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Ich habe gestern Abend Emmelines Emanzipation gelesen«, sagte ich am nächsten Morgen zu meinem Vater, als wir bei Tee und Scones an einem kleinen Tisch auf dem Balkon seiner Wohnung hoch über dem zentralen Hof des Schlosses saßen.
»Ach ja? Und wie findest du es?«
»Es ist ein bisschen überholt.«
Er hob seine Tasse und pustete in seinen Tee. »Es wurde vor über hundert Jahren geschrieben, aber ich finde, es hat trotzdem seine amüsanten Momente.«
»Absicht war das aber nicht. Der Film scheint sich nicht sehr eng an das Buch zu halten. Als Emmeline im Buch Archie mit diesen beiden Frauen überrascht, macht sie sich ja fast in die Hose.«
»Isabel, kannst du nicht einfach sagen: ›Sie regt sich auf‹?«
»Ja, meinetwegen, sie regt sich auf. Und zwar so sehr, dass sie auf der Stelle ohnmächtig wird. Das passiert doch ständig. Sie ist eine absolut naive, erschreckte Jungfrau, als Tobias sie unter seine, äh, gigantischen Fittiche nimmt, und erst am Schluss wird sie die herrische Mistress Emmeline.«
»Was willst du damit sagen?«
»Als ich gestern die Szene in der Bibliothek gesehen habe, da ist mir aufgefallen, dass sie ungefähr zwei Minuten gebraucht hat von ihrem ersten ›Archie, du Schuft!‹ bis zu diesem heißen Feger. Was soll das?«
Ihr Vater zuckte mit den Schultern. »Larry hat das Drehbuch nach dem Roman geschrieben. Ich habe ihm freie Hand gelassen, solange die Follets die Rollen spielen dürfen, die sie sich ausgesucht haben.«
»Wenn man vom Teufel spricht.« Ich nickte zum Hof hinunter. Larry Parent, seine Crew und ein paar Schauspieler in Bademänteln – unter ihnen Elic, Inigo und Lili – waren auf dem Weg zum Brunnen in der Mitte des Hofs.
»Ich glaube, das ist die vorletzte Szene im Drehbuch«, sagte mein Vater. »Heute Nachmittag wollen sie die Höhlenszene drehen, und dann sind sie fertig.«
»Im Buch gibt es keine Höhlenszene.«
»Ich habe sie vor ein paar Tagen vorgeschlagen. Etwa einen Kilometer vom Eingang entfernt gibt es ein wunderbares Kristallbecken, und ich habe Larry gesagt, dass das ein großartiges Setting für eine Szene zwischen Emmeline und Tobias wäre. Orangensaft?«, fragte er und hob einen kleinen Glaskrug an.
Ich nickte und hielt ihm mein Glas hin.
Heraus damit, sagte ich mir. Es war nur eine Notlüge, und wenn er dadurch länger und zufriedener leben konnte, schadete sie ja niemandem. »Mein Lungenfacharzt hat gesagt, je weniger Stress ich habe, desto länger lebe ich.«
»Äh, Dad, ich habe nachgedacht über unser Gespräch gestern, dass ich dir als administrateur nachfolgen soll, äh …«
Er beugte sich vor. »Ja?«
»Ich, äh …« Ich konnte ihm nicht in die Augen sehen und blickte angestrengt auf mein Glas Orangensaft. »Ich mache es.«
»Oh, Isabel.« Er ergriff meine Hand und drückte sie. Eine solche Geste hatte ich bei ihm noch nie erlebt. »Du kannst dir nicht vorstellen, was das für mich bedeutet. Es hat so schwer auf mir gelastet, daran zu denken, dass jemand anderer als ein Archer nach all diesen Jahren hier als administrateur dient. Und ich hatte keine Ahnung, wo ich Ersatz hernehmen sollte, wenn du ablehnen würdest.«
»Ich weiß, Dad. Du kannst dich jetzt entspannen.«
»Ich muss dir so viel erzählen, dich in so vieles einführen. Du wirst wahrscheinlich genauso ungläubig wie ich reagieren, als ich damals zum ersten Mal von der Geschichte dieses Ortes hörte und wie die Follets hierherkamen – und warum Adrien Morel und seine Vorfahren sie seit mehr als zweitausend Jahren beschützen.«
Ich legte den Kopf schräg. »Zweitau…?«
»Action!«
Ich blickte in den Hof hinunter. Im Brunnen fand vor laufender Kamera eine Orgie statt. Die Rothaarige aus der Bibliotheksszene stand über den Rand des Beckens gebeugt und ließ sich von Elic von hinten nehmen. Dabei küsste er Lili, die neben ihm kniete und ebenfalls von einem anderen Typ von hinten gestoßen wurde. Inigo stand am Fuß der Statue und saugte an einer Flasche Tequila, während »Fanny« an ihm saugte. Dabei fickte sie der Typ, der Archie spielte, in den Arsch.
