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Und so berichte ich, Brantigern Anextlomarus, die Legende unseres Volkes, nicht für römische Augen noch für jedermanns Augen bestimmt, nur für die Götter und Göttinnen allein. Unsere Riten und Geheimnisse sind stets vor denen bewahrt worden, die unsere Götter verbrennen und unsere Wahrheiten verspotten würden. Auf ewig soll es so sein.
So schloss meine Nachmittagslektüre, Band I von Adriens Histoire Secrète de Grotte Cachée, in der der Druide Brantigern vom Glauben und von der Geschichte seines keltischen Volksstammes erzählt, der die gallischen Kriege und die römische Besatzung in seiner Ansiedlung im Tal überstanden hat.
Ich klappte das Buch zu und legte es auf meinen Schoß. Sorgsam hielt ich es fest, damit es nicht in das Becken des Badehauses fiel, an dessen Rand ich saß und die Beine im Wasser baumeln ließ. Das Buch war faszinierend, aber auch ein wenig beunruhigend, vor allem der Teil über die Stammesangehörigen, die als Hüter für »Götter« dienten, die ich aus dem täglichen Umgang kannte. Zuerst war Darius da gewesen, ihr »Gott des Feuers« aus einem unbekannten, fremden Land, der jahrhundertelang tief in ihrer »verzauberten Höhle« gelebt hatte. Dann kam Elic, ein »freundlicher Dusios aus dem Norden«, und schließlich Inigo, der den römischen Eroberern Modell für die Statuen im Badehaus gestanden hatte. Lili wurde nirgendwo erwähnt. Sie musste später gekommen sein.
Die Geschichte selbst mochte sorgfältig recherchiert sein, aber diese Sache mit Darius, Elic und Inigo … es ging nicht darum, dass der Stamm Götter anbetete, davon gab es schließlich Dutzende. Aber diese speziellen Götter lebten immer noch in Grotte Cachée. Ich hatte sie kennengelernt, du liebe Güte. Sollte ich ernsthaft glauben, dass sie keine Menschen waren, sondern göttliche, sexbesessene Wesen, die Tausende von Jahren alt waren?
»Du hast deinen Vater angelogen.«
Ich drehte mich um. Adrien stand im Eingang, in einem silbergrauen Anzug, einer Krawatte in derselben Farbe. Die Hände hatte er in die Taschen gesteckt. Anscheinend war er gerade von seinem Termin in Lyon zurückgekommen. Unwillkürlich fragte ich mich, wie lange er dort schon gestanden haben mochte.
»Du hast gar nicht die Absicht, ihm als administrateur nachzufolgen«, schalt er mich sanft. »Das hast du ihm nur gesagt, um ihn zu beruhigen.«
»Was macht dich da so sicher?«
»Ich war nicht so sicher, bis ich dich hier gesehen habe. Ich muss zugeben, dass ich erleichtert bin. Es ist das Beste so.« Er blickte auf das Buch, während er sein Jackett ablegte. »Ein bisschen viel, um es auf einmal zu verdauen, was?«
Er wirkte entspannt und beherrscht, als versuche er auszublenden, was genau hier am Tag zuvor passiert war. Gestern war es mir schon schwergefallen, ihn anzusehen, aber heute war es geradezu eine Qual.
Ich hob das Buch und sagte: »Was ist das eigentlich? Ein mehrbändiger Fantasy-Roman, der tatsächliche historische Ereignisse mit mythologischen …«
»Es ist keine Fiktion.« Adrien nahm eine Schachtel Sobranie Black Russians und ein goldenes Feuerzeug aus der Innentasche seines Jacketts, bevor er es über die Rückenlehne eines schmiedeeisernen Stuhls hängte. Er setzte sich und lockerte seine Krawatte.
»Ach, willst du behaupten, es sei alles wahr? Selbst der Teil mit den Follets?« Adrien bildete sich das wahrscheinlich alles nur ein, und mein früher so rationaler Vater hatte sich irgendwie komplett hineinziehen lassen. Aber war es angesichts seiner angegriffenen Gesundheit und des Wissens, dass Stress seinen Zustand nur noch verschlimmerte, überhaupt ratsam, es ihm ausreden zu wollen? Vielleicht sollte ich ihn einfach glauben lassen, was er glaubte.
