11
Kirsty stellte Sophia einen Teller mit Suppe hin. »Du musst essen.«
Sophia hatte zum Frühstück keinen Bissen heruntergebracht und war froh, dass die Countess und ihr Sohn sich in Dunottar aufhielten und sie in dem Zustand nicht sahen.
Drei Monate waren seit ihrer Verbindung mit Moray vergangen, und es konnte keinen anderen Grund für diese morgendliche Übelkeit geben, die sie ans Bett fesselte. Bei ihrer Schwester Anna war es auch so gewesen, als das Kind in ihrem Bauch zu wachsen begann.
Kirsty strich mit ihrer kühlen Hand über Sophias Stirn. »Es wird dir nicht die ganze Zeit so schlecht gehen.«
Sophia wandte den Blick ab. »Was soll ich bloß machen?«
»Kannst du es der Countess nicht sagen?«
»Ich hab ihm versprochen, nichts zu verraten.«
»Noch ein paar Monate, dann dürfte es dir schwerfallen, dieses Versprechen zu halten«, entgegnete Kirsty trocken.
»In ein paar Monaten ist das vielleicht auch nicht mehr nötig«, erwiderte Sophia, denn dann wären der König und Moray in Schottland, und sie müssten ihre Verbindung nicht länger geheim halten.
»Wollen wir hoffen, dass du recht hast. Ich frage meine Schwester, ob sie irgendwelche Tränke kennt, die dir diese schwere Zeit erleichtern können.«
Sophia legte schützend die Hand auf ihren Bauch. »Tränke?« Sie erinnerte sich gut an Annas Qualen und die schreckliche Alte mit ihren Fläschchen. »Ich nehme keine Medizin, um dem Kleinen nicht zu schaden.« Seinem Kind, diesem Teil von ihm in ihr, der ihr Trost spendete.
»Dem Kleinen passiert nichts«, versicherte Kirsty ihr. »Meine Schwester hat das öfter durchgemacht als die meisten anderen Frauen, und alle ihre Kinder sind kerngesund zur Welt gekommen. Sie kennt sich aus und wird dir helfen.«
Sophia spürte eine weitere Welle der Übelkeit heranrollen.
Kirsty stand auf. »Ich schick ihr eine Nachricht. Vielleicht schafft sie es zu kommen, bevor die Countess wieder da ist.«
Noch vor Einbruch der Nacht brachte Kirstys Schwester Sophia getrocknete Kräuter für einen Tee. »Der lindert die Übelkeit, damit du wieder ein bisschen Appetit bekommst.«
Am nächsten Morgen fühlte sich Sophia gut genug, um aufzustehen, sich anzuziehen und ihren Platz bei Tisch einzunehmen. Es gelang ihr, ein wenig zu essen, und anschließend zog sie sich in einen sonnigen Winkel der Bibliothek zurück, um den Vormittag lesend zu verbringen.
Hier glaubte sie fast, die Gegenwart Morays zu spüren, der dieselben ledergebundenen Bücher in Händen gehalten hatte. Sie ließ die Finger übers Papier gleiten. Noch ein paar Wochen, dachte sie, vielleicht ein Monat, dann würde der König in Schottland eintreffen.
In Slains wurde von nichts anderem mehr gesprochen. Den ganzen Sommer über herrschte Betriebsamkeit wie am königlichen Hof. Am Esstisch wimmelte es von fremden Gesichtern, von Männern, die weit gereist waren, um Botschaften von Adeligen im hohen Norden und in den Highlands zu überbringen.
Diese wagten es nicht, selbst zu kommen, weil eine Jakobitenversammlung die Aufmerksamkeit der Königin erregt hätte. Es war allgemein bekannt, dass der englische Hof ohnehin schon argwöhnisch nach Norden blickte. Nach Ansicht der Countess war das kein Zufall, und so bat sie alle, die sich in Slains einfanden, ihr Handeln vor dem Duke of Hamilton geheim zu halten. »Wenn er sich benimmt wie ein Wolf unter Schafen«, sagte sie, »sollten wir ihn in dem Glauben lassen, dass wir tatsächlich Schafe sind.«
»Mutter, du magst vieles sein, aber niemand, der dich kennt, würde dich für ein Schaf halten«, sagte der Earl lächelnd.
Sophia war ganz seiner Meinung. Die Countess hatte in diesem Sommer nicht nur ihren scharfen Verstand bewiesen, sondern auch eine körperliche Ausdauer, mit der Sophia trotz ihrer Jugend nicht hätte mithalten können. Die Countess machte sich jeden Tag nach wenigen Stunden Schlaf an die Arbeit, spielte Gastgeberin und verfasste zahllose Briefe. Es gab keine Nacht, in der das Licht in ihrem Zimmer nicht noch lange nach allen anderen gebrannt hätte.
