Vierzehn

 

Ich strich den Zettel glatt, auf den ich diese Zeilen nach meinem Traum in jener letzten Nacht in Frankreich gekritzelt hatte. Es schien Ewigkeiten her zu sein.

Die ganze Zeit über hatte ich mich gefragt, wohin dieses Teil des Puzzles gehörte; jetzt wusste ich es.

»Guten Morgen«, begrüßte Graham mich verschlafen. Er trug bereits Jeans und Hemd, tappte aber noch barfuß herum. »Hast du Angus irgendwo gesehen?«

»Er ist mit mir aufgestanden und war schon draußen«, antwortete ich. »Alles in Ordnung.« Der Spaniel, der zusammengerollt unter dem Tisch lag, hob nur kurz den Kopf.

»Du hättest mich wecken sollen.«

»Ich dachte mir, du kannst den Schlaf sicher gebrauchen.«

»Ach.« Er bedachte mich mit einem herausfordernden Blick aus seinen grauen Augen, und ich wurde rot. »Weil ich mich heute Nacht so verausgabt habe, meinst du?«

»Nun …«

»So alt bin ich auch wieder nicht«, sagte er, trat zu mir, stützte sich mit beiden Händen auf die Armlehnen des Stuhls und küsste mich, um es mir zu beweisen. »Guten Morgen«, begrüßte er mich noch einmal.

»Guten Morgen auch.«

»Möchtest du einen Kaffee?«

»Ja, bitte.«

Graham richtete sich auf und ging hinüber zur Küche. Die Tassen, die ich tags zuvor aus dem Schrank geholt hatte, standen unberührt neben dem vollen Wasserkessel. Zum Kaffeekochen war ich nicht mehr gekommen, weil Graham mich von hinten umfasst, zu sich herumgedreht und leidenschaftlich geküsst hatte.

Diese Nacht würde mir vermutlich genauso im Gedächtnis bleiben wie Sophia die mit Moray.

»Hast du was geschafft?«, hörte ich Graham da fragen.

»Ja, die Szene, an der ich gerade dran war, ist fertig.«

»Komm ich darin auch vor?«

»Könnte man so sagen, ja.«

Graham wandte sich mir mit gerunzelter Stirn zu. »Tatsächlich? Und wer bin ich in deinem Roman?«

»Na ja, er ist keine hundertprozentige Entsprechung, sieht dir aber sehr ähnlich.«

»Wer?«

»John Moray.«

»Moray.« Er schien zu überlegen.

»Er ist Soldat im Regiment von Lee in Frankreich und wurde mit Hooke hierhergeschickt, um die Adeligen auf die Rückkehr des Königs vorzubereiten.«

»Soldat«, wiederholte Graham grinsend. »Damit kann ich leben.«

»Eher Offizier: Lieutenant-Colonel.«

»Noch besser.«

»Sein großer Bruder war der Laird of Abercairney.«

»Ach, die Morays«, sagte Graham mit einem Nicken. »Aus Strathearn. Allzu viel weiß ich nicht über die Familie, nur, dass einer der späteren Lairds, ein gewisser James Moray, von seinem Diener daran gehindert wurde, in der Schlacht von Culloden neben Bonnie Prince Charlie zu kämpfen, indem er ihm die Fußsohlen verbrühte. Aber der müsste im Jahr 1708 noch ein Junge gewesen sein.«

Handelte es sich möglicherweise um den etwa achtzehn Monate alten Jungen, von dem Moray Sophia bei ihrem ersten Ausritt erzählt hatte?

»Ich werde mich besser über die Familie informieren müssen, damit ich sehe, wie du meine Figur gestaltest. John Moray, sagst du?«

»Ja.«

»Und welche Rolle spielt er in deinem Buch?«

»Nun … er ist so etwas wie der Held.«

Das Wasser begann zu kochen, doch Graham schenkte ihm keine Beachtung. »Ach«, sagte er.

Ich nickte.

»Ich dachte, die Geschichte soll sich auf Nathaniel Hooke konzentrieren.«

»Hooke war nicht lange hier, sondern traf sich im Land mit den Adeligen. Moray hingegen hielt sich den ganzen Mai und Anfang Juni in Slains auf.«

»Verstehe.« Der Wasserkessel schaltete selbsttätig ab. Graham lehnte sich, die Arme vor der Brust verschränkt, gegen die Arbeitsfläche. »Und was hat er so getrieben, dein John Moray, in der Zeit, die er hier verbrachte?«

»Ach, dies und das.« Seinem Blick war anzusehen, dass er meine Gedanken erahnte.

»Spielt in der Geschichte auch eine Frau eine Rolle?«

»Könnte schon sein.«

»Nun denn.« Ich wusste, was er vorhatte, noch bevor er sich von der Arbeitsfläche löste, musste aber trotzdem lachen, als er mich mühelos hochhob.

»Graham!«

»Du sagst doch immer, dass deine Schilderungen realistisch sein sollen.« Er trug mich in Richtung Schlafzimmer. »Und mein Dad meint«, fügte er mit einem schelmischen Grinsen hinzu, »ich soll dir bei deinen Recherchen helfen, so gut ich kann.«

Das Telefon klingelte.

Ich drehte mich im Halbschlaf um. Auf dem Kissen neben mir konnte ich noch den Abdruck sehen, den Grahams Kopf hinterlassen hatte. Doch er selbst war fort.

Vor dem Gehen hatte er mich geküsst und die Decke ordentlich über mich gebreitet, aber an seine Worte konnte ich mich beim besten Willen nicht erinnern. Und jetzt hatte ich keine Ahnung, wie spät es war. Von draußen drang so etwas wie Dämmerlicht herein.