»Das Buch ist ein nüchterner, auf Tatsachen basierender Bericht über Leben und Geschichte der Vernae, geschrieben von Brantigern, dem Protektor«, sagte Adrien. »Ich habe ihn nur aus dem Gallischen ins Französische übersetzt, und dein Vater hat den Text nach und nach ins Englische übertragen.«
»Bereitet es dir keine Sorgen, dass eine reine ›Zivilistin‹ an dieses ach so geheime Dokument gekommen ist?«, fragte ich.
»Du würdest niemals ausplaudern, was du hier erfahren hast«, sagte Adrien mit ruhiger Gewissheit.
»Woher willst du das wissen? Von meiner Aura?«
»Ich weiß das, weil du zuverlässig und vertrauenswürdig bist und deinen Vater viel zu sehr liebst, als dass du das verraten würdest, was ihm wichtig ist. Auch nicht nach seinem Tod.«
»Du erzählst ihm doch nicht, dass ich nicht wirklich vorhabe, seine Nachfolge anzutreten, oder? Er ist so krank. Er braucht nicht …«
»Nein, natürlich nicht. Aber es ist gut, dass ich es weiß. Dann kann ich mich um einen Ersatz kümmern. Du erlaubst?«, fragte er und nahm eine Zigarette aus der Schachtel.
Ich nickte. »Und sag ihm auch nicht, dass du von seiner Krankheit weißt – bitte. Er muss es dir von sich aus sagen. Er ist so zurückhaltend, so stolz und gefasst.«
Adrien zündete die schwarze Zigarette mit dem goldenen Mundstück an und sagte, nachdem er den ersten Zug inhaliert hatte: »Ich habe schon vor über einem Jahr gemerkt, dass mit deinem Vater etwas nicht in Ordnung war, weil seine Aura dunkler wurde. Ein-oder zweimal machte ich eine beiläufige Bemerkung, aber er wehrte ab, und so schwieg ich. Ich kenne ihn gut genug, um zu wissen, wann ich den Mund halten muss.«
»Ich bin dir sehr dankbar dafür.« Ich blickte auf meine Armbanduhr und sagte: »In einer knappen Stunde muss ich zum Flughafen aufbrechen. Da Dad nicht mehr so viel reisen darf, möchte ich ihn gerne alle paar Wochen besuchen kommen, wenn das für dich in Ordnung ist.«
Adrien ließ seine Zigarette sinken. In seinen Augen stand eine Spur von Qual und Verzweiflung. »Es tut mir weh, dass du das noch fragst …« Er senkte den Blick und schüttelte leicht den Kopf, als wolle er sich ermahnen, nicht zu viel preiszugeben. Dann blickte er wieder auf und sagte: »Du bist hier immer willkommen, Isabel. Immer. Du brauchst nie zu fragen.«
Ich nickte und wandte den Blick ab. Er rauchte schweigend.
