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Adrien stand vor dem Fenster, neben einem Schreibtisch, auf dem sich Bücher und Papiere stapelten. Ein in Leder gebundener Band mit Pergamentseiten lag aufgeschlagen vor ihm. Als mein Blick darauf fiel, klappte er das Buch zu und kam mit ausgestreckter Hand um den Schreibtisch herum auf mich zu.

Als ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, war er ein schlaksiger Siebzehnjähriger gewesen. Er hatte immer noch diese großen, seelenvollen Augen und diese störrischen, scheinbar nicht zu bändigenden braunen Haare, aber er war zu einem Mann gereift. Das Leben hatte Spuren in seinem Gesicht hinterlassen; seine Schultern waren breiter, kräftiger. Er trug eine Kakihose und ein blaues Hemd mit aufgerollten Hemdsärmeln, nicht zu vergleichen mit den weiten Pullovern und zerschlissenen Jeans seiner Jugend.

»Adrien.« Ich schüttelte ihm die Hand und lächelte ihn an, obwohl es mich all meine Kraft kostete, meine Miene neutral und meine Hand ruhig zu halten. »Es ist lange her.«

»Ja, in der Tat. Du sprichst mittlerweile Englisch mit einem amerikanischen Akzent.«

»Nur, wenn ich erregt bin«, erwiderte ich. »Du weißt schon – wütend oder … was auch immer.«

»Schnitt! «, brüllte Larry von unten. »Emmeline, peitsch ihn fester aus. Und Fanny, jetzt kommst du ins Bild. Tritt hinter Emmeline, und reib dich an ihr, während sie Archie auspeitscht. Zuerst kommt die Zeile, dass Männer immer mehr Probleme machen, als sie wert sind, und dann knöpfst du ihr Kleid auf und fasst ihre Titten an. Es muss möglichst echt aussehen.«

Adrien seufzte und sagte: »Ich freue mich, dich wiederzusehen, obwohl ich sagen muss, du hättest auf deinen Vater hören und zu einem passenderen Zeitpunkt herkommen sollen.«

Ich blickte gespielt gleichgültig auf die Schauspieler und die Filmcrew. »Ich finde es recht interessant, einmal zu sehen, wie solche Filme gemacht werden.«

»Auf jeden Fall entschuldige ich mich schon einmal«, sagte er.

Die Männer setzten sich erst, als ich Platz genommen hatte. Solche höflichen Gesten gab es nur an einem Ort auf diesem Planeten: in Grotte Cachée. Trotz seiner Jugend war Adrien möglicherweise sogar noch traditionsbewusster als mein Vater.

Ich fragte Dad nach dem Pornofilm, und er sagte mir, er sei der Produzent des Streifens.

»Er basiert darauf.« Adrien nahm ein Buch von einem der Stapel auf seinem Schreibtisch und reichte es mir.

Es war ein schmales Bändchen mit einem braunen Einband, der an den Kanten schon ganz abgestoßen war. Emmelines Emanzipation lautete der Titel. Ich schlug die erste Seite auf. Als Verfasser war »Anonymus« angegeben.

Mein Vater sagte: »Die Autorin, wenn ich die richtige Person im Visier habe, hat 1902 ein paar Tage hier verbracht. Das Buch erschien ein Jahr später bei Saturnalia Press. Es spielt in einem abgelegenen Schloss mit einem römischen Badehaus. Es wird auch eine Höhle erwähnt, allerdings findet keine der Szenen dort statt. Und einige der Figuren, vor allem Tobias, haben verblüffende Ähnlichkeit mit …« Er wechselte einen kurzen Blick mit Adrien. »… mit Leuten, die damals hier gelebt haben.«

»Das ist die Erstausgabe«, erklärte Adrien, als ich den Band durchblätterte. »Sie wurde zum hundertsten Jahrestag der Publikation in New York bei Sotheby’s versteigert. Darius hat sie telefonisch ersteigert – er sammelt antiquarische Bücher.«

Ich nickte, ohne aufzublicken, weil ich nicht mehr Blickkontakt mit ihm herstellen wollte als nötig. Ich fühlte mich sehr zu Adrien Morel hingezogen, eine chemische Reaktion, auf die ich keinen Einfluss hatte – und die Adrien offensichtlich nicht teilte. Als wir uns vor neunzehn Jahren kennengelernt hatten, hatte ich das Gefühl gehabt, meiner anderen Hälfte begegnet zu sein. Wie ich war Adrien Einzelkind und musste mit einem Schicksalsschlag fertig werden, der seine Welt auf den Kopf gestellt hatte.

