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Du bist eine verlobte Frau, um Himmels willen«, schrie Lord Hardwyck, während er die Treppe hinauf auf Emmeline zukam. Die Hände hatte er zu Fäusten geballt, und Spuckebläschen flogen. »Wie kannst du es wagen, wie eine gemeine Straßenhure mit diesem Zigeuner zu verkehren?«
»Er stammt aus Atlantis!«, gab sie wütend zurück. Mit verschränkten Armen und hoch erhobenem Kopf stand sie oben im Flur. » Und ich habe nicht mit ihm verkehrt. Ich habe ihn gefickt. Ich habe ihn gefickt, Archie. Und ich habe es geliebt!«
»Hure!«, zischte er sie an. Sein Gesicht war puterrot, seine Augen wild vor Wut. »Metze!«
»Weil ich keine Angst habe, mein Verlangen zu befriedigen? Was dem Ganter geziemt, ziemt auch der Gans, meine ich.«
»Du hast mich zum Narren gehalten!«, grollte Archie. Er schlang seine Hände um Emmelines Hals und drückte zu. »Dafür wirst du bezahlen, du kleines Luder. Ich bin Archibald Dickings, Baron of Hardwyck und der zukünftige Earl of Upswinge. Und wer bist du? Du bist niemand. Ein Nichts.«
Beinahe bewusstlos hörte Emmeline Tobias von unten rufen: »Emmeline? Liebling, bist du das?«
»Der Zigeuner.« Archie wandte sich mit wutverzerrtem Gesicht der Stimme seines Rivalen zu. Dabei taumelte er nach hinten, verlor das Gleichgewicht und krachte schreiend die steinerne Treppe herunter. Tobias drückte sich an die Wand, als er an ihm vorbeipolterte.
Er zuckte zusammen, als Archie schließlich auf dem harten Steinboden aufprallte. »Sieh nicht hin, meine Liebe«, sagte er und hielt Emmeline auf, als sie die Treppe herunterlaufen wollte. »Es muss erst alles aufgewischt werden.«
»Ist er …?«
Tobias blickte auf das, was von Archie übrig geblieben war und nickte. Er seufzte und fragte: »Warum hält mich eigentlich jeder für einen Zigeuner?«
Steamboat Springs, Colorado
14. Februar 1922
Mein geliebter Rémy,
frohen Valentinstag, mon lapin, oder ich sollte wohl besser sagen, frohen Valentinstag nachträglich, weil Du den Brief erst in einigen Tagen lesen wirst.
Nun, heute ist ein glücklicher Tag für mich. Weißt Du, warum ? Dr. Horney schneidet mir den Gipsverband ab. Ich weiß, es ist ein schreckliches Klischee, aber ich schwebe wie auf Wolken.
Dieser Brief wird kürzer als sonst, weil Kitty und ich mit Nils’ Hilfe packen werden. Er hat sich übrigens endlich dazu durchgerungen, das Mädchen aus der Kirche anzusprechen. Sein neu erwachter Mut hat wahrscheinlich etwas damit zu tun, dass er seine Jungfräulichkeit verloren hat. Morgen fahren wir mit der Eisenbahn nach New York. Erster Stopp: Cunard. Sobald ich die Überfahrt gebucht habe, schicke ich Dir ein Telegramm, damit Du weißt, auf welchem Schiff ich bin und wann ich ankomme. Aber denk daran: Du solltest mich nicht abholen, wenn Du nicht in aller Öffentlichkeit Unzucht begehen willst, denn ich habe es ernst gemeint, als ich sagte, ich würde Dich sofort anspringen, wenn ich Dich sehe.
Es gibt so vieles in Deinem letzten Brief, auf das ich antworten müsste. Zuerst: die Fellatio in der Landauer-Szene. Du bist ja ein ganz Cleverer mit Deiner Frage, warum ich in meinem Roman aus zwei Männern einen Mann und eine Frau gemacht habe, wenn ich es so spießig von Dir finde, wie Du darauf reagiert hast. Das liegt an all den schlüpfrigen Romanen, die ich in Grotte Cachée gelesen habe. Es kamen zwar viele Stellen mit zwei Frauen vor, aber nur sehr wenige mit zwei Männern. Und da ich wollte, dass Emmelines Emanzipation veröffentlicht wird, wollte ich männliche Leser nicht abschrecken. Du hast also recht: Ich wusste ganz genau, warum Du so auf die Szene reagiert hast, und es war hinterhältig von mir, Dich herauszufordern – ich entschuldige mich.