Nach einer Weile wies er auf den Höhleneingang in dem zerklüfteten Felsgesicht, das die Rückwand des Badehauses bildete. »Wie lange drehen sie dort schon?«
»Sie waren schon drin, bevor ich hierhergekommen bin, also über eine Stunde.«
»Ich sollte mal nach ihnen sehen. Dein Vater wollte sich eigentlich darum kümmern, aber ich wusste ja, dass es viel zu anstrengend für ihn gewesen wäre, vom Schloss hierher zu laufen.«
Er blickte zur Höhle, die Augen leicht zusammengekniffen, als ob er sich konzentrieren müsse. Dann lächelte er und sagte: »Sieht so aus, als ob das kleine Projekt zu Ende wäre.«
»Was, kannst du etwa wie Superman durch Felswände sehen? «
»Nicht durch Felswände, nein, und ganz bestimmt nicht auf diese Entfernung. Sie sind noch ziemlich weit in der Höhle, kommen aber in unsere Richtung. Stimmen kann man auf sehr große Entfernungen hören, durch alle möglichen Materialien. «
»Okay, Adrien, Dad hast du anscheinend dazu gebracht, mit dir Dämonen und Druiden zu spielen, aber ich bin für Zaubertricks nicht so empfänglich – vor allem nicht für solche, die überhaupt nichts beweisen.«
»Wie findest du diesen hier?« Adrien schwenkte die Hand und sagte: »Uediju rowero gutu.«
»… du hast die USB-Sticks verloren? Du hast die verdammten USB-Sticks verloren?«
»Ich habe sie nicht verloren, Larry. Ich habe sie gestern Abend in meine Kameratasche gepackt, wie immer, aber heute Morgen waren sie weg. Ich wollte schon in den Ort fahren und neue holen, aber …«
»Warum zum Teufel hast du es dann nicht gemacht?«, schrie Larry. »Das ist unsere einzige verfluchte Möglichkeit zur Sicherung! «
»Weil du mich den ganzen Tag hinter der verfluchten Kamera gebraucht hast!«
»Wir sind am Arsch! Wir sind völlig am Arsch! Weißt du eigentlich, wie verdammt völlig am Arsch wir sind?«
Adrien wedelte erneut mit der Hand. Das Gespräch verstummte, als habe man es ausgestellt.
»Wie hat dir dieser Trick gefallen?«, fragte er.
»Das war schon viel besser«, antwortete ich benommen.
»Larry hat also die Hosen voll, weil der elektromagnetische Vortex in der Höhle alle digitalen Bilder in den Kameras und seinem Laptop gelöscht hat, als er die Szene am Kristallbecken gefilmt hat. Er hat das Filmmaterial zwar auf zwei USB-Sticks gesichert, aber sie scheinen verschwunden zu sein. Alles, was er gefilmt hat, seit er hier ist, ist weg.« Er zog an seiner Zigarette. »C’est la vie.«
»Ein elektromagnetischer Vortex?«
»Du hast doch von den Vortices in Sedona, Arizona, und am Macchu Picchu gehört?«
Ich nickte.
»Sie werden häufig mit Vulkanen in Verbindung gebracht, oder auch mit magnetischen Meteoriten, die in der Erde vergraben sind. Im Fall von Grotte Cachée handelt es sich zufällig um einen Meteoriten, der direkt unter einem erloschenen Vulkan liegt.« Er wies mit dem Kopf zur Felswand. »Je tiefer man in die Höhle eindringt, desto stärker wird die Wirkung des Vortex.«
Ich war immer noch ganz benommen von Adriens Demonstration mit den Stimmen. »Du wusstest also, dass alles Filmmaterial gelöscht wird, wenn er in der Höhle dreht«, sagte ich. »Und ich nehme an, es ist kein Zufall, dass die USB-Sticks verschwunden sind.«
Adrien zuckte mit den Schultern, lächelte und drückte seine Zigarette aus.
»Natürlich«, sagte ich. »Die Follets bekommen eine neue Form ›fleischlicher Nahrung‹, ohne ihre Intimsphäre preiszugeben und an die Öffentlichkeit zu gehen. Sehr clever von dir, mon seigneur.«
»Dein Vater hat sich das ausgedacht. Ich wäre wahrscheinlich nicht von selbst auf die List mit dem Vortex gekommen.«
»… was zum Teufel sollen wir denn Archer sagen, wenn er fragt, wo sein Film ist?« Das war Larry Parents Stimme, die sich jetzt tatsächlich aus der Höhle näherte. »Oh, mein Freund, wir sind echt am Arsch.«
»Bonjour«, grüßte Adrien, als Larry mit seiner Crew, Inigo und Juicy Fisher aus der Höhle auftauchte. Sie mussten sich ducken, um durch die niedrige Öffnung zu kommen.
Larry schickte die anderen weiter und trat mit grimmiger Miene auf Adrien zu. »Hey, Mr. Morel. Ist, äh, Mr. Archer in der Nähe?«
»Wenn es um das Filmmaterial geht, das aus Kameras und Laptop verschwunden ist, können Sie das auch mit mir besprechen. «
Larry starrte ihn mit offenem Mund an. »Sie wissen es schon?«, sagte er erstaunt.