Als das Telefon nicht aufhörte zu klingeln, stand ich auf, um ranzugehen.

»Du bist also doch da«, hörte ich die Stimme meines Vaters sagen. »Ich hab’s vorhin schon mal probiert, aber da warst du nicht daheim. Wo treibst du dich denn immer rum?«

»Ach, ich war unterwegs.«

»Wegen Recherchen?«

Was für ein Glück, dass er mein Gesicht nicht sehen konnte. »Ja, so ähnlich.«

»Meine Liebe, ich würde mich gern mit dir unterhalten. Ross McClelland hat angerufen.«

»Und?«, fragte ich.

»Er hat rausgefunden, dass eine Anna Mary Paterson im August 1706 beerdigt wurde, nicht weit weg von Kirkcudbright, auf dem Land.«

»Ach.«

»Ich finde, es wäre an der Zeit, dass du mir verrätst, woher du deine Informationen hast.«

»Das kann ich nicht.«

»Warum nicht?«

»Weil du mich dann vielleicht für verrückt hältst.«

»Liebes«, erklärte er trocken, »erinnerst du dich noch? Bei der Publikation deines ersten Buchs hab ich dich gefragt, wie du an deine Geschichten kommst, und du hast geantwortet, du würdest die Stimmen deiner Figuren im Kopf hören und einfach aufschreiben, was sie sagen.«

Ja, daran erinnerte ich mich.

»Wenn ich dich damals nicht in die Klapsmühle gebracht hab, dann werd ich’s jetzt wohl auch nicht tun, oder?«

»Aber diesmal ist es anders.«

»Tja, dann erklär mir’s.«

»Daddy, du bist Ingenieur.«

»Was soll das denn heißen? Dass ich borniert bin?«

»Es heißt, dass du nicht an Dinge glaubst, die sich nicht beweisen lassen.«

»Versuch’s einfach mal«, schlug er geduldig vor.

Ich holte tief Luft und erklärte ihm alles. Um die Sache ein wenig wissenschaftlicher klingen zu lassen, erwähnte ich auch die Informationen von Dr. Weir, aber am Ende musste ich gestehen: »Offenbar habe ich ihre Erinnerungen geerbt, und mein Aufenthalt hier in Slains scheint sie nach oben gespült zu haben.«

»Interessant«, brummte er nach kurzem Schweigen.

»Siehst du? Du hältst mich also doch für verrückt.«

»Hab ich das gesagt?«

»Das brauchst du nicht. Ich erinnere mich noch genau an deine Reaktion auf Tante Ellens Behauptung, sie habe einen Geist gesehen.«

»Hier geht’s nicht um Geister, sondern um die DNA, und bei der ist alles möglich. Weißt du, dass man sie heutzutage in der Genealogie zur Überprüfung bestimmter Linien heranzieht? Wenn Ross McClelland und ich einen Bluttest machen lassen würden, wären die gleichen Marker auf unserer DNA sichtbar, weil wir von ein und demselben Urvater abstammen.«

»Von David John McClellands Vater«, sagte ich stirnrunzelnd.

»Genau, von Hugh. Er hatte zwei Söhne, David John und William, starb aber, als sie noch sehr klein waren, und die beiden Jungen landeten irgendwie in Nordirland, wahrscheinlich bei Verwandten. Die schottischen Presbyterianer hatten sich in Ulster angesiedelt, doch ihre Söhne schickten sie zur Partnersuche gern nach Schottland. Deshalb sind unsere McClellands vermutlich auch nach Kirkcudbright gelangt. William hat dort tatsächlich eine Frau kennengelernt und ist nie nach Irland zurückgekehrt. Und David fand Sophia.«

Ich schwieg, weil ich nur ungern daran erinnert wurde, dass Sophia das Leben am Ende nicht mit Moray teilte.

»Schade«, sagte mein Vater, »dass du nicht Davids Erinnerungen geerbt hast. Ich würde gern mehr über seine frühen Jahre in Irland, vor seiner Hochzeit, erfahren, weil die Familienbibel erst damit beginnt.«

»Ich hab’s gewusst«, sagte ich.

»Was?«

»Du glaubst mir also nicht, oder?«

»Ob ich dir glaube oder nicht, spielt keine Rolle. Da ich keine eigene Theorie bieten kann, wie du plötzlich an all diese Namen und Daten kommst, ergibt die vom genetischen Gedächtnis genauso viel Sinn wie jede andere.«

»Na, danke.«

»Ich hatte gehofft, du hättest ein Buch oder so was gefunden.«

»Tut mir leid, da muss ich dich enttäuschen.«

»Du enttäuschst mich nicht«, erklärte er. »Schließlich hab ich es dir zu verdanken, dass ich jetzt über zwei weitere Generationen von Patersons Bescheid weiß. Wie gesagt: Ich bin offen für alles.«

Doch ich wollte ihm noch nicht verraten, dass Sophias Ehe mit unserem Vorfahren McClelland möglicherweise nicht ihre erste gewesen war; dass sie sich vermutlich drei Jahre zuvor per Handschlag mit einem jungen Lieutenant-Colonel in Diensten des französischen Königs verbunden hatte.

Mein Vater hätte mit Sicherheit keine Belege dafür gefunden, und selbst wenn, wollte ich Sophias Geheimnis bewahren, auch wenn mit der Veröffentlichung des Buchs nichts mehr geheim wäre. Bis dahin fühlte ich mich verpflichtet, Sophias und Morays kurze Zeit des Glücks zu schützen.

Das schottische Vermächtnis: Roman
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