Neun
In Castle Wood herrschte zu dieser frühen Morgenstunde Stille. Die Saatkrähen, die sonst um die Baumwipfel kreisten, beäugten mich nun stumm von den kahlen Ästen.
Die Gartenzwerge vor Dr. Weirs Haus begrüßten mich mit freundlichem Gesicht, und auch der Arzt schien sich über meinen Besuch zu freuen.
»Wie geht’s voran mit dem Buch?«, erkundigte er sich und winkte mich in den gemütlichen Flur, wo er meine Jacke an die Garderobe hängte.
»Gut, danke.«
»Kommen Sie doch mit ins Arbeitszimmer. Elsie ist mit einer Freundin zum Einkaufen in Peterhead. Sie findet es bestimmt schade, dass sie Sie verpasst.«
Offensichtlich hatte er sich auf einen gemütlichen Tag allein eingerichtet – neben seinem Ledersessel im Arbeitszimmer warteten ein Stapel Bücher und ein Kristallglas mit einem ordentlichen Schuss Whisky. »Mein Morgentrunk«, erklärte Dr. Weir. »Eine schöne alte Sitte. Der Whisky ist mir lieber als durchgeweichte Corn Flakes.«
»Ich dachte, der traditionelle Morgentrunk sei Ale mit Toast.«
»Den Toast hab ich schon gegessen. In Schottland läuft seit jeher alles ein bisschen anders«, fügte er hinzu. »Ale und Toast, ja, aber ein richtiger Mann genehmigt sich hinterher einen Schluck schottischen Whisky.«
»Aha.«
»Möchten Sie einen Tee?«
»Ich würde auch einen Morgentrunk nehmen, wenn Ihnen das recht ist.«
»Kein Problem.« Ich ließ mich wie an jenem Abend ein paar Tage zuvor auf dem chintzbezogenen Sessel beim Fenster nieder.
»Nun«, erkundigte er sich, »was führt Sie zu mir?«
»Tja, eine Frage.«
»Über Slains?«
»Nein, eher etwas Medizinisches.«
»Oh, aye?«
»Hm …«, begann ich, doch die Sache war schwieriger, als ich gedacht hatte. Ich nahm einen Schluck von dem Whisky. »Es geht um das menschliche Gedächtnis.«
»Und wofür genau interessieren Sie sich?«
Ich schilderte ihm, wie ungewöhnlich der Schreibprozess meines neuen Buchs verlief, wie ich manchmal sogar das Gefühl hatte, dass ich kaum noch mit der Handlung Schritt halten konnte, die sich mir präsentierte, und dass ich die Geschichte aus der Perspektive meiner Vorfahrin Sophia Paterson erzählte. »Sie stammte nicht von hier«, sagte ich, »sondern aus der Nähe von Kirkcudbright im Westen. Ich habe sie letztlich nur in das Geschehen eingeführt, weil ich jemanden brauchte, der eine Verbindung zwischen den historischen Figuren herstellen konnte.«
Dr. Weir nickte.
»Teile dessen, was ich schreibe, scheinen eher Fakt als Fiktion zu sein.« Als Beispiele nannte ich ihm den richtig geratenen Vornamen von Captain Gordon, den Namen seines Schiffs und den von Captain Hamilton sowie die Übereinstimmung meines Grundrisses von Slains mit dem seinigen. Außerdem berichtete ich ihm von meinem Klippenspaziergang am Vortag und von meinem Gefühl, schon einmal dort gewesen zu sein.
