Zehn
Der Regen prasselte so heftig vom Himmel, dass die Scheibenwischer uns keine klare Sicht mehr verschaffen konnten. Graham, der den Wagen auf einem Rastplatz abgestellt hatte, drehte sich zu mir.
»Tut mir leid«, sagte er. »Eine besonders schöne Tour ist das bei diesem Wetter nicht. Bei Regen sieht alles gleich aus.«
»Kein Problem, Sie können ja nichts fürs Wetter.«
»Sollen wir warten, bis es zu schütten aufhört?«, fragte er zweifelnd.
Ich hatte mich auf diesen Morgen gefreut und die Minuten gezählt, bis er mich im Cottage abholte und zu seinem zerbeulten Vauxhall brachte, auf dessen Rücksitz mich Angus mit einem Schwanzwedeln begrüßte. Doch schon kurz nach unserem Aufbruch hatte der Himmel seine Schleusen geöffnet. Es war klar, dass wir unseren kleinen Ausflug beenden mussten. Ich bemühte mich, meine Enttäuschung zu verbergen.
Graham schaltete die Scheibenwischer auf höchste Geschwindigkeit und lenkte den Wagen zurück auf die schmale Straße. »Wissen Sie was? Freunde von mir haben nicht weit von hier eine Farm. Wir könnten bei ihnen warten, bis der Regen nachlässt.«
Als wir die Zufahrt zu der Farm erreichten, erhob sich Angus schwanzwedelnd von seiner Decke auf dem Rücksitz.
Die Zufahrt war von tiefen, schlammigen Furchen durchzogen und endete in einem viereckigen Hof mit Schuppen und Scheunen sowie einem niedrigen, weiß getünchten Farmhaus mit leuchtend blauer Tür.
»Bleiben Sie erst mal noch sitzen«, sagte Graham und stellte den Jackenkragen auf, »ich seh nach, ob sie überhaupt zu Hause sind.« Dann stieg er aus, ging zur Tür, neben der sich eine Regenrinne befand, aus der das Wasser nur so plätscherte, und klopfte. Als niemand öffnete, lief er achselzuckend über den Hof und durch das offene Tor des nächstgelegenen Stalls.
Angus schätzte es tatsächlich nicht, allein gelassen zu werden. Als er Graham verschwinden sah, begann der Spaniel, am hinteren Fenster zu kratzen und laut und vernehmlich zu heulen. Lange hielt ich das nicht aus. »Ganz ruhig«, sagte ich und ergriff seine Leine, »wir gehen zu ihm.«
Ich hatte keine Kopfbedeckung, aber zum Glück Stiefel, für die ich jetzt dankbar war, weil wir im Hof durch fast knöcheltiefen Matsch mussten. Angus zerrte so ungeduldig an seiner Leine, dass wir ziemlich schnell in die Scheune gelangten.
Drinnen war es deutlich wärmer, und in der Luft hingen der Staub der Streu sowie der Geruch von Stroh und Mist. Nach allem, was ich in der Nacht geschrieben hatte, wunderte es mich nicht, in dem Pferdestall eine Stute vorzufinden, die mich mit großen Augen betrachtete und mich merkwürdig an das Tier in meiner Geschichte erinnerte.
Ich liebte Pferde und baute sie immer wieder in meine Romane ein. Die Stute drückte ihr Maul gegen meine ausgestreckte Hand, damit ich ihre weichen Nüstern streichelte.
»Das ist Tammie«, hörte ich Graham sagen. »Sehen Sie sich vor, er hat noch jede Frau um den Finger gewickelt.«
»Er?«, fragte ich überrascht.
»Aye.« Er nahm mir die Hundeleine ab, so dass ich beide Hände für das Pferd frei hatte.
Ich streichelte Tammies Hals. »Er ist viel zu hübsch für einen Jungen«, sagte ich.
»Aye, aber das hört er wahrscheinlich nicht gern. Reiten Sie?«
»Nicht wirklich.«
»Was heißt das?«, erkundigte er sich.
»Dass ich auf Pferde raufkomme, wenn die das zulassen, und es sogar schaffe, im Schritttempo oben zu bleiben, aber bei allem, was schneller ist, kann ich mich nicht mehr halten.«
»Tja, das ist in der Tat ein Problem.«
»Niemand zu Hause?«
»Nein.« Er warf einen kurzen Blick in Richtung Stalltor. Es schüttete immer noch. »Aber wir können hier warten. Wir sind ja nicht in Eile.« Dann zog er mit dem Fuß einen Schemel heran, um sich zu setzen, und Angus ließ sich auf dem strohbedeckten Boden neben ihm nieder.
Fast wie in meinem Buch. Der Stall, die Stute – nun, Tammie, der aussah wie eine Stute –, ich, Graham und seine wachen grauen Augen, die mich an die von Mr. Moray erinnerten. Sogar einen Hund hatten wir. Das Leben imitierte die Kunst, dachte ich und lächelte.
