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Später Nachmittag, August dieses Jahres

 

 

Willkommen im Château des Freaks.

Ich fuhr mit meinem kleinen, gemieteten blauen Renault vor das Torhaus und ließ die Scheibe herunter, als der Wachmann über die Zugbrücke auf mich zutrat.

Das Schloss der Freaks: So hatte ich Grotte Cachée getauft, nachdem ich dort drei Wochen Weihnachtsferien verbracht hatte, damit Mom mit Doug nach Hawaii fahren konnte. Es war mein erster und letzter Besuch: Alle weiteren Einladungen Dads hatte ich ausgeschlagen. Den wahren Grund hatte ich ihm nicht erzählt, weil er mir zu peinlich war. Er glaubte zunächst, ich hätte das Château und die ständigen Gäste zu anstrengend gefunden. Aber dann bekam er von irgendwoher einen Hinweis und lud mich zehn Jahre lang nicht mehr ein.

Bis gestern.

Der Wachmann, ein muskulöser Silberrücken in schwarzem Polohemd und schwarzer Hose, sagte: »Bonjour, Mademoiselle. Haben Sie sich verirrt?« Das war seit Jahrzehnten, vielleicht sogar seit Jahrhunderten die Standardbegrüßung für unbekannte Besucher.

Ich zog die kleine, goldumrandete Eintrittskarte aus meiner Jeanstasche, nahm sie aus dem Umschlag und reichte sie ihm. »Sie erkennen mich nicht mehr, Luc, oder? Hilft Ihnen das weiter?« Ich nahm meinen Strohhut ab und fuhr mir durch die modisch kurz geschnittenen Haare, die noch genauso weizenblond waren wie bei meiner Geburt.

»Mon dieu! Mademoiselle Archer! Entschuldigung! Aber es ist auch lange her.«

»Neunzehn Jahre«, erwiderte ich und steckte die Karte wieder ein. »Mein Vater hat mich gebeten zu kommen. Er ist hoffentlich zu Hause.«

»Aber natürlich«, erwiderte er und öffnete mir die Wagentür. »Würde er Sie einladen, wenn er nicht da wäre?«

»Ich, äh, ich bin früher gekommen, als er erwartet hat.«

»Sieh zu, dass du Anfang September hier sein kannst«, hatte Dad bei unserem gestrigen Telefongespräch gesagt. Hatte ich es mir eingebildet, oder hatte sein aristokratischer britischer Akzent tatsächlich besonders träge geklungen?

»Aber das ist erst in drei oder vier Wochen, Dad«, hatte ich geantwortet. »Ich mache mir solche Sorgen um dich. Seit deinem letzten Besuch in New York ist fast ein Jahr vergangen, und für gewöhnlich besuchst du mich mindestens alle zwei Monate.«

»Wir haben in den nächsten Wochen viele Gäste. Es wäre wirklich das Beste, du wartest bis September.«

»Eigentlich ist dieses Wochenende perfekt für mich. Ich treffe mich am Montagmorgen mit Kunden, für die ich einen Katalog mit Badebekleidung entwerfe, in London. Heute ist Freitag. Ich könnte morgen nach Aulnat fliegen, Samstag und Sonntag mit dir verbringen und Sonntagabend nach London zurückfliegen.«

»Du möchtest bestimmt lieber nicht hier sein, wenn wir Gäste haben. Dann habe ich doch gar keine Zeit für dich. Warte bis nächsten Monat.«

Luc sagte mir, mein Vater sei wahrscheinlich in der Bibliothek. Er würde meinen Wagen in die Garage fahren und mein Gepäck aufs Zimmer bringen lassen.

Die kaugummikauende Blondine, die vor der offenen Tür zur Bibliothek stand, trug ein langes Kleid, das vage an edwardianische Mode erinnerte, wenn man einmal von dem tiefen Ausschnitt absah, der operierte Brüste von enormen Ausmaßen enthüllte. Ihr Gesicht war dick geschminkt, ihre langen, welligen Haare hochgesteckt: eine Mischung aus Brigitte Bardot und Edith Wharton.

»Entschuldigung, haben Sie Emmett Arch…«, begann ich.

