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Grotte Cachée, zwei Wochen später
Da ist der schwule Fisch, der mich letztes Jahr gekauft hat«, flüsterte die Sklavin namens Violet und spähte durch einen Spalt im Vorhang der Dienstbotentür zum Ballsaal im Château de la Grotte Cachée, in dem männliche Stimmen zu hören waren. »Hat mich die ganze Woche nicht angerührt. Ständig musste ich nur in Männerstiefeln herumlaufen, während er sich einen heruntergeholt hat. Na ja, manchmal durfte er sich auch an den Stiefeln reiben. Das hat mir zwölftausend Guineen eingebracht.«
»Welcher? Wie sieht er aus?« Caroline drängte sich durch die Menge der Sklavinnen, die sich in dem dunklen Durchgang vor der Speisekammer versammelt hatten, bis sie am Vorhang angekommen war und ebenfalls hindurchsehen konnte. Sie würde lieber in Männerstiefeln herumstolzieren als die anderen Dinge tun, von denen die Sklavinnen, die im Jahr zuvor schon dabei gewesen waren, erzählt hatten. Die Geschichten, die sie gehört hatte, seit sie am vergangenen Tag in Grotte Cachée angekommen war, hatten ihre schlimmsten Vorstellungen noch übertroffen.
Caroline spähte in den hell erleuchteten Saal, in dem etwa zwei Dutzend Männer darauf warteten, die Sklavinnen begutachten zu können, bevor die Auktion begann. Viel konnte sie durch den schmalen Spalt zwischen Türrahmen und Vorhang nicht sehen, nur einen Streifen des riesigen, prächtigen Saals. Die Männer trugen alle Cutaways und Kniehosen sowie kunstvoll geschlungene weiße Seidenkrawatten. Einige hatten die Nase in ein kleines Pamphlet gesteckt, Kompendium der Blumen , auf dessen Umschlag die Zeichnung einer Orchidee zu sehen war, die durch ein Kettenglied wuchs; die Blüte wies eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit der unteren weiblichen Region auf. Auf den Seiten waren die sechzehn schönen jungen Frauen beschrieben, die sich am Abend zum Verkauf anboten. An jedem Büchlein hing an einem Band ein kleiner Stift aus poliertem Ebenholz, mit dem man sich Notizen machen konnte.
»Der Stiefelknecht ist der stolzierende Hahn mit dem Monokel«, sagte Violet, deren richtiger Name Elizabeth war. Sie hatte, wie die Hälfte der Sklaven, den vornehmen Akzent der britischen Oberschicht. Die andere Hälfte kam aus dem Ausland, und es waren einige exotische Schönheiten darunter. Tulip zum Beispiel, eine zarte junge Frau mit orientalischen Gesichtszügen, die kaum Englisch sprach; Columbine, die karamellhäutige illegitime Tochter eines reichen Zuckerrohrpflanzers aus Westindien; und Lili, von der Caroline vermutete, dass sie Perserin war, mit exotischen Augen und einer üppigen schwarzen Haarmähne. Wie auch einige andere der Mädchen war Lili eine erfahrene Sklavin, da sie sich schon im letzten Sommer auf den Block gestellt hatte. Davor hatte zwanzig Jahre lang keine Sklavenwoche stattgefunden, wegen des Kriegs, den Napoleon gegen England und seine Verbündeten geführt hatte.
Manche der Sklavinnen kannten sich schon vorher. Da waren zum Beispiel zwei amerikanische Erbinnen, Aster und Iris, beide mit leuchtend roten Haaren. Sie waren zusammen zur Schule gegangen und sahen die Erfahrung als großen Spaß an. Die Erlaubnis ihrer Eltern hatten sie nur deshalb bekommen, weil jede ihrer Mutter erzählt hatte, sie sei mit der Familie der anderen in Urlaub. Zwei der Veteraninnen, die üppige Laurel und die jungenhafte Jessamine, die ihre Haare in dem schicken neugriechischen Stil kurz geschnitten trug, hatten sich bei der letztjährigen Sklavenwoche zusammengeschlossen und waren auch nach ihrer Rückkehr eng befreundet geblieben. Und Lili schien mit einer der Novizinnen, einer über eins achtzig großen blonden Schönheit namens Elle, in herzlicher Freundschaft verbunden.
