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Niemals in ihrem vierundzwanzigjährigen behüteten, sorgenfreien Leben in New Yorks Oberschicht hatte Emmeline Akte von so erschreckender Lüsternheit erlebt, und sie hätte nie vermutet, dass Angehörige ihrer eigenen Schicht sich ihnen hingeben könnten.
Sie musste unbedingt Lord Hardwyck finden, damit er sie sofort aus diesem schamlosen Château führte. Ihr distinguierter, weltgewandter Verlobter hatte doch gewiss nichts von dem ausschweifenden Festgelage gewusst, als er die Einladung angenommen hatte.
Solcherart waren ihre Gedanken, als sie die Tür öffnete, auf die die Gräfin mit der Ledermaske gedeutet hatte. Es beruhigte Emmeline, als sie den Raum betrat und feststellte, dass die Wände vom Fußboden bis zur Decke mit Bücherregalen bedeckt waren. Wahrscheinlich hatte Seine Lordschaft das Wochenende in einer abgeschiedenen Ecke verbracht und die Nase in ein verstaubtes altes Buch gesteckt.
Stellen Sie sich, lieber Leser, das Entsetzen unserer Heldin vor, als ihr Blick auf Archibald Dickings fiel, Baron of Hardwyck, zukünftiger Earl of Upswinge, dessen Nase ebenso wie der Rest seines Gesichts auf einem polierten Mahagoni-Schreibtisch zwischen den Schenkeln einer üppigen Blondine vergraben war, wohingegen sein geschwollener Schaft zwischen den Schenkeln einer weiteren Blondine steckte.
»Ich komme!«, schrie letztere und zerrte an den seidenen Schnüren, mit denen ihre Hände und Füße an die vier Tischbeine gebunden waren. »O ja! Gott, ja! Oh! Oh!«
Als er Emmelines entsetztes Keuchen hörte, blickte Lord Hardwyck blinzelnd auf. »Miss Woodbridge. Wie schön, dass ich Sie hier treffe. Ich wusste gar nicht, dass Sie in Frankreich sind.«
Aus Kapitel eins von Emmelines Emanzipation von Anonymus, erschienen 1903 bei Saturnalia Press und seitdem in zahlreichen Ausgaben weltweit verbreitet. Eine seltene Erstausgabe aus der ursprünglichen Auflage von achthundert Exemplaren wurde 2003 für 158 000 Dollar bei Sotheby’s in New York verkauft.
Steamboat Springs, Colorado
17. Januar 1922
Liebster Rémy,
nein, nein, tausendmal nein, ich werde Dich nicht heiraten. Ich werde Dich jedoch reiten wie ein Cowgirl, sobald wir uns wiedersehen. Und damit meine ich den Moment, in dem mein Blick auf Dich fällt, deshalb schlage ich vor, dass Du mich nicht bei Ankunft des Schiffes abholst, es sei denn, Du legst es darauf an, dass wir beide wegen Unzucht in der Öffentlichkeit verhaftet werden. Oder ist ein solches Betragen in Frankreich an der Tagesordnung? Wahrscheinlich nicht. Gott, ich liebe die Franzosen. Und am meisten naturellement Dich.
Du kannst Dir nicht vorstellen, was es mir in meiner gegenwärtigen verzwickten Situation bedeutet, von Dir zu hören – vor allem, wenn Du mir von Deinen köstlich schmutzigen kleinen Fantasien berichtest, wie zum Beispiel der, dass Du einen Film für Männer machst mit mir in der Hauptrolle. Ich lese Deine Briefe immer wieder, wie eine verliebte Sechzehnjährige. Zum Glück gibt es Luftpost. Jeden Morgen sitze ich in meinem Rollstuhl an diesem riesigen Aussichtsfenster im Gasthaus, mein armes zerschmettertes Bein im Gipsverband auf die Fensterbank gestützt, und warte auf die Post. Der stramme, rotwangige junge Nils bringt sie mir. Er holt sie in der Stadt ab, außer natürlich, wenn das Post-Flugzeug aufgrund der Wetterbedingungen nicht landen kann.
