19  

 

In jenen Tagen verließ Sophia das Haus nicht oft. Obwohl inzwischen zwei Monate vergangen waren und der Frühling mildere Lüfte vom Meer hereinwehte, blieb sie mit Mrs. Malcolm, Kirsty und ihrer kleinen Tochter im Haus und ging nur hinaus, wenn ihre innere Unruhe sie zu übermannen drohte.

Sie hatten nichts von Mr. Malcolm gehört und wussten nicht, wie es ihm ging. Immer mehr Männer wurden festgenommen und ins Gefängnis gesteckt, und im Norden sah es nicht besser aus. Der einzige Trost stammte aus einer Nachricht des Duke of Perth an seine Schwester, die Countess, von der diese in einem Brief berichtete: »Mr. Perkins«, sie verwendete wieder seinen Decknamen, »teilt mir mit, dass er vor Kurzem Ihren Gatten Mr. Milton besucht hat, der von seiner Krankheit genesen ist und ungeduldig darauf wartet, wieder auf die Beine zu kommen.« Was bedeutete, dass Moray sicher nach Frankreich gelangt war und sich von seinen Verletzungen erholt hatte.

Dieses Wissen beruhigte sie, genau wie der Anblick ihrer kleinen Anna in der Wiege, und jeden Tag ermahnte sie sich von Neuem, ihr zuliebe vorsichtig zu sein.

An jenem Tag hätte sie sich nicht auf die Straße gewagt, wenn Mrs. Malcolms Magd nicht krank geworden wäre, so dass jemand anders zum Markt gehen musste. Kirsty hatte sich erboten, doch da sie ebenfalls krank gewesen und noch nicht gänzlich wiederhergestellt war, wollte Sophia davon nichts hören. Und Mrs. Malcolm hatten schon zweimal Soldaten angesprochen, die nach ihrem Mann suchten.

Sophia machte sich vor Tagesanbruch auf den Weg und erreichte die ersten Häuser von Edinburgh am frühen Morgen.

Als sie das Geräusch sich von hinten nähernder Hufe und Räder hörte, drehte sie sich neugierig um. Die Kutsche sah teuer aus, der Fahrer trug eine prächtige Livree, und die Pferde wirkten gut genährt und gepflegt.

Da hörte sie aus dem Innern eine Stimme, die den Kutscher anwies stehen zu bleiben, und am Fenster erschien ein Gesicht, das Sophia kannte.

»Mistress Paterson!«, rief Mr. Hall aus. »Was machen Sie denn hier? Steigen Sie ein – Sie sollten auf diesen Straßen nicht allein herumlaufen.«

Bei ihrem Aufbruch hatte sie Sorge gehabt, dass man sie als Mrs. Milton erkennen würde, die im Haus von Mr. Malcolm wohnte, aber es war ihr keinen Moment in den Sinn gekommen, dass jemand sie als Mistress Paterson ansprechen könnte. Ihr blieb nichts anderes übrig, als sich von dem Geistlichen in die Kutsche helfen zu lassen.

In der noch jemand saß.

»Ein höchst unerwartetes Vergnügen«, begrüßte sie der Duke of Hamilton. Er trug ein tiefblaues Samtgewand und eine neue, teure Perücke, die in dunklen Locken bis über seine Schultern reichte.

»Duke«, erwiderte Sophia, der die Kutsche plötzlich schrecklich eng erschien, mit gesenktem Blick.

»Wo wollen Sie denn hin heute Morgen?«

»Ach, nur zum Markt.«

»Gut, dann also zum Markt«, wiederholte der Duke, und Mr. Hall beugte sich zum Fenster hinaus, um den Kutscher über das Ziel zu informieren.

»Ich wusste gar nicht, dass sich die Countess in Edinburgh aufhält«, erklärte der Duke.

»Lady Erroll ist in Slains«, erwiderte Sophia, die nicht mehr an seinen Tanz der Wörter gewöhnt war, unumwunden.

»Aber Sie halten sich doch sicher nicht allein hier auf, oder?«

»Ich bin bei Freunden.« Sie sah ihn mit einem unschuldigen Blick an. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr es mich freut, Sie gesund und wohlbehalten anzutreffen. Wir hatten gehört, Sie seien von den Engländern gefangen genommen worden, und fürchteten schon das Schlimmste.«

»Ihre Sorge rührt mich, meine Liebe, aber es war mir eine Ehre, gefangen genommen zu werden. Hätte ich meine Landsleute doch nur in Ketten begleiten können, um der Sache des Königs zu dienen!«

Sophia wusste von der Countess, dass er sich zum Zeitpunkt des Invasionsversuchs auf seinen Gütern in Lancashire aufgehalten hatte. Die Kunde vom Aufbruch des Königs war ihm so rechtzeitig überbracht worden, dass er sich dem Unternehmen hätte anschließen können, aber er war unter dem fadenscheinigen Vorwand in Lancashire geblieben, er wolle nicht unnötig die Aufmerksamkeit der Engländer erregen. So hatte er das Ergebnis ruhig abwarten und seine Reaktion danach ausrichten können.