Ausländisch oder nicht, man sah und hörte bei allen Sklavinnen, dass sie von Adel waren. Manche, wie Caroline, waren durch widrige Umstände ins Elend geraten, andere suchten das Abenteuer und den ultimativen sexuellen Kick.
Die Sklavinnen – seltsam, wie sehr Caroline sich schon an die Bezeichnung gewöhnt hatte – hatten alle andere Namen bekommen, um ihre wahren Identitäten zu verbergen; Caroline hieß jetzt »Rose«. Zusätzlich hatten einige noch ihr Aussehen verändert, wie Caroline. Sie hatte ihre Haare rötlich gefärbt und sie zu einem griechischen Knoten aufgesteckt, mit Locken, die sich in ihrem Nacken und um ihr Gesicht ringelten. Die Augen hatte sie mit Khol schwarz umrandet, die Brauen dunkler gemacht und auf Wangen und Lippen leuchtendes Rot aufgelegt. Die Wirkung war bemerkenswert: Ihre eigenen Brüder hätten sie nicht erkannt.
Wie die anderen Sklavinnen trug Caroline ein breites, vergoldetes Halsband, an dem stählerne Ringe und Klemmen hingen. Bei ihrer Ankunft hier war es verschlossen worden. Eine fast ein Meter fünfzig lange Leine aus geflochtenem schwarzem Leder baumelte von einem Ring vorn herunter. Um Handgelenke und Knöchel trug sie schmalere Reifen; die Handschellen waren für den Abend zusammengeschlossen worden, sodass ihre Hände vor dem Körper gefesselt waren. Genau wie die anderen Sklavinnen war sie in ein »Inspektionsgewand« aus elfenbeinfarbenem Seidenchiffon gekleidet, das direkt unter dem Busen mit einem Satinband zusammengehalten wurde. Dazu trug sie zierliche Pantöffelchen aus Goldbrokat. Unter dem dünnen Gewand war sie nackt, was gut zu erkennen war, da sich der durchsichtige Stoff an ihre weiblichen Formen schmiegte. Eigentlich hätte sie angesichts der Tatsache, dass wildfremde Männer sie so gut wie nackt sehen würden, vor Angst wie erstarrt sein müssen, aber sie fand Trost darin, dass sie zu mehreren waren. Mit fünfzehn anderen Mädchen, die im selben Boot saßen wie sie, fühlte sie sich weniger entblößt, als wenn sie alleine gewesen wäre.
»Ach, du liebe Güte, das ist ja Brummel«, sagte Violet, die sich weiter im Saal umgesehen hatte. »Ich habe ihn nicht mehr gesehen, seit er England verlassen hat.«
»Beau Brummel?«, fragte Caroline.
Violet nickte. »Vor ein paar Jahren hat er Prinny beleidigt und musste…O mein Gott«, murmelte sie. »Der Peitscher ist auch hier.«
Die anderen Sklavinnen, die schon im Jahr zuvor hier gewesen waren, stöhnten, aber Mr. Llewellyn, ein dandyhafter junger Angestellter von Riddells Auktionshaus, der auf sie aufpassen sollte, brachte sie mit einem scharfen »Schscht!« zum Schweigen. Er hob die lange Kutscherpeitsche, die er immer bei sich trug – Caroline hatte allerdings noch nie gesehen, dass er einen damit geschlagen hätte –, und sagte: »Seid leise, sonst muss ich Euch befehlen, gar nicht zu sprechen. Und denkt daran, kein Laut während der Inspektion, es sei denn, einer der Gentlemen stellt Euch eine direkte Frage.«
»Was ist ein Peitscher?«, fragte Caroline misstrauisch.
