Neunzehn
Es war kalt, aber im Schutz der Dünen, von wo aus ich den Sonnenaufgang über dem Wasser beobachtete, spürte ich den Wind nicht. Die Ruine von Slains konnte ich hier nicht sehen, doch ich stellte sie mir vor, mit Dach und voller Leben. Und auf den Wellen tanzte vor meinem geistigen Auge ein weißes Segel. Jetzt begriff ich, warum das Meer mich seit jeher wie magisch anzog.
Mein Vater hatte recht gehabt: Die See lag mir im Blut. Ich spürte die Verbindung, die es zwischen Sophia und mir herstellte.
Manchmal wurde ich traurig, wenn ich ein Buch fertig hatte, aber dieses Ende stimmte mich froh, und ich wusste, dass es auch Jane gefallen würde. Das gute Gefühl begleitete mich zurück ins Cottage, das mich mit Wärme aus dem Aga-Herd und Stapeln von Papier auf dem Tisch empfing. Trotz meines Beschlusses, nach Aberdeen zu Graham zu ziehen, hatte ich uns das Häuschen für die Wochenenden gesichert. Obwohl ich Graham überallhin gefolgt wäre wie Sophia Moray, tröstete es mich, nicht ganz auf Slains und das Meer verzichten zu müssen.
Graham schien meine Gefühle zu begreifen, auch wenn er ihren Grund nicht kannte. Ich hatte noch nicht entschieden, ob ich ihm alles erzählen würde, weil er mich dann vielleicht auslachte und für verrückt erklärte.
Meinem Vater würde ich allerdings sagen müssen, dass wir möglicherweise keine McClellands waren, sondern Morays, weil es schwarz auf weiß in meinem Buch stand. Und sobald mein Vater Witterung aufgenommen hätte, würde er sämtliche Aufzeichnungen über das Royal Irish Regiment und den Stammbaum der Abercairney-Morays durchforsten, um irgendwann einmal ihre DNA mit der seinen vergleichen zu können.
Schmunzelnd kochte ich mir einen Kaffee. Immerhin, dachte ich, würde er so vielleicht konventionellere Verwandte entdecken als diejenigen, die wir bereits hatten – Ross McClelland natürlich ausgenommen, den ich sympathisch fand.
Er hatte mich tags zuvor zum Bahnhof gebracht und mir selbst gemachtes Fondant mitgegeben, das mir jetzt wieder einfiel. Ich suchte im Koffer danach, der immer noch neben der Tür stand. Als ich es herausholte, rutschte der Auktionskatalog heraus.
Während ich darauf wartete, dass das Wasser zu kochen begann, biss ich ein Stück Fondant ab und widmete mich dem Katalog. Viel entdeckte ich darin nicht: einen Tisch und einen Spiegel, zwei Miniaturporträts von McClellands aus einem anderen Zweig der Familie, dazu einige Schmuckstücke, zum Beispiel Ringe, eine Kette mit rosafarbenen Perlen, eine Brosche …
Als mein Blick auf die Brosche fiel, bekam ich eine Gänsehaut. Es handelte sich um eine schwere, viereckige Silberfassung mit einem roten Stein in der Mitte.
Nein, dachte ich, das ist nicht möglich. Unter dem Bild stand eine kurze Beschreibung des Stücks, das nach Ansicht des schätzenden Juweliers früher ein Ring gewesen und höchstwahrscheinlich in der Zeit König Georgs in eine Brosche umgearbeitet worden war.
Ich zeichnete mit dem Finger die Konturen von Morays Ring nach. Sophia hatte ihn also aufbewahrt und weitervererbt. Vielleicht hätte ein Fremder ihn nun erworben, wenn ich nicht nach Slains gekommen wäre. Doch ich war dem Ruf der See und der Ruine gefolgt.
Und nun musste ich dem Ruf eines noch größeren Meers folgen.
Graham las, als ich zu ihm ins Bett schlüpfte. Er hatte einen kleinen Elektroofen eingeschaltet, doch der half kaum gegen die Kälte, die der Sturm heranwehte. Der Wind war so heftig, dass ich Angst gehabt hatte, es könnte mit der Telefonverbindung nach New York City nicht klappen.
»Na, hast du’s geschafft?«, erkundigte sich Graham.
»Ja.« Ich sagte ihm nicht, wie viel ich geboten hatte, weil ich für die Brosche, die einmal Morays Ring gewesen war, jeden Preis gezahlt hätte.
»Was liest du denn da?«, fragte ich Graham.
»Drydens Stücke, deine Empfehlung. Woher hast du die Ausgabe?«
»Dr. Weir hat sie mir geliehen.« Ich hatte den Arzt zwei Tage zuvor zum Tee besucht und das Buch in seinem Regal entdeckt.
»Ich bin fast durch. König Arthur hat gerade seine Emmeline gekriegt. Ein bisschen erinnert mich das an uns«, sagte er, legte den Band weg und schaltete das Licht aus. Ich kuschelte mich an ihn.
»So viele Hindernisse wie er mussten wir nicht überwinden.«
»Stimmt, nur Stuie.«
Er klang verschlafen. Ich wusste, dass er bald im Reich der Träume sein würde, während meine Gedanken mit Sicherheit weiterkreisten.
Da hörte ich ein Klicken. Erst als der Elektroofen ausging, wurde mir klar, was passiert war. »Verdammt, der Strom ist weg. Der Sturm …«
»Es liegt nicht am Sturm«, widersprach Graham, »sondern am Zähler. Ich wollte mich am Nachmittag drum kümmern, hab’s aber vergessen. Tut mir leid.«
»Ich mach’s jetzt.«
Doch Graham hielt mich zurück. »Lass sein. Uns ist warm genug«, murmelte er.
»Graham?«, fragte ich, als mir klar wurde, was er da gerade gesagt hatte.
Doch er hörte mich schon nicht mehr.
Vielleicht war es Zufall, dass er bereits zum zweiten Mal genau Morays Worte benutzte. Und Moray sah auch nur aus wie er, weil ich ihn so beschrieben hatte, oder?
Die Familie seiner Mutter sei seit Ewigkeiten in der Gegend ansässig, hatte Graham mir ganz am Anfang gesagt.
Hatte irgendjemand sich je die Mühe gemacht, Grahams Stammbaum zurückzuverfolgen? Würde ich, falls ich es selbst täte, eine Fischerfamilie entdecken, die in einem Cottage nördlich der Bullers of Buchan gelebt hatte?
Das klang zu sehr nach Fiktion, um wahr zu sein. Doch der Wind, der ums Cottage heulte, erinnerte mich an Sophia, die wie an meinem ersten Tag hier sagte, dass dieser Ort ihr Herz in seinem Bann halte. Und die Countess antwortete, sie werde darauf aufpassen, und wenn Gott wolle, würde es sie eines Tages nach Hause zurücklocken.
Fast konnte ich spüren, wie Sophias Herz sich mit dem meinen verband. Als Graham den Arm um mich schlang, wurde ich ganz ruhig und schlief ein.