»Es gibt bestimmt eine einfache Erklärung für das alles. Vermutlich habe ich die Einzelheiten im Verlauf meiner Recherchen irgendwo gelesen oder Fotos gesehen, und jetzt erinnere ich mich daran. Aber … Aber manches kann ich nirgendwo gelesen haben.« Ich erzählte ihm die Sache mit Sophias Geburtsjahr, dem Tod ihres Vaters und seinem Testament, in dem er ihren Onkel bedachte. »Mein Vater hat die Daten und Dokumente nur deshalb gefunden, weil er von mir wusste, wo er nachsehen musste. Es ist, als ob …« Ich suchte nach Worten. »Mein Vater sagt immer, ich liebe das Meer so sehr, weil es mir im Blut liegt, weil meine Vorfahren Schiffsbauer aus Belfast waren. Tja, und nun wollte ich Sie fragen, ob es so etwas wie ein genetisches Gedächtnis gibt.«
Er musterte mich nachdenklich durch seine Brille. »Sie meinen, ob Sie Sophias Erinnerungen haben könnten?«
»Ja. Wäre das möglich?«
»Interessante Theorie. Das Gedächtnis ist nach wie vor nahezu unerforscht. Wir wissen ja nicht einmal, wie es sich herausbildet oder wann unsere Erinnerungen beginnen – bei der Geburt oder schon im Mutterleib oder ob wir sie gar, wie Sie vermuten, in den Genen tragen. Jungs Anhänger würden es wohl für denkbar halten, dass manches Wissen nicht auf eigenen Erfahrungen gründet, sondern auf Erkenntnissen unserer Vorfahren. Es handelt sich dabei um einen tief sitzenden Instinkt oder das, was Jung ›kollektiv Unbewusstes‹ nennt.«
»Den Ausdruck habe ich schon gehört.«
»Die Theorie ist nicht unumstritten, obwohl sie unter Umständen die Fähigkeiten mancher Primaten, zum Beispiel Schimpansen, erklärt, die nicht von ihren Eltern aufgezogen wurden, von denen sie sie erlernt haben könnten – zum Beispiel wie man eine Nuss mithilfe eines Steins knackt. Allerdings lassen sich viele Theorien Jungs nicht wirklich überprüfen und basieren auf Mutmaßungen. Außerdem«, fügte er hinzu, »geht es bei dem Konzept des ›kollektiv Unbewussten‹ nicht darum, dass Menschen sich an bestimmte Ereignisse erinnern.«
»Wie ich.«
»Ja. So, wie Sie mir das Ganze schildern, können es keine einfachen Déjà-vu-Erlebnisse sein. Wann hat das angefangen?«
»Ich glaube, als ich Slains das erste Mal sah«, antwortete ich nach kurzem Zögern.
»Interessant.«
»Warum?«
»Nun, Sie sagten doch, Ihre Vorfahrin stamme von der schottischen Westküste.«
»Ja.«
»Also war sie höchstwahrscheinlich nie in Slains.«
»Wir wissen, dass sie in der Nähe von Kirkcudbright geboren wurde und dort heiratete. Damals zogen die Leute nicht die ganze Zeit um.«
»Aye, das stimmt. Also handelt es sich vielleicht doch nicht um eine Erinnerung. Wie könnten Sie die auch haben, wenn sie nie in Slains war?«
Als ich mich von Dr. Weir verabschiedete, war ich ein wenig benommen, weniger unseres Gesprächs als des Whiskys wegen.
Fast hätte ich Jimmy Keith nicht bemerkt, der gerade aus seiner Haustür trat, zweifellos, um sich auf den Weg zum Mittagessen im St.-Olaf-Hotel zu machen.
»Aye-aye«, begrüßte er mich fröhlich. »Na, wie geht’s Ihnen denn heute?«
»Gut, danke.« Wir unterhielten uns eine Weile über das trübe Wetter.
»Der Zähler muss ausgeleert werden. Das hab ich diese Woche noch nicht erledigt.«
Das hatte ich völlig vergessen. »Ja, stimmt, ich hab fast keine Münzen mehr.«
»Wissen Sie was? Ich komm mit und mach das gleich. An so einem Tag wollen Sie bestimmt nicht irgendwann im Dunkeln dasitzen, oder?«
Auf dem Weg den Ward Hill hinauf sah ich ihn immer wieder von der Seite an und überlegte, welcher seiner Söhne ihm ähnlicher sei. Stuart, dachte ich, hatte seine gerade Nase und seinen Charme, Graham seine Robustheit und seinen wiegenden Gang. Merkwürdig, die Sache mit den Genen – wie ein Mensch so unterschiedliche Dinge an seine Kinder vererbte.
Im Cottage leerte er den Zähler und reichte mir die Münzen im Tausch gegen einen Zehn-Pfund-Schein.
Ich bedankte mich.
»Keine Ursache.« Er schaute sich um. »Sie kommen zurecht?«
»Ja, kein Problem.« Durch das Fenster war Slains zu sehen. Ich wandte den Blick ab, weil die Ereignisse der vergangenen Tage mich überforderten und ich eine Ablenkung nötig hatte. Einem plötzlichen Impuls folgend, sagte ich: »Jimmy?«
»Aye?«
»Es könnte sein, dass ich ein paar Tage nicht da bin.«
»Oh, aye? Wo wollen Sie denn hin?«
Gute Frage. »Wahrscheinlich nach Edinburgh. Ich muss noch für mein Buch recherchieren.«
»Aber am Wochenende sind Sie wieder zurück, oder?«
Schon Grahams Versprechen wegen, mir am Samstag mit dem Wagen die Gegend zu zeigen, sagte ich sofort Ja.
»Graham, das ist mein anderer Junge, will herkommen; vielleicht mögen Sie ihn kennenlernen. Ich hab Ihnen ja schon gesagt, dass er Dozent für Geschichte an der Uni ist. Möglicherweise weiß er was für Sie Nützliches über Slains.«
Ich versuchte, meine Überraschung darüber, dass Graham nichts von unserem Treffen erwähnt hatte, zu verbergen.