»Jemand, den du nicht als Herrn willst«, erwiderte Elle. »Das ist der Marquess of Dunhurst, reich wie Krösus und böse wie der Teufel.«
»Woher weißt du das?«, fragte ein vollbusiges Mädchen mit schwarz gefärbten Haaren, das man Jonquil genannt hatte. »Du warst doch letztes Jahr gar nicht hier.«
»Ich habe sie vor ihm gewarnt«, sagte Lili und warf Elle einen flüchtigen Blick zu.
»Selbst die anderen Gentlemen nennen ihn den Peitscher«, sagte Violet. »Er ist diese Bulldogge da bei der Gruppe von Männern am Kamin – der mit dem Spazierstock mit der Elfenbein-Schwanzspitze als Griff.«
»Was?« Caroline lachte ungläubig. »Das ist nicht dein Ernst.«
»Er hat ihn immer dabei, selbst in galanter Gesellschaft«, sagte Jonquil. »Auf den ersten Blick sieht er eher aus wie ein Pilz, aber dann entdeckst du das kleine Bischofsauge, und dir wird klar, dass es die alte kahle Ratte höchstpersönlich ist.«
Violet sagte: »Letztes Jahr kam er mit einer ganzen Truhe voller Handschellen, Peitschen und Paddel hier an. Das arme Mädchen, das er ersteigerte, hieß Dahlia. Eine hübsche kleine Blonde, Finnin, glaube ich. Das arme Ding sprach kaum Englisch, aber sie erzählte uns, dass der Bastard nicht ein einziges Mal versuchte, mit ihr zu schlafen, er wollte ihr nur Schmerzen zufügen. Sie hatte immer Tränenspuren im Gesicht und war am ganzen Körper voller Striemen. Sie bewegte sich wie eine alte Frau – man sah ihr an, dass sie ständig Schmerzen hatte.«
Caroline warf ein: »Ich dachte, die Herren dürften uns nicht verletzen.«
»Nur oberflächlich«, erwiderte Jonquil. »So lautet jedenfalls die Regel, aber Dahlia behauptete, Dunhurst habe sie gebrochen. Eines Morgens ging sie zu Dr. Coates, den ganzen Körper voller blauen Flecken und Wunden, und erklärte, er hätte sie wie wild mit einem schwarzen Stock geschlagen. Das hätte bedeutet, dass sie gehen, aber trotzdem das Geld behalten konnte. Dunhurst leugnete es, sagte, sie sei die Treppe heruntergefallen und er besitze gar keinen schwarzen Stock. Sein Zimmer wurde gründlich durchsucht, aber es fand sich nichts. Mr. Riddell schickte Dahlia weg, weil sie ungehorsam gewesen war und gelogen hatte. Nach Tagen des Missbrauchs musste sie mit leeren Händen hier verschwinden – und Dunhurst hatte seinen Spaß gehabt, ohne dafür bezahlen zu müssen.«
»Die Aussichten sind jedoch nicht ganz so schlecht, meine Damen«, sagte Violet. »Erinnert ihr euch noch an den gut aussehenden jungen Mann von letztem Jahr mit den schwarzen, lockigen Haaren? Und diesem gewissen Lächeln?«
»Inigo«, sagte Jonquil aufgeregt. »Er ist hier?«
»Er hat den reinsten Knüppel zwischen den Beinen«, sagte Violet zu Caroline. »Das Mädchen, das er gekauft hat, konnte kaum noch laufen, als die Woche vorbei war, aber sie hat gemeint, es hätte sich gelohnt.«
»Ist sein Freund auch da?«, erkundigte sich Jonquil. »Der Blonde mit den strahlend blauen Augen? Sie haben ihn Elic genannt.«
Lili und Elle wechselten wieder einen Blick, dieses Mal leicht amüsiert.