Immerhin war er der Festnahme durch die Engländer nicht entgangen, auch wenn er sich mit seiner bekannten Schläue befreit hatte. Durch Verrat?, fragte sich Sophia.

»Haben Sie die anderen Adeligen in London gesehen?«, erkundigte sich Sophia, nachdem er ausführlich von seiner Gefangennahme und seiner Fahrt in die Hauptstadt erzählt hatte. »Wie geht es ihnen?«

»Haben Sie das denn nicht gehört? Man hat sie alle freigelassen. Außer den Angehörigen der Gentry von Stirlingshire natürlich, aber für die konnte ich nun wirklich nichts tun – sie hatten zu den Waffen gegriffen. Allerdings bin ich ziemlich sicher, dass man sie gerecht behandeln wird.«

»Der Duke hat es freundlicherweise auf sich genommen, sich für seine Mitgefangenen einzusetzen«, erklärte Mr. Hall Sophia.

Sophia hörte das mit einer Mischung aus Dankbarkeit und Argwohn. Natürlich freute es sie, dass der Earl of Erroll und die anderen nun frei waren und bald nach Hause kämen, doch der Duke hatte sich bestimmt nicht uneigennützig für sie ausgesprochen.

Die Kutsche kam holpernd auf dem Kopfsteinpflaster einer belebten Straße zum Stehen. »Der Markt«, verkündete der Duke.

Sophia beugte sich in ihrer Hast, der Enge der Kutsche zu entkommen, so plötzlich vor, dass die Kette unter ihrem Gewand herausglitt und der Silberring kurz im Licht aufglänzte, bevor sie ihn wieder zurücksteckte.

Nicht schnell genug.

Der Duke hatte ihn gesehen, das wusste sie. »Ich muss jetzt ein paar Dinge erledigen«, erklärte er, »schicke Ihnen aber meinen Kutscher, damit er Sie sicher zu … Ihren Freunden … zurückbringt, sobald Sie hier fertig sind.«

Sie bemühte sich, ganz ruhig zu bleiben. »Sehr freundlich, doch da ich verabredet bin, besteht dazu keine Notwendigkeit.«

»Meine liebe Mistress Paterson, ich muss darauf bestehen«, widersprach er. »Mr. Hall wird Sie begleiten und aufpassen, dass Ihnen nichts passiert.«

Sie saß in der Falle, und das wusste er. Seine Augen funkelten aus der Kutsche heraus wie die eines Raubtiers. »Ihr ergebenster Diener, Mistress Paterson«, verabschiedete er sich, bevor er seinem Kutscher Anweisung gab weiterzufahren.

»Nun«, fragte Mr. Hall, »was wollen Sie kaufen?«

Sophia sah sich um. Der Marktplatz wurde von hohen Mietshäusern gesäumt, deren Schatten auf das grobe Kopfsteinpflaster fielen. Auf dem Hügel dahinter erhob sich majestätisch Edinburgh Castle. Auf den ersten Blick konnte Sophia keine Fluchtmöglichkeit erkennen.

Dann entdeckte sie einen kleinen Stand neben einem schmalen Durchgang und zwang sich zu einem Lächeln. »Die Bänder dort drüben würde ich mir gern genauer ansehen.«

»Wie Sie wünschen.«

Sophia hatte ein schlechtes Gewissen, den Geistlichen hinters Licht zu führen, aber es blieb ihr nichts anderes übrig.

Sie musste an Morays Warnung denken: »Er darf nicht erfahren, dass du mir gehörst.«

Zu spät, dachte Sophia, zu spät.

Die Reaktion des Duke auf den Ring ließ darauf schließen, dass er wusste, wem er gehörte. Aber von dem Kind würde er nichts erfahren, dafür würde sie sorgen.

Mittlerweile hatten sie den Stand erreicht, auf dem Bänder, Spitze und Seide zum Verkauf angeboten wurden. Sophia nahm nacheinander mehrere in die Hand und stieß dann wie durch ein Versehen drei Spulen herunter, die sich abwickelten und Verwirrung bei den Vorbeigehenden stifteten.

»Oh!«, rief sie aus und entschuldigte sich voller Bestürzung.

