6. Kapitel
Gegen zweiundzwanzig Uhr machen Stevitch und sein Assistent schließlich Feierabend. Sheriff Rasmussen hat sich vor einer Stunde verabschiedet, Tomasetti ist natürlich geblieben.
Stevitch und Hochheim haben neun zermürbende Stunden lang jeden Zentimeter des Fundortes und der näheren Umgebung abgesucht, den Erdboden per Hand mit speziellen Analysesieben gefiltert. Alle Knochen wurden in Papiertüten verpackt, beschriftet und in Plastikbehältern verstaut. Nachdem die Untersuchung der oberen Erdschicht abgeschlossen war, haben sie mit den Schaufeln eine Reihe flacher Löcher gegraben und diese Erde ebenfalls gesiebt. Als die Dämmerung einsetzte und das Tageslicht nicht mehr ausreichte, habe ich Glock gebeten, einen Stromgenerator zu bringen, und das Sheriffbüro angerufen, das sofort einen Deputy mit Arbeitsscheinwerfern geschickt hat. Die beiden Männer haben ihre mühsame Arbeit im Licht der brummenden Lampen fortgesetzt und Knochen, Stofffetzen und alles, was nicht hierhergehört, zur Seite gelegt. Nachdem sie schließlich alle Bodenproben genommen hatten, hat Hochheim den markierten Bereich mit einem Metalldetektor abgesucht.
Während Hochheim jetzt alle Werkzeuge im Koffer verstaut und in den Prius bringt, kommt Stevitch zu mir. »Ich glaube, wir haben alles zutage befördert, was dieser Ort hergibt«, sagt er.
»Ich weiß es zu schätzen, dass Sie so schnell und kurzfristig hergekommen sind«, sage ich.
»Das liegt in der Natur der Sache.« Er lacht. »Das klingt jetzt wahrscheinlich morbide, aber wir Anthropologen buddeln liebend gern in der Erde.«
»Können Sie schon irgendetwas sagen?«, fragt Tomasetti.
Sofort wird er ernst, zwirbelt seinen Bart zwischen Daumen und Zeigefinger. »Interessanterweise fehlen etwa zwanzig Prozent der Knochen, die vermutlich von Tieren weggeschleppt wurden.«
»Reicht der Rest zur Identifizierung?«, frage ich.
»Glücklicherweise haben wir die Zähne, die gewöhnlich eine hervorragende Quelle für DNA sind. Ich extrahiere Proben und schicke sie ins Labor, wo wir aber erst mal in der Warteschlange landen.«
»Können Sie Größe und Gewicht herausfinden?«, frage ich. »Rasse?«
»Irgendwann schon, aber schnell geht so was nicht. Sobald alles protokolliert ist, erstelle ich ein biologisches Profil, das Alter, Geschlecht, Statur und Abstammung mit einschließt.«
»Was ist mit Kleidung?«, frage ich. »Irgendwelche persönlichen Sachen?«
»Es gibt einige Stofffetzen, aber die sind extrem verrottet.« Er hebt einen großen durchsichtigen Plastikumschlag mit mehreren kleineren Umschlägen unterschiedlicher Größe darin hoch, teils aus Papier, teils aus Plastik. »Der Metalldetektor hat ein paar interessante Dinge aufgespürt.« Er zeigt auf einen winzigen durchsichtigen Plastikumschlag. »Diesen Ring zum Beispiel. Ein kleiner Diamant, der Ring ist wahrscheinlich aus Gold.«
»Sieht wie ein Frauenring aus«, sagt Tomasetti.
»Ein Verlobungsring«, sage ich.