Violet reckte den Kopf, um durch die schmale Öffnung etwas sehen zu können, und sagte: »Elic kann ich nicht sehen, aber Lord Cutbridge ist hier.«
»Ach ja?«, sagte Poppy, die hinter Caroline stand. »Er war letztes Jahr mein Herr. Er ist ein echter Gentleman, aber im Bett ein wahrer Hengst. Ich bin noch nie einem Mann begegnet, der den Bettsport so liebt wie Cutbridge – und er hat sich immer um meine Lust gekümmert. Schließlich bin ich schon gekommen, wenn er mich nur mit diesem gewissen Blick anschaute. Ich wünschte, alle wären so wie er.«
»Ein Gentleman?«, schnaubte Narcissa, die schöne junge Witwe eines Earls, zu der ihr Name passte. »Er ist der einäugige Sohn eines Gerbers.«
»Aber immerhin hat euer Prinzregent so viel von diesem Sohn eines Gerbers gehalten«, warf Elle ein, »dass er ihn nach der Schlacht von Vitoria, wo er wohl auch sein Auge verloren hat, zum Baron gemacht hat, nicht wahr? Es ist doch wohl keine Schande, wenn man seinen Titel durch Heldentum gewinnt – ganz im Gegenteil.«
Violet, die immer noch durch den Vorhang spähte, sagte: »Es sieht wirklich nicht so finster aus. Rexton ist da.«
Die anderen seufzten sehnsüchtig.
Auch Caroline sah durch ihren Spalt David Childe, Lord Rexton, der auf einem roten Samtsofa saß, die langen Beine übereinandergeschlagen, in einer Hand einen Cognacschwenker, in der anderen eine Zigarre. Seine dunklen, welligen Haare waren ein wenig besser frisiert als beim letzten Mal, als sie ihn gesehen hatte, aber seine Miene gelangweilter Gleichgültigkeit war dieselbe. Er saß ganz allein da, die lackierte Schreibschachtel auf dem Platz neben sich.
»Wer ist dieser Rexton?«, fragte Angelique, die Französin war und zum ersten Mal Sklavin, wie Caroline.
»Er ist Viscount«, antwortete Violet. »Und Anwalt, obwohl man es ihm nicht ansieht. Er ist nur hier, weil er das Geld und die Verträge verwaltet – jammerschade. Seine Sklavin wäre ich gerne.«
»Er ist so kalt wie eine Viper«, warf Narcissa ein.
»Das sagst du doch nur, weil er sich von dir getrennt hat«, sagte Jonquil.
»Sie war letztes Jahr seine Geliebte, aber es dauerte nur wenige Wochen«, flüsterte Violet Caroline zu. »Ohne sie ist er besser dran. Sie hat zu allem und jedem eine Meinung, und sie kann einem den letzten Nerv rauben.«
Angelique stellte die Frage, die Caroline beschäftigt hatte, seit sie Rexton begegnet war. »Warum wird ein Viscount denn Anwalt?«
»Das weiß niemand«, antwortete Violet. »Er ist Partner bei Burnham, Childe and Upcott, aber wie ich es verstanden habe, arbeitet er nicht wirklich. Er lockt hauptsächlich reiche Klienten in die Kanzlei – und Mädchen wie uns nach Grotte Cachée. Die meisten von uns englischen Mädchen wurden von ihm ausgesucht. Der Teufel mit der Silberzunge! Er könnte eine Nonne dazu überreden, sich hier versteigern zu lassen.«
Rexton, du Erpresser, dachte Caroline und beobachtete, wie er den Cognacschwenker an den Mund hob. Du gewissenloser Schurke!
Sie dachte an die Nacht vor zwei Wochen, als er ihre Angst und ihre Verzweiflung ausgenutzt hatte – eine Verzweiflung, die sie an jenem Nachmittag dazu getrieben hatte, Bram Hugget zu erlauben, seine große Zunge in ihren Mund zu stecken und ihre Brüste zu betatschen. Und das alles für den Halfpenny, den es kostete zu sterben.
»Ein Halfpenny, um die schöne neue Brücke zu überqueren, Miss.« Die Glocken der St. Paul’s Cathedral schlugen Mitternacht, als Caroline dem rundlichen Zollwärter die schwer verdiente Münze hinhielt.
»Ein bisschen spät für eine Dame, um ohne Begleitung unterwegs zu sein«, sagte er und steckte die Münze in die dicke Geldtasche, die er wie eine Schürze um den Bauch trug. »Passt bloß auf, wenn Ihr über die Brücke geht. Die Gaslampen funktionieren noch nicht, und die Nacht ist dunkel mit all den Wolken. Beeilt Euch. Der Wind frischt auf, es gibt bestimmt ein Gewitter.«
Er tippte an den Schirm seiner Lederkappe und wies auf den Fußweg an der Ostseite der Brücke, der mit einem eisernen Drehkreuz abgesperrt war. Es klickte laut, als sie hindurchging.
