11

Noch ein Tag, dachte Caroline und setzte sich in der stockdunklen Scheune auf einen Strohballen. Wenn sie noch vierundzwanzig Stunden durchhielt, konnte sie ein neues Leben anfangen.

Rexton hatte ihre Leine um die Leiter geschlungen, die zum Heuboden führte. Die Leine hing nur lose am Halsband, und er hatte ihr auch die Hände nicht gefesselt. Wenn sie wollte, konnte sie sich mit Leichtigkeit selbst befreien, aber wozu sollte das gut sein? Wenn man sie erwischte, wie sie alleine und ohne Fesseln herumspazierte, würde man sie nur mit leeren Händen nach Hause schicken. Und die Leine verursachte ihr ja kein wirkliches Unbehagen. Sie war so lang, dass sie sich bewegen und ins Stroh legen konnte – falls sie überhaupt einschlafen konnte.

Die Pferde in dem Stall mit den vierzehn Boxen, die durch den breiten, gepflasterten Mittelgang getrennt wurden, hatten sich unruhig bewegt, als Rexton sie hierhergebracht hatte. Manche waren immer noch wach – sie konnte hören, wie sie Heu kauten und ab und zu schnaubten –, aber die meisten waren wohl wieder eingeschlafen.

Der Stallgeruch war eine unangenehme Erinnerung an Nemeton. Die Wut, die sie danach für ihn empfunden hatte, hatte ein wenig nachgelassen, als Narcissa ihr seine Geschichte erzählt hatte. Jetzt jedoch war sie erneut aufgeflammt, nachdem er sie wie einen Hund hier angebunden hatte, nur weil sie freundlich zu ihm gewesen war.

Aber eigentlich konnte sie ihm dankbar dafür sein. Sein Verhalten ihr gegenüber zeigte nur zu deutlich, wie sehr er sie verachtete. Sie wusste doch, wie wenig er für sie empfand, und sie würde kein zweites Mal Schwäche ihm gegenüber zeigen.

Licht drang durch die Ritzen der Doppeltür am Ende des Gangs. Vielleicht hatte Lord Rexton sich ja doch eines Besseren besonnen.

Es spielt keine Rolle, sagte sie sich. Er hat es nicht verdient, dass du ihm gegenüber weich wirst. Du tust nur dir selbst weh.

Knarrend öffnete sich die Tür. Lord Dunhurst trat ein, eine Laterne in der einen und seinen Spazierstock in der anderen Hand. Caroline sprang auf.

Der bullige Marquess lächelte kalt, als er näher kam. »Ihr seht ganz anders aus ohne die Farbe im Gesicht«, sagte er. »Jünger. Man könnte beinahe glauben, Ihr wärt tatsächlich das reine, süße Mädchen, das Ihr vorgebt zu sein, und nicht die Hure, die Ihr in Wirklichkeit seid, wie wir beide wissen.«

»Ihr geht am besten, bevor Lord Rexton wiederkommt«, sagte sie so gleichmütig, wie es ihr möglich war. »Er ist nur gegangen, um … ein paar Decken zu holen. Er kommt gleich …«

»Es überrascht mich nicht, dass Ihr lügt.« Er stellte die Laterne auf den Boden und begann, den Elfenbeingriff seines Spazierstocks abzudrehen. »Ich muss jedoch sagen, ich hätte erwartet, dass jemand wie Ihr ein wenig geübter darin ist.«

»Es … es stimmt«, erwiderte sie. Mit zitternden Fingern bemühte sie sich, ihre Leine vom Halsband zu lösen.

»Lügnerin!« Er zog aus seinem Spazierstock einen dicken schwarzen Knüppel und schlug damit auf ihre Arme.

Sie schrie vor Schmerzen auf. Immer wieder schlug er auf sie ein, und Caroline brach auf dem Stroh zusammen und hielt sich schützend die Arme über den Kopf. Ihre Rippen schmerzten unerträglich. Die Pferde waren jetzt alle wach, schnaubten und wieherten und traten gegen die Türen ihrer Boxen.