»Oder ein Ehering«, stimmt Stevitch zu. »Wir sehen ihn uns unter der Lupe an, vielleicht finden wir ja etwas, um ihn zu identifizieren.«
»Wenn wir den Namen des Herstellers wissen«, sagt Tomasetti, »können wir vielleicht den Händler feststellen.«
»Und den Käufer.« Ich denke kurz nach. »Können Sie ein paar Fotos vom Ring machen und mir mailen?«
»Aber sicher.« Und als hätte er die beste Nachricht für zuletzt aufgehoben, greift er in die Mappe und nimmt einen großen weißen Umschlag heraus. »Das hier haben wir ebenfalls mit dem Metalldetektor gefunden. Das ist wahrscheinlich das bedeutsamste Fundstück. Ich glaube, damit können wir den Toten identifizieren.«
Er klappt die Lasche des Umschlags auf. Ich sehe ein schmutzverkrustetes, etwa eineinhalb Zentimeter breites und zehn Zentimeter langes Eisenteil mit mehreren Schrauben an einem Ende. Zuerst halte ich es für die Haspe des Scheunentors, doch es muss etwas Wichtigeres sein. »Was ist das?«
»Meiner Meinung nach ein orthopädisches Implantat. Genauer gesagt, eine Platte, wahrscheinlich aus Titan. Der Größe nach zu urteilen war sie vermutlich im Unterarm – an der Elle oder Speiche. Wie Sie sehen, sind einige der Schrauben noch dran, und wir haben weitere in der näheren Umgebung gefunden.«
»Das heißt, dass der Mann sich irgendwann den Arm gebrochen hatte?«, fragt Tomasetti.
»Sehr wahrscheinlich.«
Ich überlege kurz. »Haben solche Implantate Nummern, anhand derer man sie zuordnen kann?«
»Ich glaube ja. Natürlich muss ich das im Labor alles noch genauer untersuchen. Aber ich bin relativ sicher, dass meine Vermutung sich als richtig erweist und Ihnen das bei der Identifizierung helfen kann.«
»Hoffentlich«, erwidere ich.
»In den nächsten Tagen und Wochen werde ich mich mit Doktor Coblentz beraten. Als Team können wir vielleicht die Todesursache und/oder Todesart feststellen, aber versprechen kann ich nichts. Wir haben nicht sehr viel, mit dem wir arbeiten können, aber wir werden unser Bestes tun.«
Ich reiche ihm die Hand, und er schüttelt sie. »Ich danke Ihnen.«
»Um ehrlich zu sein, ich habe jede Minute genossen.« Auch von Tomasetti verabschiedet er sich mit Handschlag. »Das verspricht, ein schwieriger und interessanter Fall zu werden«, sagt er. »Wir bleiben in Kontakt.«
Als ich zehn Minuten später den langsam im Dunkeln verschwindenden Rücklichtern des Prius hinterhersehe, kommt Tomasetti zu mir. Er hat den Motor seines Tahoe laufen lassen, dessen Scheinwerfer dem Deputy genug Licht geben, um die Arbeitsleuchten abzubauen.
»Hilfst du mir, den Generator einzuladen?«, frage ich.
»Ich dachte schon, du fragst nie.« Er winkelt den Arm an. »Ich lasse mir nie eine Gelegenheit entgehen, der Frau, zu der ich mich total hingezogen fühle, meine Muskeln zu zeigen.«
Ich verdrehe die Augen, bücke mich, umfasse den Griff des Generators mit beiden Händen und rolle ihn Richtung Explorer. Was nicht so leicht ist, da er knapp einhundertfünfzehn Kilo wiegt und ich ihn über buckliges Gras, losen Schotter und stellenweise weiche Erde schleifen muss. Aber ich bin froh über die Ablenkung, denn die Szene mit Paula Kester geistert mir noch immer im Kopf herum. Ihre Beschuldigungen stecken wie ein Stachel in meinem Fleisch. Ich will nicht darüber reden, bin aber ziemlich sicher, dass Tomasetti das Thema zur Sprache bringen wird.
Ich hab den Generator erst wenige Meter fortbewegt, als er sich den Griff schnappt und übernimmt. »Du bist so still«, sagt er.