»Kein Problem«, versicherte Mr. Hall ihr und half der Verkäuferin, die Spulen einzusammeln. »Ich bringe das wieder in Ordnung.«

Sophia wartete, bis alle in ihre Aufgabe vertieft waren, bevor sie in den dunklen Durchgang zwischen den Häusern schlüpfte und zu rennen begann, so schnell ihre Füße sie trugen. Die Gasse stank nach Abfall, aber zum Glück führte sie auf eine steil nach unten gehende, offenbar menschenleere Straße, von der aus sie sich einen Weg zu einem Friedhof mit hoher Steinmauer und Tor suchte, wo sie sich zwischen den schiefen Grabsteinen versteckte.

Sie wagte es nicht, bei Tageslicht auf die Straße zurückzukehren, weil der Duke sie dort zuerst suchen würde, also beschloss sie zu warten, bis es dunkel wäre.

Der Nachmittag zog sich scheinbar endlos dahin. Der Kopf tat ihr weh, der Magen knurrte, die Zunge klebte trocken am Gaumen, und bei jedem Schritt, den sie jenseits der Mauer vernahm, begann ihr Herz wie wild zu klopfen.

Als die Schatten länger und die Geräusche von der Straße leiser wurden, atmete sie tief durch, streckte die verkrampften Glieder und machte sich vorsichtig auf den langen Heimweg. Beim Haus der Malcolms war sie fast am Ende ihrer Kräfte.

Kirsty und ihre Gastgeberin empfingen sie mit aufgeregten Fragen, doch bevor sie sie beantwortete, wollte sie von Kirsty wissen: »Ist in der Zwischenzeit jemand hier gewesen?«

»Nein«, sagte Kirsty voller Angst. »Was ist denn passiert?«

»Wir müssen weg.« Sophia sah Mrs. Malcolm an. »Können Sie zu dieser späten Stunde noch Pferde oder eine Kutsche für uns besorgen?«

»Ich versuche es.«

»Und Anna … Wir müssen sie fest einpacken, damit sie nicht friert.«

»Sophia«, fragte Kirsty noch einmal, »was ist passiert?«

»Hier sind wir nicht mehr sicher«, erklärte Sophia.

»Aber …«

»Wir sind nicht mehr sicher«, wiederholte Sophia.

Es war das Beste, wenn Mrs. Malcolm so wenig wie möglich über ihre Reise erfuhr, weil ihr dann niemand etwas entlocken konnte.

Sie mussten zur Countess zurückkehren, denn sie allein würde wissen, was zu tun sei, dachte Sophia.

Es hatte zu schneien angefangen, das letzte schwache Aufbäumen des Winters. Der Wind fuhr eisig in meine Kleidung, bis Graham meine Jacke zuknöpfte. Als er sein gestreiftes Rugby-Shirt darunter entdeckte, musste er lachen.

»Lass dich darin mal lieber nicht von meinem Bruder erwischen«, riet er mir.

»Macht’s dir wirklich nichts aus, wenn ich es mitnehme?«

»Du hast es dieses Wochenende öfter getragen als ich in den letzten Jahren. Außerdem steht dir die Farbe.« Als der Wind weitere Schneeflocken heranwehte, drückte er mich fester an sich.

Ich empfand es als merkwürdig, Zärtlichkeiten in aller Öffentlichkeit auszutauschen, an einer Bushaltestelle, umringt von anderen Menschen. In Aberdeen begann ich zu ahnen, wie die Zukunft aussehen konnte und würde. Und diese Aussicht gefiel mir.

»Was ist?«, fragte Graham.

»Nichts. Es war ein wirklich schönes Wochenende.«

»Du musst nicht fahren.«

»Alle wissen, dass ich heute zurückkomme, und ich möchte deinen Vater nicht beunruhigen.« Ich hob den Kopf, um ihm in die Augen zu sehen. »Schließlich kannst du ihn nicht einfach anrufen und ihm sagen, wo ich bin, oder?«

Graham grinste. »So puritanisch ist mein Dad auch wieder nicht.«

»Trotzdem.« Ich warf einen Blick auf die Uhr über der Haltestelle. »Der Bus hat Verspätung.«

»Kein Problem.«

»Du musst nicht mit mir warten. Natürlich ist es sehr edel von dir, dass du mich begleitet hast, aber …«

»Und wer ist daran schuld? Du hättest dich von mir zurückfahren lassen können.«

»Und du hättest mich ein Taxi nehmen lassen sollen«, erwiderte ich.

»Aye, aber kein echter Schotte würde seiner Freundin gestatten, dreißig Pfund fürs Taxi rauszuwerfen, wenn der Bus sie für fünf ans Ziel bringt.«

»Dann bin ich also deine Freundin?«

»Aye.« Er drückte mich fester an sich. »Du warst die Meine, vom ersten Augenblick an.«

Mit genau diesen Worten hatte sich Moray von Sophia verabschiedet. »Du hast heimlich mein Buch gelesen.«

»Nein. Warum?«

»Weil mein Held darin fast das Gleiche sagt.«

»Dein Held … Oje, fast hätt ich’s vergessen. Nein, da ist es ja.« Er zog einen langen Umschlag aus der Innentasche seiner Jacke. »Das habe ich über die Morays herausfinden können. Viel ist es nicht, nur der Familienstammbaum mit den Geburts-, Sterbe- und Heiratsdaten, wenn dir das was nützt.«

Ich bedankte mich.