»Und Sie?«, fragte ich. »Reiten Sie?«
»Aye, in meiner Jugend hab ich sogar Preise gewonnen. Es wundert mich, dass mein Dad sie Ihnen noch nicht gezeigt hat.« Seine Stimme klang fast zärtlich, wenn er von seinem Vater redete.
»Vielleicht morgen. Sie wissen, dass ich zum Mittagessen eingeladen bin?«
»Ja, er hat’s erwähnt.«
»Werden Sie auch da sein?«
»Ja.«
»Gut, denn Ihr Vater möchte unbedingt, dass wir uns über die örtliche Geschichte unterhalten.« Ohne den Blick von Tammie zu wenden, fragte ich: »Warum haben Sie ihm nicht erzählt, dass wir uns schon kennen?«
Erst nach einer ganzen Weile erwiderte er: »Und warum haben Sie es nicht getan?«
Weil … Graham mich genauso faszinierte wie Pferde. Wenn er sich in meiner Nähe aufhielt, war ich verwirrt und aufgeregt wie ein verliebter Teenager, und dieses Gefühl wollte ich fürs Erste bewahren, ohne es mit irgendjemandem zu teilen. Weil ich ihm das aber nicht gestehen konnte, antwortete ich: »Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich hab ich mich nicht wirklich mit der Frage beschäftigt und gedacht, Sie hätten schon Ihre Gründe, warum Sie es ihm nicht verraten.«
Er wandte sich kurzerhand einem anderen Thema zu. »Nun«, fragte er, »wie geht’s voran mit dem Buch?«
»Ziemlich gut. Ich habe heute Nacht bis drei drangesessen.«
»Schreiben Sie immer nachts?«
»Nicht immer. Zum Ende hin arbeite ich praktisch rund um die Uhr. Aber am besten läuft’s spät in der Nacht, warum, weiß ich auch nicht. Vielleicht, weil ich da schon im Halbschlaf bin.« Das war als Scherz gemeint, doch er nickte nachdenklich.
»Möglich«, sagte er. »In der Nacht gewinnt unter Umständen das Unbewusste die Oberhand. Ein Freund von mir malt, und er behauptet auch, dass er am besten arbeiten kann, wenn seine Gedanken zu schweifen beginnen und er fast schon einschläft. Seiner Meinung nach erkennt er die Dinge dann klarer. Ich persönlich sehe keinen Unterschied zu den Bildern, die er tagsüber malt – in meinen Augen sind das alles bloß große Farbkleckse.«
»Bei mir ist das Ganze eher eine Gewohnheit. Als ich mit dem Schreiben anfing, steckte ich noch mitten im Studium, da konnte ich praktisch nur in der Nacht arbeiten.«
»Und was haben Sie studiert? Englisch?«
»Nein, ich lese liebend gern, aber ich konnte es schon in der Schule nicht leiden, wenn Bücher zu Tode analysiert wurden – Winnie Puuh als politische Allegorie und solcher Quatsch. In dem Film The Barretts of Wimpole Street gibt es eine Szene, in der Elizabeth Barrett die Bedeutung eines Gedichts von Robert Browning zu ergründen versucht und es sich von ihm erklären lassen möchte, doch er sagt, als er es schrieb, kannten lediglich Gott und Robert Browning seine Bedeutung, und inzwischen kennt nur noch Gott sie. Eine ganz ähnliche Einstellung habe ich dem Anglistikstudium gegenüber. Wer weiß schon, was der Schriftsteller dachte, und warum ist das überhaupt wichtig? Ich lese lieber zum Vergnügen und habe Politologie studiert.«
»Ach.«
»Ja, ich hatte da so meine Ideen, wie man die Welt verändern könnte«, gestand ich. »Außerdem hielt ich das Studium für sinnvoll, weil letztlich alles politisch ist.«
»Warum nicht Geschichte?«
»Nun, auch damit beschäftige ich mich lieber zum Vergnügen. Lehrer schaffen es immer irgendwie, historischen Themen den Pep zu nehmen.« Als mir einfiel, womit er sich seinen Lebensunterhalt verdiente, versuchte ich zurückzurudern: »Natürlich nicht alle Lehrer, aber …«
»Gesagt ist gesagt.« Er musterte mich belustigt. »Ich muss mich wirklich bemühen, Ihnen nicht böse zu sein.«
»Ich wollte nicht …«
»Machen Sie’s nicht noch schlimmer«, warnte er mich.
»Jedenfalls hab ich die Uni ohnehin nicht abgeschlossen.«
»Wieso nicht?«
»Weil mein erster Roman vor dem Abschluss fertig war und sich gut verkaufte. Da bekam das Ganze eine Eigendynamik. Manchmal mache ich mir noch Gedanken darüber, dass ich das Studium nicht zu Ende gebracht habe, aber andererseits kann ich mich auch nicht beklagen. Das Schreiben tut mir gut.«
»Nun, Sie haben Talent.«
»Die Kritiker sind sich da nicht einig.« Ich sah ihn verwundert an. »Warum glauben Sie das?«
»Möglicherweise, weil ich in der letzten Woche eins Ihrer Bücher gelesen habe.«
»Ach. Und welches?«
Er nannte mir den Titel. »Es hat mir gefallen, besonders die Schlachtszenen.«
»Na, herzlichen Dank.«
»Sie scheinen ziemlich gründlich recherchiert zu haben. Allerdings finde ich es schade, dass der Held am Ende sterben muss.«
»Ich habe mich ja um ein Happy End bemüht, aber die Realität sah anders aus, und ich schreibe die Geschichte nicht gern um.« Zum Glück hatten viele Leser und Leserinnen mir in Briefen mitgeteilt, dass sie den tragischen Schluss mochten.