Entschuldigung Nummer zwei: Es tut mir leid, dass ich den Abspann am Ende meiner kleinen Schloss-Erzählung habe laufen lassen, »ohne den letzten Akt zum Abschluss gebracht zu haben« – ich rede schon wie ein echter Filmemacher!
Die Idee, Emmelines Emanzipation zu schreiben, kam mir erst, als Tante Pembridge und ich bereits auf dem Weg nach New York waren. Wie Du Dir sicher schon gedacht hast, schenkte Inigo mir zum Abschied den Renoir mit den Papageientulpen. Es fiel uns schwerer, uns zu trennen, als ich gedacht hatte – auch ihm, glaube ich.
Um Deine Frage zu beantworten, nein, ich bin nie nach Grotte Cachée zurückgekehrt, und nein, ich glaube nicht, dass es ein verzauberter Ort war, an dem sexuelle Dämonen lebten – obwohl ich es wiederum auch nicht ganz von der Hand weisen würde. Was mir dort passiert ist, war wie einer dieser seltsamen und schönen Träume, aus denen man mit dem Gefühl erwacht, die Welt sei besser, klarer und vollkommener als am Abend zuvor. Einen solchen Traum kann man nicht noch einmal erleben. Man kann ihn nur in Erinnerung behalten und sein Leben weiterleben.
Auf jeden Fall hängte ich das Gemälde in meine Kabine, wo es mich auf der Überfahrt ständig an Grotte Cachée und alles, was dort passiert war, erinnerte. Ich dachte daran, meine Erlebnisse niederzuschreiben, und dann dachte ich: Warum soll ich sie eigentlich nicht in einen Roman verwandeln? Das konnte natürlich nur eine bestimmte Art von Roman sein, und ich würde ihn unter Pseudonym veröffentlichen müssen, aber warum nicht? Schlimmer als Pornografie unter dem Namen »Walter« konnte es auch nicht werden. Außerdem fand ich, dass ein solches Buch vom Standpunkt einer Frau aus vielleicht mal ganz witzig war. Wie Du weißt, habe ich mit Anfängen so meine Probleme, aber als ich erst einmal in Fahrt gekommen war, lief es wie von selbst. Als wir New York erreichten, war das Buch schon halb fertig.
Und jetzt zum Schluss noch rasch über unsere offene Beziehung: Es ist schön zu wissen, dass Du mit niemand anderem geschlafen hast – danke, dass Du es mir gesagt hast –, aber ich bin keineswegs so leicht zu manipulieren, wie Du zu denken scheinst. Wenn Du sagst, Du würdest jetzt wahrscheinlich anfangen, mit anderen Frauen zu schlafen, seitdem Du wüsstest, wie ernst es mir mit der freien Liebe wäre, und dass »Monogamie außerhalb der Ehe ziemlich bedeutungslos sei«, dann versuchst Du doch nur, mir Angst einzujagen, damit ich Dich doch noch heirate. Aber die Aussicht, dass Du mit anderen Frauen schläfst, macht mir keine Angst. Ich fürchte mich eher davor, in eine Ehe eingesperrt zu sein, die meine Freiheit einschränkt und meine Seele erstickt. Natürlich bist Du nicht Hickley, das musst Du mir nicht sagen. Aber Du kannst doch verstehen, dass ein solcher Mann eine Frau ein für alle Mal von der Institution Ehe abhalten kann, oder?
Aber wir sollten über dieses Thema unbedingt persönlich sprechen, chéri. In weniger als zwei Wochen bin ich zu Hause. Vielleicht kannst Du ja in der Zwischenzeit einfach Abstand von Deinem Entschluss nehmen, mit anderen Frauen zu schlafen, bis wir zu einer gemeinsamen Geisteshaltung gekommen sind. Ich will Dir nicht vorschreiben, was Du tun oder lassen sollst, ich glaube nur, dass unser Gespräch produktiver wäre, wenn erst einmal alles beim Alten bliebe. Und wozu auch die Hast? Schließlich bist Du mir bis jetzt treu geblieben. Ich hasse das Wort »treu« in diesem Zusammenhang, weil es impliziert, dass Monogamie theologisch korrekt ist, aber Du weißt schon, wie ich es meine.