Nils stammt aus Norwegen und ist ein silberblonder Hüne. Ich neige dazu, ihn anzustarren, weil es in Frankreich so große Männer nicht gibt. Du überragst die meisten deiner Landsleute und bist wenigstens etwa eins achtzig groß. Ich habe irgendwo gelesen, dass Franzosen deshalb klein seien, weil Napoleon alle großen Männer zu Soldaten gemacht hat, als er versuchte, die Welt zu erobern, und die meisten von ihnen haben natürlich nicht lange genug gelebt, um Kinder zu zeugen. Sind nicht alleine bei Waterloo fünfundzwanzigtausend Franzosen gefallen?
Mit solchen Dingen beschäftige ich mich endlos, während ich hier sitze, in den Schnee hinausstarre und wünsche, ich wäre bei Dir in Paris. Ich weiß, ich jammere zu viel darüber, wie sehr ich mich langweile, aber Du kannst Dir nicht vorstellen, wie schrecklich es ist, wenn alle anderen Gäste jeden Morgen fröhlich mit ihren Skiern über der Schulter aufbrechen, während ich hier mit zerschmettertem Bein, gebrochenem Arm und angeknackster Würde herumliege. Wenigstens habe ich mir den linken Arm gebrochen, sodass ich immer noch den Füller halten kann. Ich habe den Artikel über das Steamboat-Springs-Winter-Festival überarbeitet – eigentlich über-überarbeitet –, wegen dem Hearst mich hierhergeschickt hat. Und natürlich verfasse ich epische Briefe an Dich.
Ich sollte mich nicht so sehr über Langeweile beklagen. Wie immer leistet Kitty mir hingebungsvoll Gesellschaft, und ich werde zumindest nicht mehr in diesem grässlichen Krankenhaus festgehalten. Dr. Horney lässt nicht mit sich handeln, sosehr ich ihm auch um den Bart gehe und ihn anflehe. Er besteht darauf, dass ich warten muss, bis beide Gipsverbände ab sind, bevor ich reisen kann. Kitty sagt, sie kommt nicht mit, wenn ich versuche zu verschwinden, bevor er den Gips abgesägt hat, und da ich in dieser Lage nicht allein reisen kann, stecke ich hier wohl für weitere vier Wochen fest.
Dein letzter Brief war eine Freude, mon amour, abgesehen von der ziemlich gemeinen Bemerkung, ich suchte ständig den Nervenkitzel und bekäme daher nur, was ich verdient hätte. Du weißt sehr wohl, oder Du solltest es zumindest nach Montgenèvre wissen, dass ich mit Skiern umgehen kann. Du hast doch selbst gesagt, ich sei die beste Skiläuferin, die Du je gesehen hättest – oder schmierst Du jedem weiblichen Wesen, das Du neu kennenlernst, Honig um den Mund? Und Du weißt doch auch, wie gerne ich Skispringen ausprobieren wollte. Ich habe diesen Auftrag doch eigentlich nur angenommen, damit ich es bei Carl Howelsen höchstpersönlich lernen konnte – und ich wollte natürlich auch den berühmtesten Skispringern der Welt zuschauen. Und zu Deiner Information, ich bin über ein Dutzend Mal erfolgreich gesprungen vor diesem hässlichen Sturz, der auch nur auf meine Erschöpfung zurückzuführen war.
Ernster jetzt, zu Deiner Kampagne, mich zu Mme. Rémy Binet zu machen:
Zwar rührt mich Deine herzerwärmende Bemerkung, dass ich »aussehe und ficke« wie eine zehn Jahre jüngere Frau – ah, ihr romantischen Franzmänner –, aber auch wenn man von meinem Alter zehn Jahre abzieht, wäre ich schon vierunddreißig, und ich brauche Dich ja wohl nicht daran zu erinnern, dass das IMMER NOCH ZWEI JAHRE ÄLTER IST ALS DU. Aber das ist nicht der einzige Grund, warum ich Dich nicht heiraten will. Wir kennen uns doch erst seit einem Jahr, und auch wenn Du durchaus recht hast mit unserer »außergewöhnlichen Beziehung« und »der tiefen Verbindung unserer Seelen«, gibt es vieles, was Du nicht von mir weißt, zum Beispiel den Grund, warum ich der Institution Ehe so ablehnend gegenüberstehe.