»Mein Gott!«, hatte sie vergangene Woche ungeduldig ausgerufen, als sie mit Sophia am großen Erkerfenster im Salon stand. »Wo bleiben sie nur? Wenn sie nicht bald kommen, ist der Augenblick vertan.«
Doch auf dem Meer waren keine Schiffe aufgetaucht, die Neuigkeiten aus Saint-Germain gebracht hätten.
Auch heute würde sich nichts Wichtiges ereignen, da die Countess und ihr Sohn noch beim Earl of Marischal in Dunottar weilten. Was bedeutete, dass alle in Slains einen Ruhetag hatten. Sophia las, bis sie müde wurde und einschlief.
»Sophia, wach auf«, hörte sie irgendwann Kirsty, die an ihrer Schulter rüttelte.
Sophia zwang sich, die Augen zu öffnen. »Wie spät ist es?«
»Nach Mittag. Besuch für dich.«
»Wer?«
»Kein Geringerer als der Duke of Hamilton. Er ist mit der Kutsche von Edinburgh hierhergekommen.«
»Er will sicher die Countess und den Earl sehen und nicht mich.«
»Aye, Rory ist schon nach Dunottar unterwegs, um sie zu holen. Aber bis sie eintreffen, bist du die Einzige im Haus, die ihn empfangen kann. Komm, ich helf dir beim Anziehen.«
Sophia schlüpfte hastig in ihr Kleid und warf einen Blick in den Spiegel. Sie war immer noch blass und wirkte nervös.
Es graute ihr davor, dem Duke of Hamilton allein gegenüberzutreten. Morays Ansicht nach wusste er zu viel und neigte zu verräterischen Handlungen.
Die Countess wäre in der Lage gewesen, seine Manöver zu durchschauen und ihn vielleicht sogar geschickter zu manipulieren als er sie.
Sophia würde sich, da so viel auf dem Spiel stand, ganz auf diese Aufgabe konzentrieren müssen.
Allerdings dachte sie nicht an das Leben des Königs und seine Zukunft, als sie über ihren Bauch strich.
»Man sieht noch nichts«, sagte Kirsty. »Du brauchst keine Angst zu haben, dass der Duke etwas merkt.«
Sophia ließ die Hände sinken.
»Aber den wird er sehen«, warnte Kirsty mit einem Blick auf den schweren Silberring, den Sophia verborgen unter der Kleidung immer an einer Kette um den Hals trug. »Es wäre sicherer, wenn du ihn abnimmst.«
Sie hatte recht. Von Moray wusste Sophia, dass sein Vater und die Familie des Duke gut miteinander bekannt gewesen waren, und somit hatte der Duke den Ring wahrscheinlich an dessen Hand gesehen.
Er darf nicht erfahren, dass du mir gehörst, vernahm sie Morays Warnung, streifte widerstrebend die Kette ab und reichte sie Kirsty.
»Ich werde gut darauf aufpassen«, versicherte diese ihr.
Sophia hätte viel darum gegeben, das tröstende Gewicht des Rings an ihrem Busen zu spüren, als sie den Salon betrat, um den Duke of Hamilton zu empfangen.
»Welche Ehre, dass Sie uns besuchen, Duke«, begrüßte sie ihn.
Er hatte sich seit ihrer letzten Begegnung nicht verändert und trug immer noch die elegante Kleidung und die schwarze, schulterlange Lockenperücke nach der derzeitigen Mode. Doch in seinem Gesicht entdeckte sie nun maskenhafte Züge, und seine Augen musterten sie aufmerksam. Er verneigte sich und hob ihre Hand an seine Lippen.
»Mistress Paterson. Die Ehre ist ganz meinerseits.« Mit seinem Lächeln wollte er ihr helfen, die Nervosität abzulegen, das merkte sie. »Das Leben hier in Slains scheint Ihnen zu bekommen. Sie sind noch hübscher, als ich Sie in Erinnerung hatte.«
»Zu freundlich.« Sie setzte sich, damit auch er Platz nehmen konnte.
»Die Countess und ihr Sohn sind nicht zu Hause?«, erkundigte er sich im Plauderton.
»Wir erwarten sie jeden Augenblick zurück. Sie bleiben doch hoffentlich, bis sie eintreffen? Sie würden es sehr bedauern, wenn sie nicht persönlich mit Ihnen sprechen könnten, und wären bestimmt nicht fortgegangen, wenn sie von Ihrem Besuch gewusst hätten.«
Sollte er sein unangekündigtes Auftauchen doch erklären, dachte sie. Vermutlich wollte er die Errolls ausspionieren und sich ein Bild über die Vorgänge in Slains machen. Da kam es ihm wahrscheinlich gerade recht, dass ihn nicht die kluge Countess mit ihrem Sohn empfing, sondern ein einfaches Mädchen.