»Ich habe es gehört.«
Larry blickte zur Höhle und sagte: »Ja, aber …«
»Tief in der Höhle ist ein elektromagnetischer Vortex«, erklärte Adrien. »Wir hätten Sie warnen sollen, bevor Sie dort gedreht haben. Es ist allein unsere Schuld.«
»Das ist … nun, das ist wirklich sehr verständnisvoll von Ihnen, aber, äh …«
»Aber es bekümmert Sie, dass Sie ein kreatives Produkt verloren haben, in das Sie so viel Zeit und Mühe gesteckt haben.«
Ich sah Larry an, dass er am liebsten heftig reagiert hätte, aber er riss sich zusammen und erwiderte: »Ja, genau. Das ist ein Punkt, aber da ist auch … Ich meine, ich will hier nicht so geschäftsmäßig klingen, schließlich bin ich ein Künstler und so, aber …«
»Sie befürchten, dass wir Ihren unabhängigen Film nicht finanzieren, weil Sie jetzt nichts mehr vorzuweisen haben. Aber bitte, machen Sie sich in dieser Hinsicht keine Gedanken, Mr. Parent. Ich glaube, ich kann ohne Weiteres für Mr. Archer sprechen, wenn ich Ihnen sage, dass dieses kleine Missgeschick Ihre Bezahlung in keiner Weise tangiert.«
»Wirklich?«
»Wie bereits erwähnt, die Schuld liegt einzig und allein bei uns.«
Als Larry gegangen war, sagte ich zu Adrien: »Und ich habe mir schon Sorgen gemacht, dass Dad nicht mehr ganz bei sich ist. Aber jetzt glaube ich eher, ich bin diejenige.«
Adrien beugte sich vor. »Wie kommst du darauf?«
Einen Moment lang kaute ich auf meiner Unterlippe. »Diese Klangverstärkung, war das real?«
»Ja.«
»Und … und Elic, Lili, Inigo und Darius …«
»Sind Follets. Und das ist nicht ihr Nachname.«
Ich schüttelte den Kopf. »Verdammter Mist.«
»Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du fluchst wie ein Bierkutscher?«
»Dann ist also Darius wirklich eine Katze?«
»Wenn er will.«
»An jenem Abend, in meinen Weihnachtsferien damals, als wir vor dem Kamin im Rittersaal gesessen haben, da ist doch diese Katze hereingekommen und hat mich so lange angestarrt, bis ich ins Bett gegangen bin …«
Er nickte. »Das war Darius. Er, äh, nahm seine menschliche Gestalt an, als du gegangen warst, und hat ein kurzes Gespräch über Pflichtbewusstsein mit mir geführt. Er war nicht streng, er war sogar sehr freundlich, aber er fragte mich, ob ich mich ›auf etwas Ernstes einlassen wollte‹ mit jemandem, den ich nie … na ja.«
Er erhob sich, nahm ein Handtuch von dem Stapel auf der Bank und brachte es mir. »Hier, trockne dir die Füße ab! Sie müssen ja mittlerweile ganz verschrumpelt sein.«
»Danke.« Ich legte das Buch beiseite, zog die Beine aus dem Wasser und ergriff das Handtuch.
Adrien hockte sich neben mich, nahm das Buch und sagte: »Hast du es ganz gelesen?«
Ich nickte und rieb mir Unterschenkel und Füße trocken.
»Dann weißt du auch, wie wichtig es für das Wohlergehen der Follets ist, dass ihre gardiens Druiden sind – dass sie also die Gabe besitzen. Jeder gardien seit Brantigern hat die Gabe gehabt, weil jeweils beide Elternteile sie besaßen. Als ich die Histoire Secrète zusammengestellt habe, bin ich häufiger auf Fälle gestoßen, in denen ein gardien aus einer heiligen Pflicht heraus die Frau, die er liebte, zurückgewiesen und stattdessen die Frau mit der Gabe geheiratet hat, die für ihn ausgewählt worden war.«
Ich blickte auf. »Das ist … Mein Gott, Adrien, das ist so traurig.«
Er sah zu Boden.