»Eigentlich muss es in dieser Szene regnen«, sagte ich.
»Das Wetter hat nicht mitgespielt«, erwiderte Dad und erhob sich, »deshalb hat Larry beschlossen, er kann auch ohne Regen leben. Er will einfach nur fertig werden. Komm mit. Ich will dir etwas zeigen.«
»Meinst du nicht, du solltest erst klopfen?«, fragte ich, als Dad, der von dem kurzen Spaziergang erschöpft war, mit einem der zahllosen Schlüssel an seinem Schlüsselring die Tür zu Adriens Arbeitszimmer im Torturm aufschloss.
»Er kommt erst heute Abend aus Lyon zurück«, antwortete er rasselnd. »Er trifft sich wegen irgendwelcher Renovierungsarbeiten mit einem Architekten. Und außerdem habe ich freien Zugang zu seinem Arbeitszimmer – ich allein.« Er öffnete die Tür und fügte hinzu: »Kein anderer Zivilist als der administrateur darf diesen Raum betreten.«
» Zivilist?«
»Diejenigen ohne die Gabe.«
»Äh …«
Er schob mich hinein und sagte: »Du darfst auch nur herein, weil du meine Erbin bist.«
Oh, Mann. »Dad, ich weiß wirklich nicht, ob ich …« Ich schaute mich um und stieß aus: »Wow!«
Es war ein großer Raum mit Fenstern an allen vier Seiten. Durch die Fenster an der Südwand sah ich die Straße, die auf das Torhaus zuführte, die Fenster nach Norden blickten auf den Hof. Die Mauern waren unverputzt, was dem Raum eine mittelalterliche Aura verlieh, auch wenn man die Steine vor lauter Gemälden, Zeichnungen, Fotografien und Wandbehängen kaum sehen konnte.
Er hatte sogar die Bleistiftzeichnung aufgehängt, die ich ihm damals zu Weihnachten geschenkt hatte. Sie war unter Glas in einem prachtvollen Blattgoldrahmen, das muss man sich mal vorstellen!
Es gab Regale und Schränke, ein verschlissenes Ledersofa und zwei lange Arbeitstische, die im rechten Winkel zueinander in der Nordostecke standen. Auf einem Tisch standen ein Computer sowie ein Laptop, ein Drucker, ein Kopierer, ein übergroßer Scanner und ein eher esoterisches Gerät, das ich als Bindemaschine erkannte, mit der man qualitativ hochwertige Taschenbücher produzieren konnte. Diagonal in der Ecke zwischen den beiden Tischen befand sich ein automatischer Papierschneider. Auf dem anderen Tisch lagen zahlreiche alt aussehende Manuskripte und Pergamentrollen, ein Stapel von Büchern – der Titel des obersten Buches lautete Das Äquivalenz-Prinzip in der Vortex-Theorie von Materie – und ein paar Notizbücher mit Spiralheftung. Auf dem Umschlag des obersten stand mit schwarzem Filzstift:
ÉTÉ 14 A. D.
L’ARRIVÉE D’INIGO
BÂTIMENT DU BAIN PUBLIC
LA MORT DE L’AUGUSTUS
»Sommer, Anno Domini 14«, murmelte ich. »Inigos Ankunft, Bau des Badehauses, der Tod des Augustus.« Ich trat näher an den Tisch, um das Notizbuch darunter anzuschauen. Auf dem zweiten stand: 1500 – 1600, DOMENICO VITTURI/COUR-TISANES; auf dem dritten: 18TH C., HELLFIRE CLUB; und auf dem vierten, das am auffälligsten war: VISITATIONS PAR DES VAMPIRES.
Am östlichen Ende des Raums befand sich ein massiver Walnussschreibtisch, der übersät war mit Büchern und Papieren. An der gegenüberliegenden Wand stand eine Vitrine, die einen uralten Spazierstock aus einem knorrigen Eichenast und einen schweren goldenen Halsring enthielt, der so aussah, als gehörte er eher in ein Museum.
Mein Vater lehnte sich an den Schreibtisch und sagte: »Das hat Brantigern, dem Protek…« Der Rest des Satzes ging in einem heftigen Hustenanfall unter. Als er vorbei war, wirkte er benommen.
»Dad, ist alles in Ordnung?«
Er nickte. »Mir ist nur ein wenig schwindlig. Das geht vorbei. «
Ich half ihm zur Couch, damit er sich setzen konnte. »Hier.« Er reichte mir den Schlüsselring, zeigte auf den Bücherschrank mit den Glastüren und sagte: »Hol den ersten Band heraus.«
Auf den Büchern, die als Broschuren gebunden waren, stand VOLUME I, VOLUME II, VOLUME III und so weiter.