Im Winter davor waren seine Eltern und ihr administrateur, mein Großvater, ums Leben gekommen, als der Privatjet der Morels in den Schweizer Alpen abgestürzt war. Mit sechzehn Jahren erbte Adrien die seigneury von Grotte Cachée, während mein Vater, der gerade seinen Dienst bei der Royal Air Force als Leutnant quittiert hatte, auf einmal Adriens administrateur war, obwohl er geglaubt hatte, noch jahrelang Zeit zu haben, bevor er den Posten antreten musste. Wir lebten damals in Chelsea in London, wo meine amerikanische Mutter, Madeleine Lamb Archer, eine selbst ernannte »göttinnengleiche Wahrsagerin«, Prominenten wie Prinzessin Diana die Zukunft voraussagte. Als mein Vater ihr mitteilte, dass wir in ein einsames Tal in einer abgelegenen Gegend von Frankreich ziehen würden – und ich am besten aufs Internat ginge –, reichte sie prompt die Scheidung ein. Innerhalb eines Monats waren wir wieder in ihre Heimatstadt New York gezogen, wo sie sich mit ihrem früheren Freund Douglas Tilney einließ; sobald sie geschieden war, heiratete sie ihn.

Als ich in jenen Weihnachtsferien ins Château kam und Adrien kennenlernte, kam er mir trotz seiner Jugend wie eine alte, melancholische Seele vor. Weil seine Eltern es für unpassend hielten, ihn den Vorgängen in Grotte Cachée auszusetzen, war er in einem luxuriösen Jagdhaus im Wald aufgewachsen, und da er von Privatlehrern unterrichtet worden war, hatte er kaum Gelegenheit gehabt, Freundschaften mit Gleichaltrigen zu schließen.

Ich war damals ähnlich einsam wie er, da ich in der elitären Privatschule, auf der meine Mutter mich angemeldet hatte, kaum Anschluss gefunden hatte. Adrien und ich erkannten einander sofort als verwandte Seelen und unternahmen alles gemeinsam, redeten, wanderten, liefen Ski und hörten Musik. Ich zeichnete sein Porträt und schenkte es ihm, was ihn anscheinend sehr berührte, denn er gestand mir, das sei das schönste und persönlichste Geschenk, das ihm je jemand gemacht habe.

Als wir eines Abends vor dem Kamin im Rittersaal saßen, ergriff er meine Hand und hielt sie fest. Ich spürte, dass er mich küssen wollte, sich aber nicht traute, und so küsste ich ihn. Im Schloss gab es eine graue Katze, die überall herumlief, und genau in diesem Moment miaute sie laut. Sie setzte sich vor den Kamin und starrte uns an. Adrien schien ihr Verhalten sehr zu irritieren, und er sagte zu ihr, sie solle abhauen, aber sie rührte sich nicht vom Fleck. Die Stimmung war dahin, und da Adrien sich nicht wohlzufühlen schien, ging ich schließlich zu Bett.

Am nächsten Morgen war Adrien unerklärlich kühl mir gegenüber und blieb es auch für die letzten drei Tage meines Aufenthalts. Immer, wenn ich etwas mit ihm unternehmen wollte, war er beschäftigt. Wenn wir uns unterhielten, setzte er sich nicht mehr neben mich, sondern weit weg auf einen anderen Stuhl. Er wollte nicht mehr mit mir durch die Wälder streifen, nicht mehr Ski laufen, nichts mehr von unseren gemeinsamen Unternehmungen wissen. Einmal ertappte ich ihn dabei, wie er mich ansah, und ich glaubte so etwas wie Trauer in seinem Blick gesehen zu haben, bevor er sich abwandte, aber er blieb so distanziert wie zuvor. Es war mir schrecklich peinlich, dass ich sein Interesse missverstanden hatte, und ich war wütend auf mich, weil ich dadurch unsere Freundschaft zerstört hatte. Am Morgen meiner Abreise bemerkte ich, als mein Vater mein Gepäck in den Kofferraum lud, wie sich die Vorhänge in Adriens Arbeitszimmer im obersten Stockwerk des Torturms bewegten. Ich blickte hinauf; sofort fielen sie zu.