Ich muss jetzt los. Nils will in die Stadt aufbrechen, und er soll diesen Brief für mich aufgeben.
Bis wir einander wiedersehen – juhu!
Je t’aime
Em
Aus der New York Times:
EMILY TOWNSEND BINET IN INDOCHINA GETÖTET
Berühmte Schriftstellerin und
Reporterin
stirbt bei Rebellenangriff auf Dien Bien Phu
The Associated Press
HANOI, Vietnam, 15. März 1954 – Die mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnete Schriftstellerin und Kriegskorrespondentin Emily Townsend Binet geriet gestern auf dem französischen Außenposten in Dien Bien Phu unter Artillerie-Beschuss und war auf der Stelle tot.
Sie war 76 Jahre alt.
Mrs. Binet sollte für Le Monde, CBS News und diese Zeitung über das Vorrücken der kommunistischen Vietminh nach Laos berichten. Um den Vormarsch aufzuhalten, hatten die Franzosen letzten November den Luftwaffenstützpunkt Dien Bien Phu errichtet.
Gestern am späten Nachmittag, nach zweitägigen sporadischen Angriffen durch Artillerie und Mörser, griffen die Vietminh verstärkt an und beschossen den Außenposten mit schweren Geschützen, die sie in den bewaldeten Hügeln der Umgebung postiert hatten. Bei diesem Angriff wurde Mrs. Binet getötet.
Colonel Christian de Castries, der die Fremdenlegionäre von Dien Bien Phu kommandiert, beschreibt Mrs. Binet, die im Feld Hosen trug, als »brillant und charmant«, mit »großem Sinn für Humor, der sie bei den Männern besonders beliebt machte«.
Die amerikanische Individualistin, die seit über einem halben Jahrhundert in Paris lebte, war bekannt für ihre Romane, die besonders wegen ihrer psychologischen Einsichten und subtilen Darstellung der Sitten und Gebräuche der Oberschicht geschätzt werden. Ihr berühmtester Roman ist Dünne Luft, für den sie 1949 den Pulitzerpreis verliehen bekam.
Es war ihr zweiter Pulitzerpreis, den ersten hatte sie zehn Jahre zuvor für ihre Berichte über den spanischen Bürgerkrieg bekommen, den sie als Ambulanzfahrerin bei der Abraham-Lincoln-Brigade erlebte. Ihre ersten Kriegsberichte wurden im Ersten Weltkrieg veröffentlicht, wo sie verwundete Männer in einem französischen Krankenhaus an der Front pflegte. Sie berichtete auch über den Zweiten Weltkrieg, in dem sie die Résistance unterstützte. Zwischen den Kriegen veröffentlichte sie neben ihren Romanen zahlreiche Artikel über ihre Erlebnisse in der ganzen Welt.
Mrs. Binet wird betrauert von ihrem Ehemann, mit dem sie 32 Jahre lang verheiratet war, dem französischen Filmregisseur Rémy Binet, ihren Stiefkindern Jules Binet und Inès Langelier, beide wohnhaft in Paris, fünf Stief-Enkelkindern und ihrer Nichte, Kitty Cavanaugh aus Boston, Massachusetts, und Arlington, Virginia.
Mrs. Binet lebte mit ihrem Mann in einem Stadthaus im Marais in Paris. Als gestern Abend die Nachricht von ihrem Tod die von ihr so geliebte Stadt erreichte, brachten die Pariser, die ihre Liebe erwiderten, Blumen, Briefe und Kerzen zu ihrem Haus.
Heute Morgen kam zu diesen Zeichen der Zuneigung ein wahrer Berg vielfarbiger Papageientulpen hinzu, die mit einem grob gerippten roten Band zusammengebunden waren. Allerdings war keine Karte dabei, sodass man nicht weiß, von wem sie stammen.