Mein Vater sagte: »Die Bücher im zweiten Regal sind meine englischen Übersetzungen, falls du sie lieber nicht auf Französisch lesen möchtest.«
Ich zog den ersten Band auf Englisch heraus und schloss den Bücherschrank wieder ab.
»Adriens Vorfahren waren schon vor Christus hier in diesem Tal Häuptlinge und spirituelle Anführer«, erklärte mein Vater. »Als die Römer Gallien besetzten, blieb ein junger Druide namens Brantigern mit einer kleinen Gruppe seiner Stammesgenossen hier, um Darius zu schützen.«
»Der Eremit?«
»Er hat hier seit über zweitausend Jahren gelebt«, sagte mein Vater. »Er ist ein Dschinn.«
»Äh, wie in Bezaubernde Jeannie?«
Er warf mir einen tadelnden Blick zu und erwiderte: »Nein. Nicht wie in Bezaubernde Jeannie. Er stammt aus einer uralten, verehrungswürdigen Rasse, wie auch Elic, Lili und Inigo, die später hier ankamen. Elic ist ein nordischer Elf und aufgrund genetischer Mutation auch ein Dusios, was bedeutet, dass er sequenziell hermaphroditisch ist.«
»Ein Hermaphrodit? Ich habe ihn doch bei den Dreharbeiten gesehen, und seine Geschlechtsteile kamen mir ziemlich männlich vor – und auch sehr funktionsfähig, möchte ich hinzufügen. «
»Der entscheidende Begriff hierbei ist ›sequenziell‹, was bedeutet, dass er wie bestimmte Tiere die Fähigkeit hat, zu Reproduktionszwecken sein Geschlecht zu ändern. Lili war die Göttin des Neumondes im alten Babylon, aber die meiste Zeit galt sie als Hexe oder Sukkubus. Und Inigo ist ein Satyr.«
»Okay, aber hat ein Satyr nicht Fell an den Schenkeln und Hufe und Hörner? Und einen Schwanz?«
»Den Schwanz hat er sich chirurgisch entfernen lassen, seine Hörner sind sehr klein, und wenn du ganz frühe griechische Darstellungen von Satyrn betrachtest, wirst du feststellen, dass sie normale menschliche Beine haben.«
»Ja, gut, das erklärt vieles.«
»Die meisten Leute halten Follets für sexuelle Dämonen, Incubi und Succubi – jedenfalls früher, als man noch an solche Kreaturen glaubte –, weil ihre körperlichen Bedürfnisse so verzehrend sind. Bei Darius allerdings nicht so sehr, es sei denn, er berührt zufällig einen Menschen und absorbiert dessen fleischliche Gelüste – er hat sein eigenes Kreuz zu tragen. Deshalb nimmt er in Gegenwart von Menschen für gewöhnlich die Gestalt einer grauen Katze an. Manchmal verwandelt er sich auch in eine Blaumerle, aber für gewöhnlich ist er eine Katze.«
»Oh. Dann ist er also so etwas wie ein Gestaltwandler?«
»Für die alten, präislamischen Semiten waren die Dschinn tatsächlich Gestaltwandler. Wie gesagt, er meidet die Menschen, aber die anderen brauchen sexuelle Begegnungen, je intensiver, desto besser. Ohne könnten sie nicht auskommen, das wäre, als wenn sie nichts zu essen oder zu trinken bekämen, und ihr Hunger ist kaum gestillt, da kehrt er auch schon wieder, sodass sie sich in einem ständigen Fieberrausch der Lust befinden.«
Hatte mein reservierter, züchtiger Vater gerade gesagt: »Fieberrausch der Lust«? Glaubte er etwa tatsächlich an dieses ganze Gerede von geschlechtsverwandelnden Elfen und Satyrn? Redete ich wirklich mit ihm über dieses Thema?
»Wenn sie ständig so geil sind, warum können sie dann nicht einfach …« Ich deutete eine reibende Bewegung an meinem Schritt an, das universelle Masturbationssymbol.