»Meine Mutter hätte Ihre Bücher geliebt.«
Die Hand immer noch auf dem Hals des Pferdes, wandte ich mich ihm zu. »Ist sie schon lange tot?«
»Sie starb, als ich einundzwanzig war.«
»Das tut mir leid.«
»Tja. Das ist jetzt fünfzehn Jahre her, und seitdem hat sich mein Vater nicht mehr richtig berappelt. Ich glaube, er macht sich Vorwürfe.«
»Weswegen?«
»Sie hatte Herzprobleme. Er meint, er hätte sie in ihrem Tatendrang bremsen müssen.« Graham lächelte. »Aber versuchen Sie mal, einen Wirbelwind zu bändigen! Meine Mum war ständig in Aktion.«
Von ihr hatte er wohl seine eigene Rastlosigkeit.
»Leben Ihre Eltern noch?«
»Ja, zwei Schwestern habe ich auch.«
»Und sie sind alle in Kanada?«
»Eine lebt in den Staaten, die andere unterrichtet Englisch in China. Mein Vater glaubt, unser schottisches Blut sei schuld an unserer Wanderlust.«
»Möglicherweise hat er recht. Und wo ist für Sie Ihr Zuhause?«
»Eigentlich habe ich keins. Ich reise immer an die Orte, an denen meine Bücher spielen, und lebe während des Schreibens dort.«
»Wie eine Zigeunerin.«
»Tja, so könnte man es nennen.«
»Da erleben Sie sicher viel und lernen interessante Leute kennen.«
»Ja, manchmal.« Ich wandte mich wieder Tammie zu, der mich anstupste. »Er ist tatsächlich ein richtiger Charmeur.«
»Tja, er sieht wirklich gut aus«, sagte Graham, »und das weiß er auch.« Er blickte nach draußen. Der Regen hatte nicht nachgelassen. »Ich glaube, heute wird das nichts mehr mit unserer Besichtigungstour.«
Ich hätte gut und gerne den ganzen Tag dort im Stall verbringen können, allein mit Graham, Angus und Tammie. Doch als Graham sich erhob, stellte ich den Kragen hoch, tätschelte Tammie kurz zum Abschied und lief mit Graham über den Hof zu seinem Wagen, mit dem er mich zu dem Pfad unter dem Cottage zurückbrachte. Dort stieg er aus, schlüpfte aus seiner Jacke und hielt sie zum Schutz gegen den Regen über uns beide.
»Ich begleite Sie nach oben«, sagte er.
Er ließ Angus im Wagen, was bedeutete, dass er nicht vorhatte, mit ins Cottage zu kommen. Als wir es erreichten, bedankte ich mich ein wenig enttäuscht bei ihm.
Graham zog seine Jacke wieder an. »Mit der Rundfahrt versuchen wir’s ein andermal«, versprach er.
»Okay.«
»Bis morgen dann beim Mittagessen.«
»Gut.«
Er sah aus, als wollte er noch etwas hinzufügen, zog am Ende aber nur die Kapuze über den Kopf und verabschiedete sich mit einem Lächeln von mir, während ich den Schlüssel herausholte, um ihn ins Schloss zu stecken.
Doch er fiel mir aus den kalten, feuchten Händen, so dass ich ihn vom Steinboden aufheben musste. Als ich mich aufrichtete, war ich bis auf die Haut durchnässt.
Zu Graham, der sich wieder zu mir gesellt hatte, um mir zu helfen, sagte ich: »Kein Problem, ich hab ihn.«
Da spürte ich seine Hand an meinem Gesicht, spürte, wie seine Finger über meine Wange strichen.
»Ich habe meinem Dad nichts gesagt, weil ich dich nicht teilen wollte. Noch nicht.«
Was sollte ich darauf erwidern?
Er deutete mein Schweigen falsch. »Das klingt sicher verrückt, aber …«
»Ich will dich auch nicht teilen.« Nicht ganz die elegante Antwort, die ich mir gewünscht hätte, aber wenige Sekunden später, als wir uns küssten, spielte das keine Rolle mehr.
Nachdem wir uns voneinander gelöst hatten, lächelte er, so dass seine weißen Zähne zum Vorschein kamen und seine grauen Augen blitzten. »Schreib das doch in dein Buch«, schlug er vor.
Dann wandte er sich ab, schob beide Hände tief in die Taschen und marschierte fröhlich vor sich hin pfeifend den Pfad hinunter, während ich ihm sprachlos nachschaute.