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Grosvenor Square«, sagte Rexton zu dem Kutscher, als er Caroline in den Hackney geholfen hatte, der vor Somerset House wartete. »Ihr zittert wie Espenlaub, Miss Keating.«
»Mir ist kalt«, sagte sie und schlang die Arme um sich. »Meine Kleider sind völlig durchnässt.«
»Es hat also nichts mit mir zu tun?« Er setzte sich ihr gegenüber und legte den Hut neben sich, während die schäbige alte Droschke losrumpelte.
»Das scheint Euch zu enttäuschen, Mylord.«
»Ich bin nur skeptisch«, erwiderte er, überrascht und amüsiert zugleich über ihre kecke Antwort. Er schlüpfte aus seiner Jacke, unter der er eine elfenbeinfarbene Weste über einem Hemd mit bauschigen Ärmeln trug. »Beugt Euch vor.«
Als sie zögerte, zog er sie zu sich und legte ihr die Jacke um die Schultern.
Sie war riesig und roch nach sauberer feuchter Wolle und Tabak. In der Ferne grollte Donner.
»Danke«, sagte sie.
»Ich versuche nur, Euch vor einer Erkältung zu bewahren, Miss Keating. Ich möchte nicht, dass Ihr krank werdet, bevor wir Gelegenheit hatten, uns näher kennenzulernen.« Er legte eines seiner langen Beine auf den Platz neben ihr und musterte sie mit unverschämter Direktheit.
Ein Blitz erhellte sein Gesicht, aber seine Augen lagen tief im Schatten.
Caroline zog die Jacke fester um sich und blickte nach draußen. Die ersten Regentropfen klatschten ans Fenster der Droschke.
»Nur heute Abend«, sagte sie, ohne ihn anzusehen. »Ihr habt mich vor Bethnal Green bewahrt, und ich weiß nicht, wo ich sonst hinsoll. Ich bin keine Hure, obwohl ich verzweifelt genug wäre. Eine Nacht, nicht mehr.«
Er lächelte spöttisch. »Wenn Ihr eine Liebesnacht erwartet, muss ich Euch leider enttäuschen, Miss Keating. Da ich heute Abend so viel Brandy getrunken habe, werde ich dazu wohl nicht mehr in der Lage sein. Ich werde Euch meiner Haushälterin, Mrs. Allwright, anvertrauen. Sie wird für ein warmes Bad, trockene Kleidung und ein Schlafzimmer sorgen, das sich von innen verriegeln lässt. Morgen früh steht es Euch frei, Eurer Wege zu gehen und mich nie wiederzusehen, wenn Ihr das wollt.«
»Warum sollte ich es nicht wollen?«
Ängstlich wich sie zurück, als Rexton sich vorbeugte und die Hand unter die Jacke gleiten ließ. Er zog seine silberne Taschenflasche heraus und nahm den Deckel ab. Dann lehnte er sich zurück und nahm einen Schluck.
Er sagte: »Erwartet Ihr ein Kind, Miss Keating? Habt Ihr deshalb versucht, Selbstmord zu begehen?«
»Nein, Mylord.«
»Warum dann?«
»Ich glaube wirklich nicht, dass Euch das etwas …«
»Da ich von Euch nicht verlange, mit mir zu ficken, Miss Keating, meine ich doch, dass Ihr mir wenigstens etwas Unterhaltung gönnen solltet.«
Caroline starrte ihn fassungslos an. Sie hatte sich zwar in St. Giles an die grobe Sprache gewöhnt, aber sie hätte nie gedacht, solche Ausdrücke einmal aus dem Mund eines Aristokraten zu hören. Zu spät wurde ihr klar, dass ihr schockierter Gesichtsausdruck Lord Rexton freuen musste. Offensichtlich hatte er das Wort absichtlich gebraucht.
»Ist es, weil Ihr enterbt worden seid?«, fragte er.
Sie wandte den Kopf ab und biss die Zähne zusammen. »Nein.«
»Dann hat es zweifellos etwas mit dem Vergehen zu tun, das Euren Pfarrer-Vater dazu getrieben hat, Euch zu verstoßen. Ihr habt Euren Ruf ruiniert, nehme ich an.«
»Ja.«
»Verführt und verlassen?«
»Nein, es war nicht … wir haben uns geliebt. Wir waren verheiratet, aber nur heimlich.«
»Euer Vater hat die Verbindung nicht gebilligt?«
»Aubrey war katholisch.«
»War?«
»Er war Captain in der Royal Horse Guards. Sie wurden nach Waterloo geschickt, und dort ist er gefallen.«
Rextons spöttischer Gesichtsausdruck verschwand. Er blickte weg und trank noch einen Schluck Brandy. »Das ist heute zwei Jahre her. Ich muss sagen, eine düstere Art, das Jubiläum zu begehen.«
Sie ignorierte seine Bemerkung.
»Und Papa würde Euch nicht wieder in den Schoß der Familie aufnehmen?«, fragte er.