»Inigo findet so Erleichterung, aber Lili oder Elic nicht. Elics Physiologie macht ihn sowieso besonders verwundbar. Er würde mit Sicherheit sterben, wenn er für längere Zeit keine menschlichen Frauen hätte. Es müssen Menschen sein – mit Follets kann er sich nicht paaren. Inigo und Lili würden wahrscheinlich wahnsinnig werden, wenn sie gezwungen wären, sehr lange keusch zu leben. Deshalb ist es unsere Pflicht als administrateur , den Follets regelmäßig fleischliche Nahrung zu beschaffen. Das bedeutet hauptsächlich, Gäste ins Schloss zu holen, mit denen sie sexuell verkehren können.«
»Also den Zuhälter für sie zu spielen?«
Mein Vater bedachte mich mit einem frostigen Blick, aus dem ich schließen konnte, dass meine Bemerkung ihn wirklich wütend gemacht hatte. »Deine Wortwahl ist eine Beleidigung für mich und die Follets, die zu behüten eine heilige Berufung ist. Um richtig für sie sorgen zu können, musst du sie dir als Götter und Göttinnen vorstellen, die sich von sexueller Energie, einer natürlichen und schönen Lebenskraft, nähren.«
»Es tut mir leid, Daddy, ich wollte dich nicht beleidigen.« Götter und Göttinnen … Offensichtlich verlor er den Verstand. Das lag bestimmt an der Krankheit. Sein Gehirn bekam nicht genug Sauerstoff …
Milder gestimmt sagte er: »Ich weiß, dass man sich an die Vorstellung lebendiger Götter erst gewöhnen muss, weil heutzutage ja sowieso niemand mehr glaubt. Für mich sind die Follets ähnlich wie Prinzen und Prinzessinnen einer untergegangenen Monarchie. Sie haben zwar keinen offiziellen königlichen Status mehr, aber trotzdem fließt blaues Blut in ihren Adern.«
»Dad, äh …« Ich schüttelte verwirrt den Kopf. »Hast du mit Adrien über all das gesprochen?«
Er lächelte. »Was glaubst du, von wem ich das alles weiß? Als Adriens Eltern und mein Vater ums Leben kamen und ich den Posten als administrateur übernahm, wusste ich nur sehr wenig über die Follets oder den Stammbaum der Morels. Aber Adrien wusste alles. Er hatte es von seinem Vater und aus den schriftlichen Überlieferungen der früheren gardiens erfahren. Zurzeit ist er gerade dabei, die einzelnen Schriftstücke zu einem Gesamtwerk zusammenzufassen, der Histoire Secrète de Grotte Cachée.«
»Das hier?«, fragte ich und zeigte auf das Buch in meiner Hand.
»Wenn er fertig ist, werden es viele Bände sein, und das ist der erste. Aber Adrien hat nicht nur alles über die Geschichte dieses Ortes gelernt, er hatte spezielle Tutoren, die ihn auf seine priesterliche Berufung vorbereitet haben. Sie haben ihm dabei geholfen, seine Gabe zu erkennen und zu entwickeln.«
»Was für eine Gabe?«
»Eigentlich ist es ein ganzes Bündel außersinnlicher Fähigkeiten, die er von seinen Druiden-Vorfahren geerbt hat.«
»Außersinnlich? Wie bei Wahrsagern?«
»Er kann zwar keine Gedanken lesen, aber er kann die Aura von Menschen deutlich erkennen. Seine Träume vermitteln ihm außergewöhnliche Einsichten, und er beherrscht gewisse Zaubersprüche – in alter gallischer Mundart –, mit denen er, in Ermangelung eines besseren Wortes, zaubern kann. In alter Zeit hätte man ihn einen Seher genannt und ihn als Priester angesehen, deshalb bezeichnet er sich selbst und Menschen mit ähnlichen Gaben als Druiden und Druidinnen.«
»Wie Mom?« Ich verdrehte die Augen.
»Deine Mutter ist eine Druidin.«
Mir verschlug es die Sprache.
»Sie ist mit der Gabe geboren«, sagte er. »Das ist bei manchen Menschen so, für gewöhnlich, weil beide Eltern die Gabe besitzen, es ist nämlich ein rezessives Gen. Wenn nur ein Elternteil die Gabe hat, ist die Wahrscheinlichkeit gering, dass sie sich auf die Nachkommen überträgt. Bei deiner Mutter war auf jeden Fall das Problem, dass sie nie richtig ausgebildet worden ist wie Adrien. Sie kann mit ihren Gaben nicht umgehen, und sie sind mangelhaft entwickelt, aber sie spürt, dass sie da sind. Bei den meisten Menschen ist das nicht so, weil unsere Kultur zu arrogant und skeptisch ist, um anzuerkennen, dass manche Dinge über das Sichtbare hinausgehen. Im Allgemeinen kann bei dieser ablehnenden Einstellung selbst ein außergewöhnlich begabter Druide, der darauf trainiert ist, Auren zu lesen, sie nicht als Gleichgesinnte erkennen. Deshalb hat sich deine Mutter auch so auf diesen ganzen Hokuspokus mit Tarot-Karten und Kristallkugeln eingelassen.«
»Ach ja, das ist also Hokuspokus, aber dein Gerede von Satyrn, Elfen und Dschinn …«
Erneut bekam er einen Hustenanfall, dann lehnte er sich erschöpft zurück. »Lies das Buch, Isabel. Darin steht alles, was du wissen musst.«