»Ich denke nur nach«, sage ich.
»Über Paula Kester?«
»Vor allem über die Knochen.«
»Aha.« Er nickt und rollt den Generator um einen matschigen Bereich herum. »Du weißt sicher, dass es in unserem Staat eine gesetzliche Haftungserleichterung für Retter gibt, ja?«
»Ist mir bekannt.« Eine Satzung in der aktuellen Gesetzessammlung Ohios schützt jeden, der einem Verletzten Erste Hilfe leistet, vor Haftungsansprüchen. »Aber wir beide wissen, dass es immer auch Anwälte gibt, die das anders auslegen.«
»Sie wird mit einer Klage nicht weit kommen.«
Ich will ihm sagen, dass es nicht die mögliche Klage ist, die mir zu schaffen macht, lasse es aber sein. »Ich wollte nicht, dass sie verhaftet wird.«
»Man schlägt einem Polizisten nicht ins Gesicht und kommt ungeschoren davon. Und ja, man kann mildernde Umstände ins Feld führen und dass sie von ihren Gefühlen übermannt wurde, aber das kann sie alles dem Richter erzählen.«
»Tomasetti, du bist echt knallhart«, sage ich, mildere die Worte aber mit einem Lächeln ab.
Als wir den Explorer erreichen, nehme ich die Schlüssel aus der Tasche und öffne den Kofferraum. »Sie hat mir gesagt, das Baby hätte eine Nackenverletzung gehabt«, erzähle ich ihm. »Wenn ich es nicht weggetragen hätte, würde es vielleicht noch leben.«
»Wenn du es nicht weggetragen hättest und das Gas hätte sich entzündet, wären wir heute Abend alle im Leichenschauhaus. Du hast nach bestem Ermessen gehandelt, und ich glaube, das war richtig so.«
»Und wenn das nicht stimmt? Ich meine, hier geht es um das Leben eines Kindes, Tomasetti, das ist keine Kleinigkeit.«
»Das Kind war in einem vom Tornado umgekippten und halb zerstörten Mobilheim. Du weißt genauso gut wie ich, dass Autos und Wohnwagen die gefährlichsten Orte sind, in denen man sich bei so einem Sturm aufhalten kann. Es gab ein Gasleck. Du hast dein Leben riskiert, um das Kind da rauszuholen.«
»Das weiß ich alles selber«, sage ich gereizt.
»Dann weißt du auch, dass Menschen, die so großes Leid erleben, dumme Dinge sagen und tun. Paula Kester ist vom Schicksal hart getroffen, sie brauchte jemanden, dem sie die Schuld geben konnte. Also fängt sie einen Streit mit dir an und haut dir eine runter. Welcher Mensch macht so was?«
»Einer, der gerade alles verloren hat, auch sein Kind.«
Er lässt meine Aussage unkommentiert stehen. »Ist sie verheiratet?«
»Das weiß ich nicht.«
»Dann solltest du es besser herausfinden. Denn wenn sie noch mit dem Vater des Kindes zusammen ist und er genauso wütend ist wie sie, sollte man ihn vielleicht im Auge behalten, falls er vorhat, Dummheiten zu machen.«
Ich beuge mich vor und umfasse den Griff des Generators. »Fertig?«
Er packt ebenfalls zu, blickt mich aber über den Motor hinweg finster an. »Ja.«
Wir heben den Generator gleichzeitig hoch und stellen ihn in den Explorer. Ich trete einen Schritt zurück, Tomasetti schließt die Tür und dreht sich zu mir herum. »Kommst du nach Hause, wenn du den Generator zurückgebracht hast?«
»Jap.« Ich schaffe ein Lächeln. »Wir sehen uns später.«
Er beugt sich vor und drückt mir einen Kuss auf den Mund. »Bist du wirklich okay?«
»Wirklich.« Ohne groß nachzudenken, drücke ich mich an ihn und küsse ihn.