Ich fuhr fort: »Es ist ja so, als ob die gardiens Sklaven wären. Sie leben in einem Käfig aus Tradition und Pflicht und sind Gefangene in diesem verdammten Château.«
»Wie meine Vorfahren bin auch ich dazu erzogen, mein Leben dibu e debu zu widmen – den Göttern und Göttinnen. Sie kommen immer an erster Stelle. Sie sind mein Daseinszweck.«
»Und wer wählt die Ehefrauen aus?«, fragte ich.
»Wie bei jeder arrangierten Ehe für gewöhnlich die Eltern. Wenn die Eltern tot sind, fällt diese Aufgabe dem administrateur des gardien zu. Er – oder sie – ist im Allgemeinen weit gereist und hat Verbindungen in der ganzen Welt, während der gardien eher zu Hause bleibt.«
Ich stand auf und faltete das feuchte Handtuch, um meine Hände zu beschäftigen. »Dann, äh, sucht mein Vater also eine Frau für dich?«
Auch er stand auf. »Seit einiger Zeit schon, aber Frauen mit der Gabe sind schwer zu finden. Vielleicht hat mein nächster administrateur mehr Glück.«
Kein Wunder, dass er erleichtert war, als ich zugegeben hatte, meinem Vater auf den Posten nicht nachfolgen zu wollen. Mir war die Kehle wie zugeschnürt. Ich holte tief Luft und sagte mit erzwungener Jovialität: »Gott, Adrien, dein Leben ist wirklich mittelalterlich. Ich könnte das nicht aushalten. Da kann ich ja froh sein, dass aus uns nie … ›etwas Ernstes‹ wird.«
»Lügnerin«, sagte er leise.
Ich blickte ihn an.
»Ich kann deine Aura sehen«, erinnerte er mich.
»Das ist nicht fair«, erwiderte ich mit rauer Stimme. »Ich kann deine nicht sehen.«
»Das ist wahrscheinlich auch gut so.«
»Sei vorsichtig, wenn du zum Flughafen fährst«, sagte mein Vater, während Adrien meinen kleinen Rollkoffer in den Kofferraum des Wagens hob. Er blickte zum rosig verfärbten Himmel. »Hier wird es schnell dunkel. Die Berge schlucken die Sonne.«
»Ich bin eine gute Fahrerin, ob am Tag oder in der Nacht«, erwiderte ich. »Mach dir keine Sorgen.«
»Er hat recht«, warf Adrien ein. »Du bist das Fahren auf den Bergstraßen nicht gewohnt, und im Dunkeln …«
»Ich komme schon klar, Jungs. Ach du liebe Güte.« Ich blickte auf die Uhr. »Ich muss los. Eigentlich sollte ich schon fast da sein.«
»Dann fahr jetzt«, sagte mein Vater. »Damit du nicht am Ende noch deinen Flug verpasst.«
»Tschüs, Dad.« Wie immer küssten wir uns auf die Wange. Ich mag es mir ja eingebildet haben, aber ich hatte das Gefühl, er hielte meine Schultern einen Augenblick länger fest als sonst.
»Adrien.« Ich streckte die Hand aus. Er schüttelte sie. Es war quälend höflich.
»Lass dir nicht wieder neunzehn Jahre Zeit, bevor du das nächste Mal kommst«, sagte er.
»Nein, bestimmt nicht.«
Er öffnete mir die Autotür. Ich stieg ein, hauchte meinem Vater einen Kuss zu und fuhr davon.
Er hatte recht gehabt. Die Sonne ging tatsächlich schnell unter. Als ich den langen Kiesweg entlangfuhr, der aus dem Tal herausführte, wurde der Himmel violett und dann zartblau mit einem ganz schwachen Streifen Indigo am Horizont.
Ich blickte in den Rückspiegel. Das Schloss, das mir immer so dunkel und abweisend erschienen war, leuchtete jetzt bronzefarben vor diesem fast überirdischen Himmel. Eine einzelne Gestalt stand auf der Zugbrücke und blickte mir nach: Adrien.
Ich behielt ihn im Auge, bis die Straße eine Kurve machte und das Schloss nicht mehr zu sehen war.