Schließlich legte er den Knüppel beiseite, um ihre Leine von der Leiter zu lösen. Sie sah, dass er aus schwarzem Kautschuk bestand. Das war die Waffe, die er bei Dahlia benutzt hatte, und sie hatten sie in seinem Zimmer nicht finden können, weil sie die ganze Zeit in seinem Spazierstock gesteckt hatte.

»Das könnt Ihr nicht tun«, sagte sie, als er sie an der Leine auf die Füße zerrte. »Ich trage nicht das schwarze Herz. Wenn Rexton herausfindet, dass Ihr …«

»Das wird er nicht.« Dunhurst drehte sich um und griff nach einem der Werkzeuge, die an der Stallwand hingen – ein großes Heumesser.

Caroline packte die Hand, die ihre Leine hielt, und biss hinein, so fest sie konnte. Er brüllte vor Schmerz auf und ließ die Leine fallen.

Caroline rannte zur Hintertür des Stalls, die nur wenige Meter entfernt war, aber er riss sie an der Schulter herum, drängte sie gegen die Wand und hielt ihr das Messer an den Hals.

»Wenn Rexton morgen früh wiederkommt, werdet Ihr nicht mehr da sein«, sagte Dunhurst. »Er wird nach Euch suchen, aber man wird Euch nirgends finden. Er wird annehmen, dass Ihr weggelaufen seid – alle werden das glauben. Sie werden nach Hause fahren und nie erfahren, dass Ihr in Wirklichkeit hiergeblieben seid, vergraben in den Wäldern, wo Euch nie …«

Sie trat ihn mit aller Wucht mit dem Knie zwischen die Beine, so fest, wie Aubrey es ihr beigebracht hatte. Er krümmte sich vor Schmerzen, aber als sie wegrennen wollte, stach er mit dem Messer zu.

Caroline taumelte und blickte in dumpfem Schock auf das Messer, das aus der linken Seite ihres Bauches ragte. Als sie sich zur Tür wandte, packte er ihre Haare. Mit letzter Kraft zog sie das Messer heraus, und ein Blutstrahl drang aus der Wunde.

Dunhurst zerrte sie herum, aber sie holte blindlings mit dem Messer aus. Er wich heulend zurück und schlug die Hände vor sein blutüberströmtes Gesicht.

Eine Hand auf die blutende Wunde gepresst, in der anderen das Messer, lief Caroline aus dem Stall einen Weg entlang, der in den dunklen Wald hineinführte.

»Du kleines Luder!«, schrie Dunhurst hinter ihr her. »Du verdammte dreckige Fotze!«

So schnell sie konnte, stolperte sie ins Dickicht, aber er war ihr dicht auf den Fersen. Voller Panik lief sie in die Richtung eines plätschernden Bachs und watete kurz entschlossen hindurch, da sie annahm, dass Dunhurst sich wohl kaum die Schuhe nass machen wollte. Mit schmerzverzerrtem Gesicht hockte sie sich schließlich hinter einen dicken Baum. Sie hörte, wie er sich fluchend und drohend in die entgegengesetzte Richtung entfernte.

Eine Weile war es still, dann schrie er von Weitem: »Du kommst nicht weit mit diesem Loch im Bauch. Du wirst nie wieder aus diesem Wald herauskommen. Und in ein paar Stunden, wenn die Sonne aufgegangen ist, komme ich zurück. Dann finde ich dich und werde dich tief vergraben.«

Caroline wartete noch eine Weile, dann stand sie mühsam und unter Schmerzen auf. Sie musste zum Schloss zurück, bevor sie verblutete, aber sie war so benommen und desorientiert, dass sie nur ziellos umherirrte. Immer wieder stürzte sie über Steine und Wurzeln, stand auf und taumelte weiter. Als es dämmerte, ging sie in Richtung der aufgehenden Sonne, weil sie dachte, das Château müsse im Osten liegen, aber der Wald wurde nur noch dichter.

Schwer atmend lehnte sie sich an einen Baum. Das Messer musste sie irgendwo fallen gelassen haben, es war jedenfalls nicht mehr in ihrer Hand. Sie blickte sich um. Die Bäume schwankten auf sie zu, und sie fiel hin. Hart schlug ihr Kopf auf dem Boden auf.