Als er sich aus der Umarmung löst, sieht er mich etwas zu genau an, fragt sich, wo das jetzt herkam. »Mach nicht mehr so lange.«
Ich nicke, gehe zur Fahrertür, steige ein und fahre los.
Da ich vorhin keine Zeit hatte, etwas zu essen, fahre ich kurz bei McDonald’s in Millersburg vorbei und kaufe mir einen Burger zum Mitnehmen. Als ich aufs Polizeirevier komme, sitzt Jodie Metzger, die die zweite Schicht in der Telefonzentrale arbeitet, mit Headset auf dem Kopf und den Blick auf den Computerbildschirm geheftet hinterm Empfangstresen. Aus dem Radio auf dem Schreibtisch schmettert die Band Foster the People den Song »Pumped Up Kids«.
»Hey, Chief.« Sie steht auf und hält mir einen Stapel Telefonnachrichten entgegen. »Ich glaube, sämtliche Einwohner von Painters Mill wollten Sie heute sprechen.«
Ich bleibe neben dem Schreibtisch stehen und nehme die Zettel entgegen. »Hat Lois Sie wegen des Knochenfunds an der Gellerman Road informiert?«
Sie nickt. »Muss schlimm für die Pfadfinder sein, Menschenknochen zu finden.« Sie schüttelt sich übertrieben. »Lois hat Ihnen eine E-Mail geschickt, bevor sie gegangen ist, und mich ins cc gesetzt. Oh, und diese Akte soll ich Ihnen geben.« Sie zieht eine violette, bereits daumendicke Aktenmappe hervor. »Sie hat Dateien aus NamUs und NCIC ausgedruckt und alles durch LEADS laufen lassen.«
›NamUs‹ ist die zentrale Datenbank vermisster und nicht identifizierter Personen, ›NCIC‹ die Polizeidatenbank der Bundesbehörden und ›LEADS‹ die Datenbank der Strafverfolgungsbehörden, in der alle nicht vollstreckten Haftbefehle aufgelistet sind. NamUs ist die weltweit größte Datenbank vermisster Personen und nicht identifizierter menschlicher Überreste, in der auch Zivilisten nach vermissten Angehörigen suchen oder Vermisste mit Überresten abgeglichen werden können.
Sie zeigt auf den Computermonitor. »Ich hab gerade die Datenbank vom ›National Center for Missing Adults‹ aufgerufen, in einer Stunde kann ich Ihnen wahrscheinlich eine Liste aller vermissten Erwachsenen geben.«
Ich erzähle ihr von Stevitchs Fund der Titanplatte. »Der Tote hatte wahrscheinlich irgendwann den Arm gebrochen – Elle oder Speiche –, und eine Platte eingesetzt bekommen. Wenn Sie also auf ein Profil stoßen, in dem ein Knochenbruch erwähnt wird, schicken Sie’s mir gleich weiter.«
»Mach ich. Und ich sag Lois und Mona Bescheid, auch darauf zu achten.« Sie legt den Kopf zur Seite. »Haben Sie schon eine Idee, wer es sein könnte?«
»Noch nicht.« Ich denke kurz nach. »Kontaktieren Sie die Organisation zur Verhinderung von Verbrechen, die Crimestopper. Sagen Sie, wir bieten fünfhundert Dollar für Informationen, die zur Identifizierung des Toten führen. Alle Anrufer bleiben anonym.« Ich halte inne. »Und wer ist der Besitzer des Grundstücks an der Gellerman Road?«
Sie schreibt alles auf einen gelben Block. »Ist notiert, Chief.«
»Hat Skid heute Abend Dienst?«
»Ja.«
»Geben Sie ihm über Funk Bescheid, dass er mir helfen muss, den Generator aus meinem Wagen zu laden.«
»Mach ich.«
Auf dem Weg zu meinem Büro fällt mir noch etwas ein, ich bleibe stehen und drehe mich zu ihr um. »Jodie, können Sie Paula Kester durch LEADS laufen lassen und feststellen, ob etwas gegen sie vorliegt?« Ich buchstabiere den Nachnamen. »Wenn sie verheiratet ist, ihren Mann ebenfalls. Seinen Namen weiß ich nicht, aber den können Sie sicher rausfinden.«
»Wird gemacht.«
Ich schließe mein Büro auf, fahre den Computer hoch und packe mein Dinner aus. Bei Ermittlungen in einem Todesfall hat die Identifizierung des Opfers oberste Priorität, ohne die keine Viktimologie – Opferforschung – möglich ist. Im Moment weiß ich nicht, ob ich es mit einem Tötungsdelikt, einem Unfall oder einem natürlichen Tod zu tun habe. Aber mein Bauchgefühl sagt mir, dass der Mann einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist, und jeder Gesetzeshüter weiß, dass in den meisten Fällen das Opfer den Täter kannte. Wenn ich also den Namen des Toten nicht kenne, ist es fast aussichtslos, den Täter zu finden.