»Isabel?«, sagte Adrien. »Möchtest du?«

»Was?«

»Möchtest du das Buch ausleihen? Es scheint dich ja sehr zu faszinieren.«

»Oh. Äh, klar. Danke.«

Dad sagte: »Es war Inigos Idee, aus dem Buch einen Film mit den Follets in den Hauptrollen zu machen. Mit allen außer Darius natürlich. Er hatte mit so etwas nie etwas zu tun. Aber Elic und Lili meinten, es würde bestimmt Spaß machen. Der Mann, den ich als Regisseur engagiert habe, Larry Parent, möchte gerne von der Pornoschiene weg und einen anderen Film realisieren, aber er kann das Geld dafür nicht auftreiben. Ich habe ihm angeboten, ihm seinen Traum zu finanzieren, wenn er Emmelines Emanzipation hier im Château mit Inigo, Elic und Lili dreht. Zuerst wollte er davon nichts wissen, weil er sich geschworen hatte, nie wieder einen Porno zu machen, aber schließlich ist er doch darauf eingegangen. Die Dreharbeiten sind beinahe abgeschlossen. Es hat nur zwei Wochen gedauert.«

»Inigo wollte den Tobias spielen, der … der Emmeline in der Kunst der Liebe unterweist«, warf Adrien ein. »Sein Freund Erik wird von Elic gespielt, und dessen Geliebte, Lucretia, von Lili.«

»Eines verwirrt mich«, sagte ich. »Dad, weißt du noch? Damals in den Weihnachtsferien habe ich meine Kamera mitgebracht, aber du hast sie mir abgenommen, damit ich auch ganz bestimmt keine Fotos von den Follets mache. Du hast gesagt, sie hassten es, wenn man sie fotografiert, und du wolltest es noch nicht einmal riskieren, als ich versprochen habe, sie auf keinen Fall abzulichten. Ich weiß bis heute nicht, warum, aber ist ja auch egal. Ich verstehe nur nicht, warum Leute, die es hassen, fotografiert zu werden, sich beim Sex sogar filmen lassen. Und der Film wird ja auch auf DVD erscheinen, also werden ihn ja alle möglichen Leute sehen.«

»Das wird kein Problem sein«, antwortete mein Vater.

»Aber …«

»Wenn ihr beide mich entschuldigen wollt«, sagte Adrien. Er stand auf, um zu gehen, das Buch mit den Ornamenten unter dem Arm. »Ich habe noch zu tun. Es ist so schön, dich wiederzusehen, Isabel. Ich hoffe, du bleibst eine Weile.«

»Das ist nett, Adrien, aber leider fliege ich morgen Abend wieder nach London.«

»Schade. Adieu.«

Mein Vater blickte ihm nach, bis Adrien verschwunden war, und dann begann er rau zu husten.

»Dad, geht es dir gut?«

»Du solltest ihn nicht Adrien nennen.«

»Oh, bitte.«

»Du solltest mon seigneur zu ihm sagen, wie ich.«

»Das ist doch lächerlich.«

»Nein, es ist respektvoll. Und wenn du administrateur bist, erwartet man es sowieso von dir, deshalb kannst du genauso gut jetzt schon damit anfangen.«

»Dad, sag so etwas bitte nicht.«

Nachdenklich rieb er sich über das Kinn. »Komm«, sagte er und stand auf. »Geh mit mir zu meinen Zimmern.«

Es war nicht besonders weit, aber als wir da waren, ging sein Atem pfeifend. Er trat sofort an einen Wandschrank und holte ein Gerät auf Rädern heraus, das auf den ersten Blick aussah wie eine Nähmaschine im Koffer, nur größer. Dann setzte er sich und zog einen Plastikschlauch heraus, an dessen Ende sich eine Nasenkanüle befand. Diese führte er in seine Nasenlöcher ein und schaltete das Gerät ein, das mit leisem Summen ansprang. Tief atmend lehnte er sich mit geschlossenen Augen zurück.