Steh auf, dachte sie erschöpft. Steh auf. Aber ihr Körper war so schwer, und der Boden unter ihr fühlte sich seltsam weich an, wie eine Federmatratze. Ihr Herz hämmerte, und ihr war kalt.

Caroline blickte an ihrem Hemd herunter, das dunkel vor Blut war.

Nicht so, dachte sie. Bitte, Gott, nicht so.

 

 

Darius streifte durch den Wald. Langsam wurde es heller, und gelegentlich blieb er stehen, um den Geruch von Blut – von Menschenblut – zu erschnüffeln, der in der Luft hing. Schließlich wurde der Geruch überwältigend, und vor sich sah er etwas Weißes im federigen Meer der Farne.

Es war eine Frau, die, die sie Rose nannten und die am Tag zuvor am Nemeton an die große Eiche gefesselt gewesen war. Sie lag mit angezogenen Knien auf der Seite, die Augen geschlossen und die Arme um sich geschlungen. Ihre Haut war so blass wie ihr Leinenhemd. Aus einer Wunde an ihrer linken Seite sickerte immer noch Blut. Ihr linker Arm und ihre Schulter waren mit blauen Flecken übersät. Ihre Beine und zum Teil auch ihre Arme waren zerkratzt, und sie atmete nur noch schwach. Wenn man bedachte, wie viel Blut sie verloren hatte, war es ein Wunder, dass sie überhaupt noch am Leben war.

Lange würde sie es nicht mehr durchhalten. Wenn die Blutung gestoppt werden konnte, hatte sie eine Chance, aber von alleine würde sie nicht aufhören.

Für Darius, der mit der Macht verflucht war, Leben aus den Klauen des Todes zu reißen, gab es in einer solchen Situation nie eine richtige Entscheidung. Wenn er diese Frau heilte, würde er den natürlichen Lauf der Dinge verändern, was unvorhergesehene Konsequenzen haben könnte. Seine persönliche Sorge galt der Möglichkeit, dass seine »Gabe« entdeckt und er wieder bedrängt werden würde von all denen, die um einen geliebten Kranken bangten. Das hatte er schon erlebt, und es hatte ihn buchstäblich zu einem Sklaven gemacht, der gefangen war in einem Alptraum aus Schmerz und Siechtum, denn jede Heilung kostete ihn Kraft; je schlimmer die Krankheit, desto erschöpfter blieb er zurück. Um dieser höllischen Existenz zu entgehen, hatte er sein Heimatland verlassen und war um die halbe Welt gereist, dorthin, wo man Dschinn nicht kannte und er in Ruhe und Frieden leben konnte. Selbst die anderen Follets hier in Grotte Cachée hatten keine Ahnung, dass Darius Krankheiten und Wunden heilen konnte. Er hatte auf die bittere Art gelernt, dass er niemandem, Mensch oder Follet, trauen konnte.

Wenn er die Blutung dieser Frau stillen würde, würde er viel riskieren. Andererseits hatte die Erfahrung ihn gelehrt, dass er von seinen Schuldgefühlen überwältigt werden würde, wenn er gar nichts täte – einfach nur wegginge und sie sterben ließe.

Darius schaute sich in alle Richtungen um, um sich zu vergewissern, dass er wirklich allein war. Sorgsam schnüffelte er, ob er vielleicht noch einen anderen menschlichen Geruch wahrnehmen würde. Nichts.

Er miaute. Rose rührte sich nicht. Er trat ganz nahe an ihren Kopf und maunzte laut. Ihre Augenlider flatterten kurz, aber dann lag sie wieder ganz still.

Er hockte sich hin, hielt den Atem an und verwandelte sich in eine menschliche Gestalt. Die Transformation trat sofort und so abrupt wie immer ein. Er hielt die Augen geschlossen und stützte sich mit den Händen auf dem Boden ab, bis der Schwindel nachließ, was nur ein paar Sekunden dauerte. Dann atmete er tief durch, öffnete die Augen und blickte auf die scharfen, leuchtenden Farben um ihn herum.