Ich verschlinge den Burger, überfliege dabei meine E-Mails und beantworte diejenigen, die nicht bis morgen warten können. Aber ich will so schnell wie möglich die Akte durchsehen, die Lois zusammengestellt hat. Noch während ich den Deckel vom Kaffee nehme, schlage ich sie auf und bin nicht zum ersten Mal von Lois’ Fähigkeit, aus der Menge nutzloser Daten die relevanten Informationen herauszufiltern, beeindruckt.
Der NamUs-Bericht liegt obenauf. Die Website mit Suchfunktion existiert seit 2009 und enthält über elftausend Fälle von nicht identifizierten Toten und beinahe zwanzigtausend Meldungen über vermisste Personen. Ein gewaltiger Datenberg, da momentan die einzigen Informationen zur Eingrenzung der Suche Ort, Geschlecht und Alter zwischen sechzehn und fünfunddreißig sind.
Meine Arbeit wäre unendlich viel aufwendiger, wenn das hier eine große Metropole wäre, in der mehr Menschen vermisst werden. Aber Painters Mill ist eine Kleinstadt und Holmes County insgesamt dünn besiedelt, wodurch sich die Anzahl der Vermissten in Grenzen hält. Je nachdem wie alt die Knochen sind, lebt vielleicht noch jemand in Painters Mill, der sich an irgendetwas erinnert und sich bei uns meldet.
In den letzten vierzig Jahren wurden in unserer Region, die drei Countys umfasst, vierzehn männliche Personen zwischen sechzehn und fünfunddreißig Jahren als vermisst gemeldet, und sind auch nicht wieder aufgetaucht. Jeder dieser Männer könnte mein nicht identifizierter Toter sein, und so konzentriere ich mich zunächst auf Holmes County.
Sechs Namen stehen auf der Liste, die ich gelb markiere: Mark Elliott, zweiundzwanzig Jahre alt, verschwand vor fünf Jahren nach einem Streit mit seiner Freundin; Raymond Stetmeyer, fünfunddreißig Jahre alt, verschwand vor zwölf Jahren bei einem Angelausflug; Ricky Maitland, einunddreißig Jahre alt, sagte 1997 zu seiner Frau, er gehe auf einen Drink in eine Bar im Ort, und kam nie zurück; Leroy Nolt, zweiundzwanzig Jahre alt, ging 1985 morgens zur Arbeit, seine Eltern haben ihn nie wiedergesehen; Benjamin Mullet, siebzehn Jahre alt und amisch, verschwand 1978 während seiner Rumspringa (das ist die Zeit, in der die Jugendlichen mit ungefähr sechzehn Jahren die Welt erkunden können, ohne sich an die Einschränkungen des schlichten Lebens halten zu müssen), und Thomas Blaine, fünfundzwanzig Jahre alt und Vater zweier Kinder aus Clark, wird seit 1977 vermisst, nachdem er wegen Trunkenheit am Steuer vorübergehend festgenommen worden war. In keinem der Fälle werden alte Verletzungen oder Knochenbrüche erwähnt.