»So sicher bin ich mir nicht mehr, ob ich dieser John Moray sein möchte«, sagte er. »Er …«

»Nein, verrat’s mir nicht.«

Ich bückte mich, um das Kuvert in meine Tasche zu stecken. Was aus Moray geworden war, würde ich noch früh genug erfahren.

Das schottische Vermächtnis: Roman
titlepage.xhtml
CR!1CQCEY335D0N574D1WZK8WTEXSC5_split_000.html
CR!1CQCEY335D0N574D1WZK8WTEXSC5_split_001.html
CR!1CQCEY335D0N574D1WZK8WTEXSC5_split_002.html
CR!1CQCEY335D0N574D1WZK8WTEXSC5_split_003.html
CR!1CQCEY335D0N574D1WZK8WTEXSC5_split_004.html
CR!1CQCEY335D0N574D1WZK8WTEXSC5_split_005.html
CR!1CQCEY335D0N574D1WZK8WTEXSC5_split_006.html
CR!1CQCEY335D0N574D1WZK8WTEXSC5_split_007.html
CR!1CQCEY335D0N574D1WZK8WTEXSC5_split_008.html
CR!1CQCEY335D0N574D1WZK8WTEXSC5_split_009.html
CR!1CQCEY335D0N574D1WZK8WTEXSC5_split_010.html
CR!1CQCEY335D0N574D1WZK8WTEXSC5_split_011.html
CR!1CQCEY335D0N574D1WZK8WTEXSC5_split_012.html
CR!1CQCEY335D0N574D1WZK8WTEXSC5_split_013.html
CR!1CQCEY335D0N574D1WZK8WTEXSC5_split_014.html
CR!1CQCEY335D0N574D1WZK8WTEXSC5_split_015.html
CR!1CQCEY335D0N574D1WZK8WTEXSC5_split_016.html
CR!1CQCEY335D0N574D1WZK8WTEXSC5_split_017.html
CR!1CQCEY335D0N574D1WZK8WTEXSC5_split_018.html
CR!1CQCEY335D0N574D1WZK8WTEXSC5_split_019.html
CR!1CQCEY335D0N574D1WZK8WTEXSC5_split_020.html
CR!1CQCEY335D0N574D1WZK8WTEXSC5_split_021.html
CR!1CQCEY335D0N574D1WZK8WTEXSC5_split_022.html
CR!1CQCEY335D0N574D1WZK8WTEXSC5_split_023.html
CR!1CQCEY335D0N574D1WZK8WTEXSC5_split_024.html
CR!1CQCEY335D0N574D1WZK8WTEXSC5_split_025.html
CR!1CQCEY335D0N574D1WZK8WTEXSC5_split_026.html
CR!1CQCEY335D0N574D1WZK8WTEXSC5_split_027.html
CR!1CQCEY335D0N574D1WZK8WTEXSC5_split_028.html
CR!1CQCEY335D0N574D1WZK8WTEXSC5_split_029.html
CR!1CQCEY335D0N574D1WZK8WTEXSC5_split_030.html
CR!1CQCEY335D0N574D1WZK8WTEXSC5_split_031.html
CR!1CQCEY335D0N574D1WZK8WTEXSC5_split_032.html
CR!1CQCEY335D0N574D1WZK8WTEXSC5_split_033.html
CR!1CQCEY335D0N574D1WZK8WTEXSC5_split_034.html
CR!1CQCEY335D0N574D1WZK8WTEXSC5_split_035.html
CR!1CQCEY335D0N574D1WZK8WTEXSC5_split_036.html
CR!1CQCEY335D0N574D1WZK8WTEXSC5_split_037.html
CR!1CQCEY335D0N574D1WZK8WTEXSC5_split_038.html
CR!1CQCEY335D0N574D1WZK8WTEXSC5_split_039.html
CR!1CQCEY335D0N574D1WZK8WTEXSC5_split_040.html
CR!1CQCEY335D0N574D1WZK8WTEXSC5_split_041.html
CR!1CQCEY335D0N574D1WZK8WTEXSC5_split_042.html
CR!1CQCEY335D0N574D1WZK8WTEXSC5_split_043.html
CR!1CQCEY335D0N574D1WZK8WTEXSC5_split_044.html
CR!1CQCEY335D0N574D1WZK8WTEXSC5_split_045.html
CR!1CQCEY335D0N574D1WZK8WTEXSC5_split_046.html
CR!1CQCEY335D0N574D1WZK8WTEXSC5_split_047.html