»Möchten Sie am Sonntag zum Mittagessen kommen? Ein besonders guter Koch bin ich nicht, aber einen Rinderbraten krieg ich hin, wenn ich mich anstrenge.«
Wie sollte ich seinem Charme und der Aussicht, Zeit mit Graham zu verbringen, widerstehen? »Gern.«
»Ja dann«, sagte Jimmy erfreut, »fahren Sie nach Edinburgh, wann immer Sie wollen. Ich pass inzwischen aufs Cottage auf. Und viel Glück bei Ihren Recherchen.«
»Danke.«
Ob ich tatsächlich etwas finden wollte, wusste ich allerdings nicht so genau. Es war die eine Sache, Fragen zu stellen, eine völlig andere jedoch, Antworten darauf zu bekommen.
Ich beschloss, meine Nachforschungen beim Duke of Hamilton zu beginnen, weil er eine Schlüsselrolle in meinem Roman spielen würde.
Ich war bereits mehrmals zu Recherchezwecken kurz in Edinburgh gewesen, jeweils in Janes Apartment, das diese als Büro für ihre Literaturagentur nutzte.
Es handelte sich um eine hübsche, zentral gelegene Zwei-Zimmer-Wohnung, von der aus ich bequem zu Fuß zum Holyroodhouse hätte gehen können, um die alten Gemächer des Duke of Hamilton zu besichtigen und mehr Details für die Szenen zwischen Sophia und ihm am Anfang meiner Geschichte zu sammeln.
Doch ich tat es nicht, zum Teil deshalb, weil ich gar nicht wissen wollte, wie die Räume aussahen. Am Ende wären sie möglicherweise wieder genau so gewesen, wie ich sie mir vorstellte.
Ich redete mir ein, nicht genug Zeit für Besichtigungen zu haben. Schließlich musste ich mich durch jede Menge Dokumente wühlen.
Und so saß ich am Mittwochvormittag im Lesesaal und ging die Privatkorrespondenz des Duke of Hamilton durch.
Seine Briefe verschafften mir eine klarere Vorstellung von dem Mann sowie von seiner zwiespältigen Haltung als Patriot und Verräter, der sich selbst vermutlich nicht als solcher verstanden hätte. Wahrscheinlich war er nur auf seinen Vorteil bedacht gewesen. Seine politischen und privaten Entscheidungen, über die sogar viele seiner Freunde in ihren Briefen Unverständnis äußerten, ließen sich alle darauf reduzieren.
Da er ständig unter Geldmangel litt und eine reiche Erbin mit großen Anwesen in England heiratete, neigte er nicht dazu, die Engländer zu provozieren, die ihn sonst um die Hauptquelle seines Einkommens gebracht hätten. Vor dem Parlament schwang er Reden gegen die Union, aber wenn andere Taten folgen lassen wollten, hielt er sie mit leeren Versprechungen hin, bis die Gelegenheit vorüber war, und sorgte so dafür, dass die Union schließlich ihren Lauf nahm. In seinen Briefen hinterließ er tunlichst keinen klaren Hinweis darauf, dass er in Diensten Englands stand.
Da räusperte sich jemand.
Als ich den Blick hob, sah ich eine jüngere Angestellte neben mir stehen, die ein wenig nervös wirkte. »Entschuldigen Sie, sind Sie Carolyn McClelland?«
»Ja.« Ich lächelte höflich.
»Ich habe alle Ihre Bücher gelesen. Sie sind einfach toll.«
»Danke.«
»Ich liebe Geschichte. Sonst würde ich ja auch nicht hier arbeiten. Aber Sie erwecken sie wirklich zum Leben.«
Wenn jemand sich die Mühe machte, mir zu sagen, dass er meine Bücher mochte, wusste ich das zu schätzen. Da ich die meiste Zeit allein am Computer arbeitete, ließ ich mich gern daran erinnern, dass sich am Ende Leser über meine Stories freuten. Leute wie die junge Angestellte sorgten dafür, dass sich meine Bücher gut verkauften.
Ich legte den Stift weg und fragte: »Und wie heißen Sie?«
»Kirsty.«
»In meinem neuen Buch kommt eine Figur dieses Namens vor.«
Sie strahlte. »Recherchieren Sie gerade dafür?« Sie warf einen Blick auf die Papiere, die auf dem Tisch ausgebreitet lagen. »Sind das Dokumente über die Hamiltons?«
»Ja, der vierte Duke spielt ebenfalls eine Rolle, und über ihn informiere ich mich gerade.« Die Leute um uns herum begannen, ihre Sachen zusammenzupacken. Offenbar wurde der Lesesaal geschlossen. Wie hatte der Tag so schnell vergehen können?