»Als ich mit Aubrey nach London gegangen bin, hat er mir klargemacht, dass ich für ihn gestorben sei. Meinen Onkel und meine Tante hat er auch gegen mich eingenommen.«
»Und Eure Mutter war damit einverstanden?«
»Sie ist kurz nach meiner Geburt an Kindbettfieber gestorben. «
»Und habt Ihr sonst keine Familie?«
»Ich habe zwei ältere Brüder, aber sie sind beide zur East India Company gegangen, als sie alt genug dazu waren. Sie sind irgendwo auf der anderen Seite der Welt. Ich habe sie seit Jahren nicht gesehen, und ich bezweifle, dass sie zu Lebzeiten jemals wieder nach London zurückkehren werden. Dann müssten sie ja meinem Vater begegnen.«
»Ihr lebt also seit damals allein in London? Wie habt Ihr Euch denn erhalten?«
»Ab und zu habe ich einen kleinen Auftrag bekommen – Stickereien und so etwas. Aber es ist kein festes Einkommen. Ich war nie besonders begabt in Handarbeiten. Deshalb werde ich immer als Letzte gefragt, und es wird äußerst schlecht bezahlt. Ich wollte immer gerne Mädchen unterrichten, deshalb habe ich zuerst versucht, Arbeit als Gouvernante oder Hauslehrerin zu bekommen, aber niemand wollte mich haben. Die Leute haben mir die Tür vor der Nase zugeschlagen. Es war peinlich – und auch verwirrend. Später habe ich herausgefunden, dass mein Vater allen Leuten, die er in London kannte, erzählt hat, ich würde ein Leben in Sünde führen. Sie haben wahrscheinlich geglaubt, ich … ich würde meine Gunst verkaufen. «
»Habt Ihr das nie in Erwägung gezogen?«
»Soll das ein Scherz sein, Lord Rexton?«
»Nicht auf der Straße, meine ich, aber vielleicht ein Platz in einem der besseren Häuser? Oder vielleicht ein Gentleman-Freund? «
»Niemals. Lieber würde ich sterben.«
»Ja, nun, mir scheint, diese Option habt Ihr bereits ausgeschöpft, wenn auch mit begrenztem Erfolg«, schnarrte Rexton.
»Es war die letzte Option, die ich zur Verfügung hatte«, erwiderte sie. »Sie hätte alle meine Probleme auf ewig gelöst, aber selbst damit bin ich gescheitert. Und jetzt weiß ich nicht mehr so recht, was ich noch tun soll, weil ich jedes Mittel schon ausprobiert habe.«
»Nun.« Der Viscount lächelte. »Nicht jedes.«
Am nächsten Morgen stand Caroline vor Mrs. Milledges Herberge und versuchte, Mut zu fassen, um hineinzugehen und ihr altes Bett wieder zu verlangen. Beim Eintreten in das baufällige Gebäude würde sie über Reenie Fowls hinwegtreten müssen, die zusammengesunken auf der Vordertreppe lag, eine leere Gin-Flasche neben sich. Ihr Rock, der voller Schlamm war vom Gewitter in der vergangenen Nacht, war über ihre gespreizten Schenkel hochgerutscht. Caroline fragte sich, wie viele Männer wohl in der Nacht ihre Lust an ihr befriedigt hatten, ohne dass sie es gemerkt hatte.
»Eine Sex-Sklavin?«, hatte Caroline gerufen, als Rexton ihr den schrecklichen Vorschlag unterbreitet hatte. »Seid Ihr wahnsinnig? Oder haltet Ihr mich für verrückt?«
»Nein«, hatte er erwidert, »eigentlich erscheint Ihr mir erfrischend gesund und logisch und ganz schön gewitzt für die entehrte Tochter eines Pfarrers, die man gerade aus der Themse gefischt hat. Ihr seid natürlich viel zu sehr den Konventionen verhaftet, um auf mein Angebot mit etwas anderem als rechtschaffenem Zorn zu reagieren. Andererseits aber seid Ihr viel zu clever, um im hintersten Winkel Eures hübschen Köpfchens nicht doch zu begreifen, dass dies Eure Chance auf ein anständiges Leben sein kann.«
»Anständig? Es wundert mich, dass Ihr dieses Wort überhaupt kennt.«
»Es wäre ja schließlich nur eine Woche – sieben Tage, die Euer Leben verändern könnten – sieben Tage, die Euer Leben zweifellos verändern werden.«
»Das ist … das ist widerlich«, hatte sie gestammelt. » Und so demütigend.«
»Noch schlimmer als die Alternative?«, hatte er gefragt.