Die Waterloo Bridge, eine Straßenbrücke mit neun Granit-bogen, war an diesem Tag offiziell eröffnet worden – es war der zweite Jahrestag der Schlacht, nach der sie benannt worden war –, mit einer Militärkavalkade und einer Prozession, an der auch der Prinzregent, der Bürgermeister, der Duke of York und der Duke of Wellington teilgenommen hatten. Auf der Brücke wehten Fahnen, und auf dem Fluss drängten sich Ausflugsboote und Barken. Schaulustige säumten die Ufer, Terrassen und Dächer, um die Zeremonie mitzuerleben. Es war das aufsehenerregendste Ereignis, das Caroline je erlebt hatte.
Die Ankunft des Prinzen auf der königlichen Barke wurde mit Kanonenschlägen begrüßt, die so laut hallten, dass Caroline sich die Ohren zuhalten musste. Und trotzdem schlug ihr das Herz bis zum Hals, weil sie dabei an Aubrey denken musste, der zwei Jahre zuvor von einer Eisenkugel zerschmettert worden war.
Sie stand zwischen brüllenden Fremden, hielt die Augen fest geschlossen und dachte an ihren geliebten Aubrey und ihr elendes Leben, seit sie ihn verloren hatte. Und in diesem Moment war ihr auf einmal klar, warum es sie gerade zu dieser Brücke gezogen hatte. Seltsame Wärme und Gelassenheit stiegen in ihr auf, als ob Aubrey sie in eine warme Decke hüllte und ihr zuflüsterte: »Heute Abend. Tu es heute Abend, Geliebte, dann bist du immer bei mir.« Noch nie hatte sie so ruhige Entschlossenheit verspürt.
Und sie war immer noch entschlossen, als sie in jener Nacht den Fußweg entlangging. Eine Hand glitt über das Geländer, damit sie in der Dunkelheit den Weg fand, mit der anderen hielt sie sich die Haube fest, damit der Wind sie ihr nicht vom Kopf wehte. Sie war dankbar dafür, dass die Laternen noch nicht leuchteten. So konnten sie die Männer in den Zollhäuschen nicht sehen. Es war so finster, dass sie nur schwach die Umrisse von Somerset House am nördlichen Ende der Brücke erkennen konnte, und dahinter die Kuppel von St. Paul’s. Den Blick fest auf das altehrwürdige Gotteshaus gerichtet, flüsterte sie: » Verzeih mir!«
Mit einiger Mühe erklomm sie die Balustrade und blieb einen Moment lang dort stehen. Ihre Röcke bauschten sich im Wind. Sie atmete den vertrauten moderigen Geruch des Flusses ein und hörte, wie das Wasser gegen die Stützblöcke aus Granit schlug – aber sehen konnte sie nichts, nur tiefe Dunkelheit.
Sie löste die Bänder ihrer Haube und ließ sie sich vom Wind aus der Hand reißen.
Ein heftiger Windstoß brachte sie ins Taumeln, und beinahe wäre sie hinuntergestürzt. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie sich bemühte, ihr Gleichgewicht wiederzufinden.
Wie ein Seiltänzer breitete Caroline die Arme aus und spähte hinunter in den schwarzen Abgrund. Ihre Entschlossenheit war plötzlich verschwunden, sie hatte nur noch schreckliche Angst. Sollte sie wirklich springen? Vielleicht …
Eine weitere Böe schob sie vorwärts, und sie rutschte mit den glatten Sohlen ihrer Schuhe aus. Gott, nein …
Sie ruderte wild mit den Armen, aber da schlug auch schon das kalte Wasser über ihr zusammen. Oh, Jesus! Verzeih mir! Verzeih mir, Gott!