»Schscht!!« Sie hielt einen Finger an die Lippen und flüsterte mit Brooklyner Akzent: »Sie drehen gerade.«

Ich blickte durch die Tür in die Bibliothek, und mir klappte der Unterkiefer herunter. Drei Personen trieben es auf dem Tisch, in der Mitte des riesigen, hohen Raums. Um den Tisch herum waren gleißend helle Scheinwerfer aufgebaut, und zwei Männer mit Digitalkameras auf den Schultern standen davor. Eine Frau, eine Rothaarige, lag mit gespreizten Beinen und Armen auf dem Tisch, während ein Typ, der auf ihr lag, in sie hineinstieß und dabei die Muschi einer dunkelhaarigen Frau leckte, die vor ihm kniete. Sie war die Einzige, die wenigstens halbwegs bekleidet war, mit einem Satin-Mieder, Strümpfen, Stilettos und langen Handschuhen, alles in Schwarz. Sie schlug dem Mann mit einer Reitgerte auf den Hintern und schrie: »Fester! Schneller! Streng dich an!«

Lili? Ich hatte sie zuerst nicht wiedererkannt, weil sie so stark geschminkt war, aber diese samtige, exotisch klingende Stimme war unverkennbar.

»Bist du der Fluffer?« Die Blondine blickte mich fragend an und produzierte eine dicke rosa Kaugummiblase.

»Fluffer?«

Sie ließ die Blase zerplatzen und pumpte mit der Faust vor ihrem Mund hin und her, in der universellen Blow-Job-Geste. »Das Mädchen, das die Jungs auf die Szene vorbereitet. Aber du bist es wahrscheinlich nicht.«

»Ich bin nur Gast hier.«

Die Blondine streckte ihre Hand aus. »Ich bin Juicy Fisher.«

»Isabel Archer.« Ich schüttelte ihr die Hand, wobei ich überlegte, ob ich Desinfektionsmittel eingepackt hatte. Sie fragte mich nicht, ob ich nach der Figur von Henry James benannt war, aber es hätte mich auch gewundert.

»Schnitt!«, brüllte ein Mann in der Bibliothek. »Emmeline! Das war dein Stichwort! Wo zum Teufel bleibst du?«

Die Blondine zischte: »Scheiße!« Sie nahm ihren Kaugummi aus dem Mund und klebte ihn an den Türrahmen. »Entschuldigung, Larry! Mein Fehler!«

»Macht noch mal von ›Fick das Luder. Ramm sie‹«, sagte der Mann.

Ein Mädchen mit einem halben Dutzend Piercings im Gesicht hielt die Klappe an eine der Kameras und sagte: »Szene zwei, Einstellung zwei, die Siebte.«

»Action!«, rief Larry.

»Fick das Luder! Ramm sie!«, sagte Lili.

Juicy öffnete einen Sonnenschirm und schlenderte in die Bibliothek.

»Archie!«, schrie sie. »Was machst du da?«

»Emmeline!«, sagte der Typ. »Ich habe dich nicht erwartet.«

»Das sehe ich. Du Schuft! Du herzloser Betrüger!«

»Mir scheint, dein Archie war sehr ungezogen«, sagte Lili. »Ungezogene Jungen müssen bestraft werden.«

»Ja, gerne.« Juicy trat an den Tisch und nahm Lili die Peitsche aus der Hand. Dann jedoch zögerte sie und fragte: »Entschuldigung, Larry, aber wo stehe ich noch mal?«

»Schnitt!«

Ich trat näher, um einen Blick auf Larry zu werfen, der neben einem Laptop auf der Kante eines Schreibtischs saß. Er war in den Dreißigern und sah mit seiner Schildpattbrille eher wie ein Lehrer aus und nicht wie ein Pornoregisseur.

In einer Ecke hinter ihm saßen Elic und Inigo, flüsterten und kicherten miteinander. Inigo, der ein Betty-Boop-T-Shirt, weite gestreifte Shorts, orangefarbene Converse All Stars und eine Sonnenbrille trug, schraubte gerade den Deckel von einer Flasche Tequila. Elic, in einem verblichenen schwarzen T-Shirt, mit Jeans und bloßen Füßen, wirkte immer noch wie ein goldener Gott. Wie Lili sahen auch die beiden nicht einen Tag älter aus als vor neunzehn Jahren. Irgendwas musste im Wasser von Grotte Cachée sein.

Aus den Augenwinkeln bemerkte ich eine Bewegung oben. Mein Dad beugte sich über das Geländer der Galerie und winkte mir, ich solle zu ihm nach oben kommen.

Als ich die Treppe im SüdostTurm hinaufstieg, ging mir durch den Kopf, wie seltsam es war, dass mein kultivierter Vater den Dreharbeiten zu einem Porno zuschaute. Noch seltsamer war, dass er sie selbst arrangiert hatte. Als administrateur von Adrien Morel, Seigneur des Ombres, dem sechsunddreißigjährigen Herrn von Grotte Cachée, geschah alles im Château letztlich auf Veranlassung meines Vaters. Er hatte Bekanntschaften auf der ganzen Welt, und auf seinen zahlreichen Reisen lud er Leute, die er als »vielversprechend« empfand, ins Schloss ein. Was er darunter verstand, hatte er mir nie erklärt, aber ich wusste, dass es etwas mit Elic, Lili und Inigo zu tun hatte – ach ja, und auch mit dem zurückhaltenden Darius, dem ich während meines dreiwöchigen Aufenthalts nur einmal flüchtig begegnet war.