Ich setzte mich auf seine Ledercouch und ließ den Kopf in die Hände sinken. Als er die Maschine schließlich ausgeschaltet und die Kanüle entfernt hatte, sagte ich: »Sprich mit mir, Dad.«

»Man nennt es idiopathische Lungenfibrose«, sagte er sachlich, während er den Plastikschlauch wieder zusammenrollte. »Idiopathisch bedeutet, dass sie die Ursache nicht wissen. Meine Lungen haben sich extrem entzündet, und die Narbenbildung führt zu Versteifungen. Ich werde in der Universitätsklinik in Clermont-Ferrand ambulant behandelt, und sie haben mir Kortison und Immunsuppressiva gegeben, die bisher keinerlei Wirkung gezeigt haben. Ich bin zu alt für eine Lungentransplantation – die Altersgrenze liegt bei sechzig. Sie haben mir gesagt, dass die Krankheit sich bei mir außergewöhnlich aggressiv entwickeln würde und dass ich höchstens noch ein Jahr zu leben hätte.«

» Was?«

»Laut dem Lungenspezialisten steht meine Lebenserwartung in direktem Zusammenhang mit dem Level an Stress und Belastung in meinem Leben. Ich soll mich entspannen, meine Reisen auf ein Minimum reduzieren …«

»O mein Gott«, unterbrach ich ihn. Tränen traten mir in die Augen.

»Wenn du anfängst zu weinen«, sagte er leise mit ruhiger Stimme, »muss ich dich bitten zu gehen. Ich kann mit meinen eigenen Emotionen wesentlich erfolgreicher umgehen als mit deinen.«

»Oh, Scheiße.« Ich holte tief Luft, um meine Tränen zurückzudrängen. Am liebsten hätte ich mich in seine Arme geworfen, aber das hätte ihm überhaupt nicht gefallen.

»Isabel, meine Liebe, musst du fluchen wie ein Bierkutscher ?«

»Dad, was zum Teufel ist ein Bierkutscher?«, erwiderte ich. Meine Stimme hatte einen leicht hysterischen Klang. »Das hast du früher schon immer gesagt, und ich habe verdammt noch mal keine Ahnung, was ein Bierkutscher ist.«

»Jemand, der Bier ausfährt. Und übermäßig flucht.«

»Adrien weiß es nicht, oder? Und auch sonst niemand?«

»Du lieber Himmel, nein. Diese Art von Drama kann ich nicht brauchen. Und dir erzähle ich es auch nur, damit du dich auf die Verantwortung vorbereiten kannst, die vor dir liegt.«

»O mein Gott«, stieß ich erneut aus und sank auf der Couch in mich zusammen. Jetzt war mir auch klar, warum mein Vater mich herbestellt hatte. »Dad … o mein Gott, ich liebe dich so sehr, und ich wünschte … ich wünschte, ich könnte dir sagen, was du hören willst, dass ich willens und bereit bin, den Posten als administrateur anzutreten, aber es ist … es ist einfach nicht das Richtige für mich. Ich werde es nicht machen. Es tut mir leid. Wirklich, aber du wirst andere Vorkehrungen treffen müssen. Ich helfe dir dabei. Ich werde jemanden finden …«

»Die Archers haben als administrateurs den Hohedruiden von Grotte Cachée gedient seit …«

»Den Hohe-was?«

»Du weißt schon, was ich meine.«

»Druiden? Du meinst keltische Priester? Weißt du, dass Mom sich neuerdings als Druidin bezeichnet? Es ist so verdammt peinlich, ich kann es dir gar nicht beschreiben.«

»Denk einfach darüber nach, bitte. Ich flehe dich an.«

»Dad …« Ich schüttelte den Kopf. »Ich werde meine Meinung nicht ändern. Ich habe ein Leben in New York. Ich habe Freunde dort, arbeite erfolgreich freiberuflich und wohne zur Untermiete in der schönsten mietpreisgebundenen Wohnung in ganz Manhattan.«

»Ich bitte dich ja nur, dass du einmal darüber nachdenkst. Tust du das für mich?«

Ich nickte und sagte ihm, was er hören wollte. »Okay. In Ordnung. Ich denke darüber nach.«