Zwei der Namen, Nolt und Stetmeyer, kenne ich. Nicht weil ich mich an die Fälle erinnere, sondern weil Painters Mill klein ist und ich zufällig weiß, dass die Familien noch hier in der Gegend wohnen. Mir liegt besonders daran, herauszufinden, ob einer der Vermissten vor seinem Verschwinden wegen eines gebrochenen Arms in Behandlung war. Natürlich ist es zu spät, heute Abend noch jemanden zu kontaktieren, also werde ich das als Erstes morgen früh machen.
Um diese Zeit ist es ganz still auf dem Polizeirevier. Die Telefone klingeln nicht mehr, Jodie hat das Radio leiser gedreht, und draußen auf der Main Street fährt kaum noch ein Auto. Es ist so ruhig hier, dass ich den Wind um die Dachtraufe wehen höre, das Brummen meiner Festplatte, und auf einmal wünsche ich mir den Lärm, über den ich mich sonst so gern beschwere. Es ist mir jetzt fast zu still, was dazu führt, dass ich über Dinge nachdenke, die ich den ganzen Tag lang verdrängt habe.
Mörderin!
Babykiller!
Mein Verstand sagt mir, dass ich am Tod von Paula Kesters Baby nicht schuld bin. Ich habe getan, was jeder Polizist getan hätte: Ich habe das Kind aus einer gefährlichen, lebensbedrohlichen Lage befreit. Ja, ich habe die goldene Regel, eine verletzte Person niemals zu bewegen, verletzt. Aber ich hatte nur wenige Sekunden, um mich zu entscheiden, und habe nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt. Wenn ich noch einmal in der gleichen Situation wäre, würde ich mich genauso verhalten. Und doch frage ich mich, ob das Kind noch leben würde, wenn ich nicht in das Mobilheim gegangen wäre …
Ich denke an Tomasetti, der zu Hause auf mich wartet, und zum ersten Mal stelle ich mir die Frage, warum ich noch immer hier und nicht schon längst bei ihm auf der Farm bin. Und ich gestehe mir ein, dass ich ihm aus dem Weg gehe, mich vor ihm verstecke – weil ich mich auch dem, was mir vielleicht bevorsteht, nicht stellen will.
Letzten Monat habe ich meine Periode nicht bekommen. Vor etwa drei Wochen war sie fällig. Ich habe gewartet, mir keine großen Gedanken gemacht, denn mein Körper würde mich bestimmt nicht im Stich lassen. Ich habe Erklärungen gesucht und gefunden, zum Beispiel Arbeitsstress, zu wenig gegessen, zu wenig Schlaf, sogar die Erkältung vor ein paar Wochen. Sobald alles wieder in normalen Bahnen lief, redete ich mir ein, würde ich meine Tage bekommen und alles wäre wieder in Ordnung. Drei Wochen lang habe ich mich geweigert, darüber nachzudenken. Ein Psychotherapeut würde es wohl Realitätsverleugnung nennen – nicht leicht zu schlucken für eine Rationalistin wie mich. Aber es gibt ein paar Situationen, die sind zu bedrohlich, um mich ihnen zu stellen, und diese gehört für mich dazu.
Ich habe immer verhütet und ein paar Wochen vor meinem Einzug bei Tomasetti angefangen, die Pille zu nehmen. Aber sosehr ich mich auch daran klammere, unmöglich schwanger sein zu können, war ich zwei- oder dreimal eher nachlässig. Einmal hatte ich so viel um die Ohren und keine Zeit, mir ein neues Rezept zu besorgen, und zwei Tage ausgesetzt. Ein andermal war ich rund um die Uhr mit einem schwierigen Fall beschäftigt, habe es nicht nach Hause geschafft und die Pille drei Tage lang nicht genommen.