Dazu kann ich nur sagen, dass Emmelines Emanzipation eine Art Schlüsselroman ist. Die Ereignisse, die ich in diesem Buch beschrieben habe, sind tatsächlich mehr oder weniger so geschehen. Natürlich habe ich die Namen aller Beteiligten geändert und einige Details erfunden, um es unterhaltsamer zu machen und es schwieriger zu gestalten, mich als Autorin zu identifizieren. Wesentlich dabei war, dass es nicht in Schottland stattfand, sondern in Frankreich in einem Schloss namens Château de la Grotte Cachée.
Es entspricht jedoch den Tatsachen, dass ich meinen Verlobten dabei entdeckte, wie er es zwei Frauen besorgte, wenn auch im Esszimmer und nicht in der Bibliothek. Die Frauen waren auch nicht beide blond, nur die, die er fickte – sie war tatsächlich am Tisch festgebunden, wenn auch mit ordinärer Hanfschnur und nicht mit Seidenkordel. Er stützte sich mit den Armen ab, und während er in sie hineinstieß, leckte er gleichzeitig eine dunkelhaarige Frau in einem schwarzen Korsett, schwarzen langen Handschuhen und hohen Stiefeln, die vor ihm kniete. Sie hielt eine Reitgerte in der Hand und versetzte ihm damit kräftige Schläge auf den Hintern, während sie Anweisungen bellte, wie er die Blonde ficken sollte. »Stoß sie fest! Ramm ihn hinein! Fester, du elender Schwächling! Drück die Hinterbacken zusammen! Zusammen!« Im Buch sind beide Frauen wie saftiges junges Gemüse, im wirklichen Leben jedoch war die Dunkelhaarige zwar hübsch, aber die Blonde ein bisschen … nun ja, realer. Sie war selbst nach den Standards der damaligen Zeit ein wenig füllig, und ich weiß noch, dass sie eine wirklich hässliche Prellung am Oberschenkel hatte.
Der treulose Verlobte war Randolph Lytton, Baron of Hickley und heute der achte Earl of Kilbury, da sein alter Herr in der Zwischenzeit das Zeitliche gesegnet hat. Ich muss zugeben, dass er nicht ganz so ungerührt reagiert hat wie sein fiktionales Gegenstück Archie, als ich ihn auf frischer Tat ertappte, aber es schien ihm auch nicht besonders viel auszumachen. Er wirkte vor allem perplex.
Der Rest spielte sich mehr oder weniger genauso ab wie im Buch. Ja, es gab tatsächlich einen charmanten jungen Satyr mit einem glorreichen Stab zwischen den Beinen, der mich an der Hand nahm, aber sein Name war nicht Tobias, sondern Inigo. Und wenn ich sage, er war ein Satyr, so meine ich damit keinen Schwerenöter. Er hätte tatsächlich ein Satyr sein können.
Ich fasse es nicht, dass ich diese Worte gerade zu Papier gebracht habe.
Es versteht sich wohl von selbst, dass dieser Brief niemandem außer Dir in die Hände fallen darf. Die einzigen Menschen auf der Welt, die wissen, dass ich E. E. geschrieben habe, sind du, Kitty und mein Agent. Kannst Du Dir vorstellen, wie sehr es meiner Karriere schaden würde, wenn herauskäme, dass die Schriftstellerin, Journalistin und wagemutige Abenteurerin Emily Townsend insgeheim eine Pornografin ist oder war? Den Franzosen wäre es ja egal, aber den Amerikanern! Sie haben immerhin eine Verfassungsklausel erfunden, die es gesetzlich verbietet, ein Porterhouse Steak mit einem Schluck Cabernet herunterzuspülen. Dieses Land ist über seine puritanischen Wurzeln nie hinausgewachsen, und ich fürchte, das wird auch nie passieren.
Wo wir gerade davon sprechen – ich danke Dir sehr für Dein großherziges Angebot, mir eine Kiste Château Montrose zu schicken, damit er mich im kalten amerikanischen Westen wärmt, aber es ist Kitty gelungen, einen lokalen Schnaps aufzutun, der in groben Steinkrügen abgefüllt ist und, Gott helfe mir, besser schmeckt als alles andere, was ich je im Mund hatte.
Abgesehen von Deinem Ding natürlich.
Ich verbleibe, de tout mon cœur,
Deine ergebene, jammervolle
Em