»Es tut mir leid, dass ich ohne Vorwarnung komme, aber bis heute ahnte ich selbst nicht, dass meine Geschäfte mich so weit nach Norden führen würden. Ich möchte der Familie keine Umstände machen und werde nicht lange bleiben. Sicher haben in letzter Zeit schon genug Gäste hier übernachtet.«
Sie bemerkte das kurze Aufblitzen in seinen Augen. »Keiner so vornehm wie Sie selbst«, sagte sie und erkundigte sich, wie jedes junge Mädchen es getan hätte, was es Neues gebe in Edinburgh und bei Hof und wie die neueste Mode aussehe.
Ihre Unterhaltung war eine Art Tanz, dachte sie, mit komplizierten Schrittfolgen, die sie jedoch schnell erlernte.
Was er nicht merkte, denn der Duke traute jemandem wie ihr keine solchen Fähigkeiten zu. Nach einer Weile begann eine gewisse Frustration in seiner Stimme mitzuschwingen, doch er machte keine Anstalten, sich zu verabschieden, auch nicht nach der üblichen kleinen Zwischenmahlzeit mit Wein und Ale und kleinen Kuchen um vier Uhr. Im Gegenteil: Er bemühte sich, den Tanzschritten noch mehr Komplexität zu verleihen.
Als Sophia Schritte und Stimmen am Eingang hörte, war sie der Erschöpfung nahe.
Voller Dankbarkeit sah Sophia die Countess mit ihrem üblichen Temperament ins Zimmer rauschen. »Was für ein unverhofftes Vergnügen«, begrüßte sie den Duke mit einem reizenden Lächeln. »Fast hätte ich es nicht geglaubt, als die Bediensteten mir mitteilten, dass Sie hier seien. Warten Sie schon lange?«
»Für mich wurde gut gesorgt«, versicherte er ihr. Er nickte in Richtung Sophia. »Mistress Paterson und ich haben die Zeit mit angenehmen Gesprächen verbracht.«
»Ihre Anwesenheit bringt mir täglich neue Freude, besonders jetzt, da alle meine Töchter verheiratet und aus dem Haus sind. Haben Sie vor, über Nacht zu bleiben?«
»Nun …«
»Aber natürlich. Die Dämmerung bricht bald herein, da können Sie sich nicht mehr auf den Weg machen.«
Der Earl of Erroll, der soeben den Salon betrat, pflichtete ihr bei. »Kommt gar nicht infrage«, sagte er und begrüßte den Duke genauso herzlich wie seine Mutter. »Ihr letzter Besuch ist schon eine Weile her. Darf ich Ihnen zeigen, was sich seitdem am Haus verändert hat?«
Als die Männer weg waren, sank die Countess, müde von dem langen Ritt, sichtlich in sich zusammen und sah Sophia fragend an.
»Der Duke ist kurz nach Mittag gekommen und die ganze Zeit über in meiner Gesellschaft gewesen«, sagte sie. »Er hat tatsächlich versucht, mich dazu zu bringen, das ich ihm von den Vorgängen hier erzähle.«
»Oje«, meinte die Countess nur.
»Ich habe nichts verraten.« Sophia war schrecklich müde, und auch die Übelkeit kehrte zurück. Sie erhob sich und stützte sich auf die Rückenlehne des Stuhls. »Ich war vorsichtig.«
»Oje«, wiederholte die Countess. »Es tut mir leid, dass du diese Last allein tragen musstest.«
»Es war keine große Mühe.«
»Unsinn. Du bist müde und blass.«
»Ich hab nur ein bisschen Kopfweh.«
»Leg dich hin. Du hast es dir verdient.« Sie berührte sanft ihre Wange, und Sophia fühlte sich an die liebende Hand ihrer Mutter erinnert. Die Countess lächelte. »Das hast du gut gemacht, Sophia, sehr gut. Aber nun ruh dich aus. Der Earl und ich werden schon mit dem Duke fertig. Ich möchte nicht, dass du seinetwegen krank wirst.« Sie umarmte sie kurz. »Geh auf dein Zimmer. Ich schicke dir Kirsty. Sie soll sich um dich kümmern.«
Den Rest des Abends verbrachte Sophia abwechselnd mit Schlaf- und Übelkeitsphasen, doch am Morgen fühlte sie sich wieder gut.
Der Duke war bei Sonnenaufgang in seiner dunklen Kutsche abgereist, ohne irgendetwas erfahren zu haben.