Sanft drehte er Rose auf den Rücken und streichelte ihr kühles, wächsernes Gesicht. Er spürte eine Leere, die ihm sagte, dass sie von seiner Anwesenheit tatsächlich nichts mitbekam. Er führte die Hände direkt über ihrem Körper nach unten. Dabei fühlte er, dass zwei Rippen gebrochen waren. Aber das konnte er erst später behandeln, wenn er mit der tiefen Wunde fertig war – falls er dann noch die Kraft dazu hatte.

Die Wunde an ihrer Seite, die von einem Messer verursacht worden war, hatte die Milz getroffen, deshalb blutete sie auch so stark.

Darius schloss die Augen, konzentrierte all seine Energie auf die zerstörten Gefäße in dem kleinen Organ und versiegelte sie. Dabei wurden seine Hände ganz heiß und bebten. Dann fügte er das innere Gewebe wieder zusammen und arbeitete sich von innen bis zur obersten Hautschicht hinauf. Sie würde eine etwa sieben Zentimeter lange Narbe zurückbehalten, aber sie würde in der nächsten Woche verblassen und schließlich nicht mehr zu sehen sein. Der Blutverlust würde sie natürlich eine Zeit lang schwächen, aber sie würde überleben.

Er nahm sich noch die Zeit, ihre Rippen zusammenzufügen, dann sank er zitternd und völlig verausgabt zu Boden.

 

 

Rexton stand im Pferdestall und starrte verwirrt auf die Stelle, wo er Caroline angebunden hatte. Sie war weg, und es gab kein Zeichen dafür, dass sie jemals dort gewesen war. Nur das Stroh war aus irgendeinem Grund auf dem Boden verstreut.

Er ergriff einen Rechen und schob das Stroh zurück, aber ein Teil blieb am Steinboden hängen. Als er sich hinhockte und den Boden berührte, stellte er fest, dass er nass war. In einer Ecke stand ein Holzeimer mit einem feuchten Putzlumpen.

Wo zum Teufel war sie? Warum hatte sie den Boden aufgewischt ? Wenn er nur letzte Nacht nicht so betrunken gewesen wäre. Sein Kopf fühlte sich an, als sei er zwischen zwei riesigen Händen zerquetscht worden, und er konnte keinen klaren Gedanken fassen.

Als er sich erhob, fiel sein Blick auf eine graue Katze, die am Tor stand und ihn beobachtete. Er hatte sie schon häufiger hier gesehen; Inigo nannte sie Darius. Die Katze schnüffelte an einem Blatt, das auf dem Weg lag, der vom Stall wegführte.

»Na, du weißt ja wahrscheinlich nicht, was aus ihr geworden ist«, murmelte Rexton und wandte sich zum Gehen. Plötzlich schoss ihm das Tier so vor die Füße, dass er beinahe darüber gestolpert wäre. Blöde Katzen. Ständig waren sie einem im Weg.

Sie hatte etwas im Maul – das Blatt. Jetzt ließ sie es fallen und miaute.

Rexton hatte schon erlebt, dass Katzen einem Menschen, den sie lieben, Mäuse oder Vögel als Tribut bringen, aber dass sie es auch mit Pflanzen oder Blättern machten, war ihm noch nicht untergekommen. Das Blatt schien von einer Platane oder einem Ahorn zu stammen. Es war hellgrün, mit einem roten Fleck am Stiel. Ein bisschen früh, dachte Rexton. Selbst in einer gebirgigen Gegend wie der Auvergne färbte sich doch das Laub nicht so früh im Jahr.

Wieder schnüffelte Darius an dem Blatt. Und dann blickte er zu Rexton hoch.

Rexton bückte sich und hob das Blatt auf. Er rieb mit dem Daumen über den kleinen roten Fleck.

Er färbte ab. »Ach, du lieber Himmel!«

Die Katze lief zur Tür, blickte Rexton an und miaute.

Verwirrt und alarmiert starrte Rexton ihr nach.

Sie huschte bis zum Waldrand, drehte sich um und miaute erneut.

Er folgte ihr.