»Sie hat eine Polizistin geschlagen«, fährt Tomasetti ihn an. »Uns bleibt gar keine andere Wahl.«

»So lautet das Gesetz«, fügt Rasmussen hinzu.

»Aber sie ist vollkommen durcheinander«, sagt der Mann angespannt.

Tomasetti und Rasmussen helfen Paula Kester auf die Beine. Sie hat den Kopf gesenkt und schluchzt, die Haare hängen ihr ins Gesicht. »Dass Sie mir das antun«, sagt sie. »Das ist alles Ihre Schuld.«

Ich will etwas sagen, um sie zu beruhigen, aber sie ist so wütend, dass jede Bemerkung von mir alles nur noch schlimmer macht.

Sie hebt den Kopf, starrt mir in die Augen, stößt zähnefletschend einen Fluch aus und versucht, sich von Tomasetti und Rasmussen loszureißen. »Ich besorg mir einen Anwalt und verklag dich!«, schreit sie. »Ich verklag dich, du Miststück! Ich verklag euch alle! Ihr Arschlöcher!«

Rasmussen schüttelt den Kopf.

Der Deputy neben ihm räuspert sich. »Ich kann sie hinten im Streifenwagen mitnehmen«, sagt er.

Der Sheriff nickt. »Wir buchten sie erst mal ein.«

»Und ihr Bein?«, jammert ihr Vater.

Tomasetti wirft ihm einen vernichtenden Blick zu. »Das hätten Sie sich vorher überlegen sollen, bevor Sie sie hergefahren haben, Sie Einstein.«