Strampelnd versuchte sie, sich über Wasser zu halten, und griff blindlings in die Dunkelheit über sich. Bitte, bitte.
Ihre Lungen brannten, und dann prallte sie gegen etwas Hartes, das sie in Brust und Bauch stieß.
Eine barsche Männerstimme ertönte: »Packt zu! Haltet Euch fest!«
Mit beiden Händen griff Caroline zu – jemand hielt ihr ein Paddel hin. Ihre Finger glitten über das Blatt, bis sie sich schließlich um den Griff schlossen.
»Haltet fest!«, rief die Stimme.
Caroline spürte, wie jemand sie am Paddel hochzog. Sie keuchte und rang nach Luft, als sie an der Wasseroberfläche war, und während Hände nach ihr griffen und sie auf ein kleines Ruderboot hievten, spuckte und hustete sie. »Vorsichtig, Jack«, brummte jemand. »Wenn wir kentern, ertrinken wir alle.«
Es gelang ihnen jedoch, Caroline an Bord zu ziehen, ohne dass das Boot umschlug. Durchnässt und zitternd brach Caroline zusammen. Ihr ganzer Körper tat ihr weh, aber sie war unendlich dankbar für ihre Rettung.
»Danke«, ächzte sie. »O mein Gott, danke.«
Im Boot saßen zwei Männer, beide in dicke Arbeitskleidung gehüllt. Einer ruderte zum Nordufer, während der, der Jack hieß, Caroline half, sich aufzusetzen, und ihr die nassen Haare aus dem Gesicht strich. »Ihr wolltet Euch von unserer schönen neuen Brücke stürzen, was?«
Caroline ließ den Kopf in die Hände sinken und nickte.
»Wie kommt ein hübsches junges Mädchen denn auf so eine Idee?«
Müde schüttelte sie den Kopf.
»Selbstmord ist keine Antwort auf ein Leben in Sünde«, sagte er.
Sie blickte auf.
»Ihr seid nicht die Einzige, die sich in die Themse geworfen hat, weil sie das Leben nicht mehr ertragen konnte.« Bevor sie seine Vermutung korrigieren konnte, sagte er: »Ihr wisst, dass wir Euch einliefern müssen, oder?«
»Mich einliefern?«
»Ich und Hugh, wir sind bei der Flusspolizei. Als wir gesehen haben, dass ein Strohhut von der Brücke herunterflog, sind wir in diese Richtung gerudert und haben Euch schreien gehört, als Ihr gesprungen seid. Es gibt ein Gesetz gegen Selbstmord, wisst Ihr. Wenn man dabei erwischt wird, wird man bestraft.«
»Ich … ich wollte es eigentlich nicht.« Caroline konnte sich nicht erinnern, geschrien zu haben, aber ihre Kehle fühlte sich rau an. »Das heißt, ursprünglich wollte ich es schon, aber ich habe meine Meinung geändert.«
»Das tun die Leute meistens, wenn sie erst mal aufs Wasser aufschlagen«, sagte Jack. »Wo wohnt Ihr?«
»Ich habe kein Zuhause mehr. Ich habe nichts.«
»Na gut, dann bringen wir Euch zur Wache in der Newcastle Street, und morgen früh werdet Ihr dem Magistrat vorgeführt. «
Sie legten im Nordosten der Brücke an, und die beiden Wachmänner führten die nasse, zitternde Caroline die Treppe hinauf zur Wellington Street. Jack packte sie an einem Arm und Hugh am anderen, als ob sie glaubten, sie hätte noch genug Energie wegzulaufen. Sie gingen mit ihr den Strand entlang, an Somerset House vorbei, links in die Newcastle Street. Aus ihren nassen, wirren Haaren troff das Wasser, und ihre durchnässten Röcke schleiften schwer über den Boden.
An einem Gebäude vor ihnen lehnte ein großer Mann. Er setzte eine Taschenflasche an den Mund, seinen Hut hatte er unter den Arm geklemmt. Von irgendwoher ertönte das atemlose Lachen einer Frau.