»Mir kommt es vor, als hätte ich mich gerade erst hingesetzt«, sagte ich. »Tja, dann werde ich wohl morgen früh noch mal vorbeischauen müssen.«
Kirsty strahlte. »Glauben Sie …«, begann sie. »Wenn ich eins Ihrer Bücher mitbringe …«
»Aber natürlich. Ich signiere es gern.«
»Damit würden Sie mir eine große Freude machen!«
Als ich den Lesesaal am nächsten Morgen betrat, stellte ich fest, dass sie nicht nur Bücher – ausnahmslos gebundene, offenbar mehr als einmal gelesene Ausgaben – mitgebracht, sondern sich die Mühe gemacht hatte, Papiere bereitzulegen, die mir ihrer Meinung nach bei meinen Recherchen helfen konnten. »Es handelt sich in der Hauptsache um Familiendokumente, die einen Bezug zum Duke of Hamilton haben. Die Briefe stammen nicht von berühmten Leuten, und kaum einer weiß, dass sie sich hier befinden.«
Gerührt signierte ich alle ihre Bücher mit einem herzlichen Dankeschön für ihre Hilfe.
Die Papiere, die sie mir herausgesucht hatte, entpuppten sich als interessanter als die eigenen Briefe des Duke. Es war immer gut, eine Person auch aus der Perspektive eines anderen kennenzulernen. Am späten Vormittag hatte ich das Gefühl, alles über ihn zu wissen.
Bis ich den nächsten Brief las.
Es handelte sich um das Schreiben eines Edinburgher Arztes an seinen jüngeren Bruder, datiert auf den 19. April 1707. Nach einem halbseitigen Bericht über einen sterbenden Patienten hieß es darin: »Bei meiner Heimkehr begegnete ich Mr. Hall, an den Du Dich sicher von unserem Dinner beim Duke of Hamilton erinnerst und den der Duke sehr schätzt. Mr. Hall wirkte sehr blass. Als ich ihn darauf ansprach, versicherte er mir, es gehe ihm gut, er sei nur erschöpft nach seinem fünftägigen Ritt von Slains, dem Sitz des Earl of Erroll, wohin er im vergangenen Monat eine Verwandte des Earl aus den Western Shires gebracht habe. Die junge Dame, deren Familienname nicht Hay, sondern Paterson laute, habe den Duke of Hamilton mit ihrem angenehmen Wesen beeindruckt. Als er erfuhr, dass ihre Eltern bei der Darien-Expedition umgekommen waren, deren Scheitern der Duke als eine der größten Tragödien unserer Nation erachtet, tat er alles, um ihr bei ihrer Reise nach Norden behilflich zu sein, und beauftragte Mr. Hall, sie zu begleiten.
Damit hat der Duke wieder einmal seine Güte gegenüber all jenen bewiesen, die sich hilfesuchend an ihn wenden …«
Den Rest, einen einseitigen Lobgesang auf den Duke of Hamilton, überflog ich nur, bevor ich mich wieder der entscheidenden Stelle zuwandte.
Ich las die Passage mehrmals, bis ich wirklich glaubte, was da stand – das, was ich in meinem Buch geschrieben hatte, stimmte bis ins Detail.
Nun wagte ich überhaupt nicht mehr zu beurteilen, wo die Grenze zwischen Fiktion und Wahrheit verlief.
Ich wollte meine neuen Erkenntnisse sofort Dr. Weir mitteilen, doch als ich seine Nummer wählte, erreichte ich ihn nicht persönlich. Seine Frau sagte mir, dass er voraussichtlich erst am Sonntagnachmittag wiederkommen würde, weil er seinen Bruder in der Nähe von Glasgow besuche.
»Ach«, sagte ich enttäuscht.
»Wenn’s dringend ist, rufe ich ihn an …«
»Nein, nein, es kann bis Sonntag warten.« Aber ich hätte Dr. Weirs Rat und Ermutigung gut gebrauchen können, als ich spät am Freitagabend nach Cruden Bay zurückkehrte, zu müde, um das ungute Gefühl wirklich zu bemerken, das mich wie immer auf halbem Weg zum Cottage beschlich.
Im Innern des Häuschens, in dem Jimmy das Licht für mich angelassen hatte, sah alles aus wie immer, doch meine Figuren flüsterten mir etwas anderes ein. Ich hörte die Countess klar und deutlich sagen: »Seit Ihrem letzten Besuch in Slains hat sich viel verändert.«
Ich zweifelte nicht an ihrer Aussage.
Also setzte ich mich an den Computer, der schon auf mich wartete, und schaltete ihn ein.