Die Alternative – die Hälfte eines flohverseuchten Bettes – konnte sie sich jetzt wenigstens leisten. Als sie an diesem Morgen in einem Gästezimmer von Lord Rextons majestätischem Stadthaus am Grosvenor Square aufgewacht war, hatte sie ein neues grünes Seidenkleid, Haube, Handschuhe und Schuhe vorgefunden, sowie ein Retikül, in dem sich eine doppelte Guinee und eine Besuchskarte für Sir Charles Upcott von Burnham, Childe and Upcott, mit einer Adresse an der Regent Street, befanden. »Geht zu Sir Charles wegen des Themas, über das wir in der Nacht gesprochen haben«, hatte Rexton auf die Rückseite der Karte gekritzelt. Caroline fand es ziemlich anmaßend, wenn sie bedachte, dass sie seinen Vorschlag rundheraus abgelehnt hatte.
Caroline hatte Mrs. Allwright um ihr altes Kleid gebeten, aber die Haushälterin hatte erwidert, es sei auf Geheiß Seiner Lordschaft, der noch schliefe, verbrannt worden. Auch das Geld wollte sie nicht zurücknehmen. Sie sagte zu Caroline, ihr Arbeitgeber würde ihr die Hölle heißmachen, wenn sie sie ohne Geld wegschickte.
Es war ein angenehmer Schock gewesen, in dem großen Federbett mit den nach Lavendel duftenden Laken und einer seidenen Steppdecke aufzuwachen. Schon sehr lange hatte Caroline kein Bett mehr für sich alleine gehabt, und in so einer luxuriösen Umgebung hatte sie noch nie in ihrem Leben geschlafen. Wie eine Königin hatte sie mit Speck, Scones und Eiern im Glas gefrühstückt. Zum ersten Mal seit zwei Jahren hatte sie sich richtig satt gegessen.
»Carrie? Bist du das?«
Als sie sich umdrehte, sah sie Bram Hugget auf sich zukommen. Er trug seinen Besen über der Schulter, an seinen Stiefeln klebten Schlamm und Pferdeäpfel.
»Na, sieh dir das an! Wie aufgeputzt du bist! Ich habe gehört, dass du Mrs. Milledge gesagt hast, du würdest nicht wiederkommen. Und jetzt bist du wieder da. Hat dein neuer Liebster dich schon nach einer Nacht wieder vor die Tür gesetzt?«
»Ich habe keinen Liebsten. Das weißt du doch.«
»Es gibt nur zwei Methoden für ein mittelloses Mädchen wie dich, an solche Sachen heranzukommen.« Er strich mit der Hand über das Spitzen-Fichu um ihre Schultern. »Auf dem Rücken oder auf den Knien.« Er packte mit seiner schmutzstarrenden Hand nach ihrer Brust und drückte sie.
Sie stieß ihn weg. »Nimm deine schmutzigen Hände von mir.«
»Ach, jetzt bist du dir wohl zu gut für mich, was?« Er schob sie an die Hauswand und drückte ihr den Besenstiel an den Hals, damit sie sich nicht mehr bewegen konnte. Dann griff er ihr grob zwischen die Beine. »Gestern Abend warst du dir nicht zu schade«, zischte er höhnisch. Caroline wehrte sich und schlug nach ihm.
Ein paar junge Kerle kamen vorbei, blickten zu ihnen herüber, grinsten und gingen weiter.
»Ich hätte meinen Halfpenny behalten sollen«, sagte er und presste seine Erektion an sie. »Ich hätte dich auf alle viere stoßen und dich ficken sollen, du kleines Luder.«
Sie schlug mit den Fäusten um sich, aber Bram ignorierte die Schläge, bis ihn einer auf dem Nasenrücken traf. »Verdammte kleine Hexe!« Er presste den Besen fester an ihre Kehle. »Flittchen ! Hure! So magst du es doch, oder?« Er hob ihre Röcke und sagte: »Ich wette, du bist tropfnass. Wollen wir doch mal zwei Finger hineinstecken und nachsehen.«
Finger, dachte Caroline, als seine große, schmutzige Hand über ihren Oberschenkel glitt. »Zwei Finger, einen in jedes Auge«, hatte Aubrey ihr beigebracht. »So fest du kannst. Wenn jemand versucht, dich zu vergewaltigen, bleibt keine Zeit für Empfindlichkeiten.«
Sie hob die Hand und stieß Bram Hugget mit aller Kraft zwei Finger direkt in die Augen. Er brüllte auf und taumelte zurück, wobei er den Besen fallen ließ. »Verdammte Scheiße!« Er presste die Hände an die Augen.
Caroline raffte die Röcke und floh zur Charing Cross Road, während er hinter ihr wütete und tobte.
»Verdammtes Luder! Du hast mich geblendet, du blöde Nutte. Ich bringe dich um, wenn ich dich jemals wiedersehe.«
Dann kann ich nur hoffen, dass du tatsächlich blind bist, dachte Caroline. Sie winkte einer Droschke, die die Straße entlangrumpelte. Als der Kutscher herauskletterte, um ihr den Schlag zu öffnen, lehnte sie schwer atmend an einem Laternenpfahl.
»Wohin, Miss?«, fragte der Mann und half ihr in den Hackney.
»Regent Street«, erwiderte sie völlig außer Atem.