Mein Vater nannte sie »die Follets«, und ich nahm an, das sei ihr Nachname. Sie waren wohl irgendwie mit Adrien verwandt, allerdings waren Elic und Lili anscheinend untereinander nur sehr entfernte Verwandte, da sie offensichtlich ein Liebespaar waren. Mir kamen sie vor wie die Freak-Familie Robinson, da sie in ihrem kleinen, abgelegenen Tal nach ihren eigenen Regeln lebten und spielten. Ich hatte sie schon damals exzentrisch, geheimnisvoll und verwöhnt gefunden, weil sie scheinbar mühelos alles bekamen, was sie wollten.

Sie arbeiteten nicht, und sie schienen sich für nichts zu interessieren außer für ihr Vergnügen. Wenn ich Dad fragte, was mit ihnen los sei, sagte er nur, er würde alle meine Fragen beantworten, wenn ich einwilligen würde, ihm als administrateur zu folgen – das wäre dann schon die neunte Generation von Archers in dieser Position. Der erste war Lord Henry Archer gewesen, der zweite Sohn des Marquess of Heddonshaw, der den Posten von 1742 bis zu seinem Tod im Jahr 1801 innegehabt hatte. Meine Reaktion darauf war immer die gleiche gewesen: »Ja, klar, ich ziehe in ein entlegenes französisches Château, um einen Haufen reicher, verwöhnter Irrer zu hüten … wenn es in der Hölle schneit.«

In jenen Weihnachtsferien hatte Dad mich gewarnt, nicht zu viel Zeit mit den Freaks zu verbringen und vor allem nicht ins Badehaus oder in die Höhle zu gehen. Als ich zwei Wochen da war, hörte ich, wie er zu Inigo sagte: »In einer Woche ist sie wieder weg, es kommen amüsante neue Gäste, und du kannst nach Herzenslust deine ›heroischen Dimensionen trainieren‹, wie du es formulierst. In der Zwischenzeit wäre ich dir sehr dankbar, wenn du aufhören würdest, ständig darüber zu jammern, wie verdammt geil du bist. Vor allem nicht in Isabels Gegenwart. Meinst du, du schaffst das?« Was diese kleine Rede abgesehen vom Gebrauch der Wörter »verdammt« und »geil« so denkwürdig machte, war sein gereizter Tonfall, zumal er normalerweise sowohl mit den Freaks als auch mit Adrien fast ehrerbietig sprach. Inigo jedenfalls war so überrascht, dass er in Lachen ausbrach und sagte: »Gut gemacht, Arch!«

Ich war mittlerweile an der Tür im zweiten Stock angekommen, die auf die Galerie führte. Links von mir erstreckten sich Reihen um Reihen von Bücherregalen, nur unterbrochen von hohen Fenstern, durch die das weiche Licht der Nachmittagssonne drang. Rechts von mir war ein langer schmaler Raum, in dem vereinzelt Sesselgruppen auf Perserteppichen standen. In einem dieser Sessel saß mein Vater.

Dad lächelte mich ein wenig vorwurfsvoll an, als wolle er sagen: »Was machst du denn hier?« Auf seinen Wangen lag ein rosa Schimmer; offensichtlich war es ihm peinlich, dass ich die Szene unten mitbekommen hatte. Er packte das Geländer und erhob sich, als ich näher kam. Sein früher einmal dunkles Haar war grau geworden, seitdem ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, und sein maßgeschneiderter Savile-Row-Anzug saß nicht so makellos wie sonst. Er war erst dreiundsechzig, aber er wirkte gut zehn Jahre älter.

»Hey, Dad, hast du kürzlich ein paar gute Pornos gesehen?« Ich küsste meinen Vater auf beide Wangen, was das Äußerste an Körperkontakt zwischen uns war. Er war immer schon ein bisschen distanziert gewesen.

»Was hast du mit deinen Haaren gemacht?«, fragte er.

»Es hat zweihundert Dollar gekostet, also sag besser nichts.«

»Schön, dich zu sehen«, sagte er ernst, »aber mir wäre lieber gewesen, du hättest gewartet.«

»Hallo, Isabel.« Die Stimme war tief, leise und hatte einen französischen Akzent.

Das Herz schlug mir auf einmal bis zum Hals. Ich drehte mich um und sah Adrien Morel, den Grund dafür, dass ich neunzehn Jahre lang nicht mehr in Grotte Cachée gewesen war.