Tomasetti und ich haben nie über Kinder gesprochen. Noch nicht einmal übers Heiraten. Keiner von uns beiden ist an dem Punkt, sich auf diese Weise zu binden. Eine Familie zu gründen. Ehrlich gesagt, habe ich noch nie groß darüber nachgedacht. Natürlich gibt es Zeiten, in denen mir das Ticken meiner biologischen Uhr bewusst wird – ich werde dieses Jahr vierunddreißig. Trotzdem macht mir die Vorstellung, an diesem Punkt in meinem Leben ein Kind in diese Welt zu setzen, große Angst.
Ich vergrabe das Gesicht in den Händen, schließe die Augen und stoße einen tiefen Seufzer aus. »Was hast du um Himmels willen getan?«, murmele ich in meine Hände.
»Chief?«
Ich schrecke hoch. Skid, mein Officer, der die zweite Schicht arbeitet, steht in der Tür. Ich räuspere mich. »Hey.«
Er grinst. »Langer Tag, was?«
»Kann man so sagen.« Ich lächele, um meine Verlegenheit zu überspielen. »Helfen Sie mir mit dem Generator?«
»Ja, Ma’am.«
Skid ist ein besonnener, erfahrener und guter Polizist. Aber er hat auch Schwächen, die dazu geführt haben, dass sein Weg auf der Karriereleiter holprig ist. Er war ursprünglich in Ann Arbor, Michigan, wo er seinen Polizeijob wegen außerdienstlicher Trunkenheit am Steuer verloren hatte. Ich war gerade Chief in Painters Mill geworden, als ich ihn eingestellt habe, und bislang gab es nie Probleme. Er hat viel Erfahrung als Polizist, geht mit brenzligen Situationen besonnen um und hat einen beißenden Humor, der mir besser gefällt, als er sollte.
Wir durchqueren den Empfangsbereich und gehen zur Tür hinaus. »Ich hab von dem Knochenfund draußen an der Gellerman Road gehört«, sagt er, als wir den Generator aus dem Auto heben. »Wissen Sie schon, von wem die Knochen stammen?«
»Noch nicht.« Ich erzähle ihm von den sechs Fällen vermisster Personen in Holmes County. »Der forensische Anthropologe, Doc Coblentz und ein weiterer Coroner aus Lucas County fangen gleich morgen früh mit der genauen Untersuchung der Gebeine an. Wenn wir Glück haben, können sie DNA extrahieren.«
Ich halte die Tür auf, und er rollt den Generator in den Raum. »Wie läuft’s in Ihrer Schicht?«
»Eine Menge Leute sind noch ohne Strom, aber niemand macht Stress. Das Rote Kreuz verteilt morgen wieder Essen und Wasser.« Er runzelt die Stirn. »Es heißt, Sie hätten heute Ärger mit Paula Kester gehabt.«
»War nicht mein schönster Moment.« Ich schließe die Tür hinter uns und zeige zum anderen Ende des Raums. »Wir bringen ihn am besten in den Keller.«
Er nickt. »Vor ein paar Jahren bin ich mal mit ihrem Mann aneinandergeraten, und eins kann ich Ihnen sagen: Mit Nick Kester ist nicht gut Kirschen essen.«
»Ist er vorbestraft?«
»Wegen Körperverletzung und Waffenbesitz«, sagt er. »Das ist das Einzige, was mir spontan einfällt. Aber der Kerl ist ein Hitzkopf. Wenn die beiden noch zusammen sind, sollten Sie ihn auf dem Radar haben. Er liebt Crystal Meth, hasst Polizisten und hat obendrein eine Schraube locker.«
»Keine gute Kombination«, sage ich.
»Schon gar nicht, wenn man Nick Kester heißt und glaubt, die Polizei will einen fertigmachen.«