»He, Ihr da!«, rief Jack. »Ihr dürft nicht einfach so auf der Straße trinken; es ist mir gleich, wie spät es schon ist.«
Lässig und ohne Eile stieß sich der Mann von der Hauswand ab und trat in den Schein einer Laterne. Er war vielleicht dreißig, mit leicht zerzausten dunklen Haaren und gut gekleidet, wenn man einmal davon absah, dass sein Hemdkragen offen stand und seine Krawatte nicht gebunden war.
»Lord Rexton. Ich bitte um Verzeihung, Euer Lordschaft«, sagte Jack und zog den Kopf ein. »Ich habe Euch nicht gleich erkannt.«
»Ich warte nur auf meinen Freund«, sagte Rexton mit tiefer Stimme. Seine Aussprache war schon nicht mehr ganz deutlich.
Die unsichtbare Frau lachte erneut und sagte: »Jetzt seht Euch mal diesen schönen, aufrechten Schwanz an. Steck ihn mir in die Möse. Tief hinein.«
»Heb deinen Arsch, Molly«, ertönte eine Männerstimme. »Braves Mädchen.« Er grunzte vor Anstrengung. »Ah, ja.«
Caroline und die beiden Wachmänner blickten in eine schmale Gasse, die die Newcastle mit der nächsten Straße verband. In der Mitte waren, kaum sichtbar, ein Mann und eine Frau zu erkennen. Eine schlampige Rothaarige stützte sich mit gespreizten Beinen mit einer Hand an einer Hauswand ab, während sie mit der anderen ihren hellgrünen Rock hochhielt. Ihr Mieder stand offen, und zwei gewaltige Brüste baumelten heraus. Der Mann trug zwar keinen Hut, war aber ansonsten genauso elegant gekleidet wie Rexton. Er hielt ihr fleischiges Hinterteil gepackt und stieß so heftig in sie hinein, dass ihre Brüste wackelten.
Caroline wandte den Blick ab, wobei sie merkte, dass Lord Rexton sie von Kopf bis Fuß musterte. Ihre wirren Haare und ihr schäbiges, durchnässtes Kleid quittierte er mit leisem Amüsement. »Ach, ihr habt wohl eine kleine Flussratte gefangen, Jungs, was?« Er nahm einen tiefen Schluck aus seiner Silberflasche. »Was hat sie gemacht? War sie betrunken und ist ins Wasser gefallen?«
»Hat versucht, sich zu ersäufen«, antwortete Jack.
Der Lord blickte Caroline in die Augen, und sein höhnisches Grinsen erlosch.
»Fester«, verlangte Molly. »Fick mich tief. Drück meine Titten. «
»Das ist schon die Vierundsechzigste, die dieses Jahr von der Brücke gesprungen ist«, sagte Jack, »aber die Erste, die wir lebend herausgefischt haben.«
»Was habt ihr mit ihr vor?«, fragte Seine Lordschaft.
»Sie verbringt die Nacht im Käfig«, erwiderte Jack, »und morgen früh kommt sie vor den Magistrat. Da sie sich umbringen wollte, sperrt er sie sicher ins Irrenhaus.«
»Was?« Caroline begann erneut zu zittern. Sie hatte angenommen, dass ihr dummer Selbstmordversuch ihr eine kurze Strafe im Arbeitshaus einbringen würde – zwar eine unangenehme Aussicht, aber damit konnte sie leben. Ein Irrenhaus war jedoch etwas anderes. Der Mann in der Gasse stöhnte immer lauter.