»Er ist nicht gebrochen«, erklärte Dr. Weir, der meinen Knöchel abtastete. »Sonst würde es Ihnen hier wehtun« – er drückte sanft auf eine Stelle – »und nicht hier. Er ist nur verstaucht.« Der Arzt griff nach einer breiten elastischen Binde. »Stuart sagt, Sie seien vom Weg abgekommen.«
Stuart hatte Dr. Weir zu mir geschickt, vermutlich mit einer ausführlichen Schilderung meines Sturzes und seiner Rolle bei meiner Rettung. »Ja, stimmt.«
»Der Weg ist nicht gerade schmal.«
»Ich habe vor mich hin geträumt, nicht richtig aufgepasst und bin wohl dort entlanggegangen, wo ich den Pfad vermutete. Wo er sich meiner Erinnerung nach befand.«
»Verstehe.« Dr. Weir wirkte nachdenklich. »Interessant.« Nachdem er meinen Knöchel bandagiert hatte, richtete er sich auf. »Natürlich ist so etwas denkbar. Die Form des Hügels hat sich seit damals aufgrund der Erosion ziemlich verändert. Möglicherweise ist der alte Pfad weggebrochen.«
»Zusammen mit mir«, sagte ich mit einem wehmütigen Lächeln und bewegte vorsichtig den Fuß.
»Aye, passen Sie mal gut auf da oben in Slains. Das nächste Mal kommen Sie vielleicht nicht mehr so glimpflich davon.«
Ich schaute durchs Fenster hinaus auf die roten Mauern, die sich fest an den Felsen klammerten und nun im Schatten lagen, weil sich Wolken vor die Sonne geschoben hatten. »In den nächsten paar Tagen werde ich mich dort wohl nicht herumtreiben können.«
»Was haben Sie für ein Gefühl, wenn Sie durch die Ruine spazieren?«, wollte Dr. Weir wissen.
»Als hätten alle gerade den Raum verlassen, den ich betrete. Ich kann ihre Schritte und das Rascheln ihrer Gewänder fast hören, erwische sie aber nie.«
»Dringen dort Erinnerungssplitter an die Oberfläche?«
»Nein.« Ich wandte den Blick vom Fenster ab. »Die Erinnerungen sind nicht mit Slains verbunden, sondern sitzen in meinem Unterbewusstsein und kommen beim Schreiben hoch. Allerdings weiß ich immer erst, dass es sich um Erinnerungsfragmente handelt, wenn ich bei Recherchen über die dazugehörigen Fakten stolpere.« Ich erzählte ihm, dass sein Buch The Old Scots Navy meine Captain-Gordon-Szenen bestätigte. »Ich werde den Band nicht ganz lesen, nur die Einzelheiten verifizieren, sobald ich sie zu Papier gebracht habe. Aber nicht alles lässt sich so leicht nachweisen. Zum Beispiel habe ich gerade herausgefunden, dass meine Heldin schwanger ist, und um das zu belegen, müsste ich Aufzeichnungen über die Geburt oder Taufe des Kindes finden, in denen Sophia als Mutter erwähnt ist. Dokumente aus jener Zeit verraten einem nicht immer, was man wissen möchte, oder lassen sich überhaupt nicht aufspüren. Auch in unserem Stammbaum gibt es ein paar Lücken, obwohl mein Vater seit Jahren daran arbeitet.«
»Aber bei Sophia Paterson haben Sie einen Vorteil«, sagte Dr. Weir, »weil Sie schon ziemlich viel über ihr Leben wissen.«
»Stimmt. Etliches konnte mein Vater belegen.«
»Haben Sie es ihm erzählt?«, fragte Dr. Weir.
»Woher ich die Informationen habe? Ja, es ist mir nichts anderes übriggeblieben.«
»Und was hält er davon?«
»Er sagt, er sei offen für alles, aber ihm wäre es lieber gewesen, wenn ich die Erinnerungen von Sophias Ehemann David McClelland geerbt hätte, weil es bei ihm noch viele Lücken zu füllen gibt.«
»Wahrscheinlich beneidet er Sie.«
»Mein Vater?«
»Aye. Genau wie ich. Wer würde Sie nicht darum beneiden, durch die Zeit reisen zu können? Wissen Sie, dass einer meiner Vorfahren Kapitän eines Schiffs war und nach China und Japan segelte? Vielleicht habe ich seine Liebe zur See geerbt, aber seine Erinnerungen bleiben mir verschlossen.« Plötzlich wirkte er wehmütig. »Und was für Erinnerungen das wären: von Stürmen auf dem Meer, von China in der Blüte der Kaiserzeit … wer würde sich so etwas nicht wünschen?«
Sein Enthusiasmus hallte noch nach, als er sich schon längst verabschiedet hatte. Wieder einmal begann der Wind an meinem Fenster zu rütteln, und ein weißes Wolkenband umschloss die Ruine von Slains. In meiner Phantasie – möglicherweise auch in meiner Erinnerung – begann es, die Gestalt von etwas anderem anzunehmen.