»Jawohl, Sir, so ist es richtig«, lobte ihn die Hure, als seine Stöße immer schneller wurden. »Tief und fest! Komm, lass mich spüren, wie du abspritzt. Na komm! Los!«
»Die meisten armen Irren werden ins Bethnal Green Asylum geschickt oder nach White’s, wenn in Bethnal kein Platz mehr frei ist.«
»Nein«, sagte Caroline, die über beide Irrenhäuser Geschichten gehört hatte, die sie zutiefst entsetzten und ängstigten. »Nein, bitte. Lasst mich gehen«, flehte sie und versuchte, sich loszureißen. »Es … es tut mir leid, dass ich von dieser Brücke gesprungen bin. Ich tue es auch nie wieder, ich schwöre es.«
»Wir werden Euch erst gar nicht die Möglichkeit dazu geben«, sagte Jack. »Komm, Hugh. Wir sollten sie in den Käfig bringen, bevor sie anfängt, zu kratzen und zu beißen. Ich habe immer noch Narben von der Hure, die wir letzte Woche aufgegriffen haben.«
»Ich wollte es doch gar nicht tun«, sagte Caroline verzweifelt und wehrte sich gegen den festen Griff der beiden Männer. »Ich kann doch nicht zum Irrenhaus verurteilt werden. Jemand muss mir doch die Chance geben zu beweisen, dass ich nicht verrückt bin. Es muss doch einen Anwalt geben, der Leuten in dieser Situation hilft. Wollt ihr nicht bitte …«
»Wartet!«, befahl Lord Rexton und trat auf sie zu. Er hatte seinen Flachmann in die Tasche gesteckt und seinen Hut wieder aufgesetzt. Er stellte sich vor Caroline, hob ihr Kinn und strich ihr die Haare aus dem Gesicht. Er klang ein wenig nüchterner, als er sagte: »Eine Flussratte, die des Königs Englisch spricht, ist selten. Wie heißt Ihr?«
Mit schwacher Stimme entgegnete Caroline: »Caroline Keating, Mylord.«
»Seid Ihr verwandt mit Reginald Keating, Baron of Welbury? «
»Er ist mein Onkel, der Bruder meines Vaters.«
»Und Euer Vater ist …?«
»Obediah Keating, Pfarrer der Gemeinde Welbury. Aber …«
»Ja?«
»Er hat mich enterbt.«
»Habt Ihr einen Ehemann?«
»Nein, Mylord.«
Er musterte ihr Gesicht, dann ließ er ihr Kinn los und sagte: »Nach den gegenwärtigen englischen Gesetzen, Miss Keating, gilt jeder, der einen Selbstmordversuch begeht, als non compos mentis – als geisteskrank. Ihr könnt tatsächlich in ein Irrenhaus gesperrt werden, weil Ihr von dieser Brücke gesprungen seid, und der Magistrat kann Euch dort ohne weitere rechtliche Maßnahmen hinschicken.«
»Seid Ihr ganz sicher?«
»Ob Ihr es glaubt oder nicht, ich bin Anwalt – der Ausbildung nach, wenn auch nicht aus Neigung.« Er zog eine Lederbörse aus seiner Jacke und sagte zu den Wachmännern: »Gentlemen, ich nehme an, Miss Keating hat ihre Lektion gelernt und wird in Zukunft kein Bad im Fluss mehr nehmen.«
»Wir können sie nicht einfach gehen lassen«, erwiderte Jack.
»Zu Eurem Glück bin ich bereit, sie zu übernehmen.« Er nahm zwei glänzende halbe Sovereigns aus der Börse und reichte sie den Wachmännern. »Für Eure Mühe.«
Sie blickten einander kurz an, dann ließen sie in schweigender Übereinkunft gleichzeitig Carolines Arme los.
»Miss Keating«, sagte Rexton, »wenn Ihr mit mir kommen wollt. Wenn ich mich richtig entsinne, gibt es Mietdroschken am Strand vor Somerset House.«
»Mylord«, erwiderte Caroline. »Ich … ich kann nicht mit Euch gehen. Ich kenne Euch ja noch nicht einmal.«
»David Childe, Viscount Rexton, zu Euren Diensten.« Er zog seinen Hut und verbeugte sich leicht spöttisch.
»Wohin wollt Ihr mich denn bringen?«, fragte sie. Es konnte durchaus möglich sein, dass er sie an einen arabischen Scheich verkaufte, schließlich hatte sie ihm selbst versichert, dass sie ganz allein dastand und niemand sie vermissen würde.
»Wir fahren zu mir nach Hause«, sagte er.
»Zu Euch nach Hause? Ich … ich kann nicht …«
»Entweder Ihr kommt mit, oder Ihr geht ins Irrenhaus, Miss Keating. Die Wahl steht Euch frei.«