Siebzehn
»Nein, so kannst du die Geschichte nicht enden lassen. Das ist viel zu traurig«, sagte Jane und knallte die letzten Seiten des Manuskripts auf den dunklen Holztisch des Kilmarnock Arms, so dass unsere Teller klapperten.
»Aber so ist es gewesen.«
»Egal. Schlimm genug, dass du den Mann von dem armen Mädchen umgebracht hast, aber dass sie nun auch noch ihr Kind verlässt …« Sie schüttelte ungläubig den Kopf.
»Jane …«
»Das ist nicht richtig«, erklärte sie. »Eine Mutter würde so etwas nicht tun.«
»Hm, ich weiß nicht.« Ich glaubte, Sophias Beweggründe zu verstehen, auch wenn ich selbst keine Kinder hatte, doch meine Erklärungsversuche interessierten Jane nicht.
»Wie gesagt: Das Ende ist viel zu traurig. Du wirst es ändern müssen.«
»Das kann ich nicht.«
»Natürlich geht das. Hol Moray von Frankreich oder Flandern oder wo auch immer zurück.«
»Aber er ist gefallen.« Ich hielt ihr die Ausdrucke hin, die Graham mir gegeben hatte. »Siehst du? Da, auf Seite drei. John Moray, seinen Wunden erlegen.«
Sie warf einen zweifelnden Blick darauf.
»Hier steht es schwarz auf weiß«, sagte ich. »Da sind Moray, seine Schwester und sein Onkel Patrick Graeme. Ich kann nicht einfach das Schicksal echter Menschen ändern, Jane. Die Geschichte lässt sich nicht umschreiben.«
»Sophia ist nicht real, sondern eine Figur in einem Roman, deine Schöpfung«, widersprach Jane. »Du wirst ihr doch irgendwie ein Happy End schreiben können.« Sie schob mir mein Manuskript hin. »Versuch’s wenigstens. Dein Abgabetermin ist erst in ein paar Wochen. Übrigens …« Sie nahm einen Schluck Kaffee. »Was soll ich sagen, wenn man mich fragt, was du als Nächstes schreiben willst? Du hast was von Italien erwähnt, aber an die Einzelheiten erinnere ich mich nicht mehr.«
Auch ich nahm einen Schluck Kaffee. »Eigentlich«, antwortete ich, »hatte ich vor, noch eine Weile in Schottland zu bleiben.«
»Ach.« Sie spitzte die Ohren.
»Ich hab da so eine Idee für einen Roman über einen der schottischen Könige im fünfzehnten Jahrhundert, James I. Er führte ein ziemlich abenteuerliches Leben und wurde am Ende von einem Verräter ermordet. Es gibt ein langes viktorianisches Gedicht mit dem Titel ›The King’s Tragedy‹ über ihn. Ich möchte die Geschichte aus der Perspektive seiner Frau erzählen …«
»Wurde die auch umgebracht?«, fragte Jane trocken.
»Nein.«
»Gott sei Dank. Ich hatte schon befürchtet, es könnte ein neuer Trend in deinen Büchern werden, alle Identifikationsfiguren über die Klinge springen zu lassen.« Sie sah mich über den Rand ihrer Tasse hinweg an. »Interessante Story, wird dem Verlag gefallen. Schottland verkauft sich.«
»Ja, das hast du schon mal gesagt.«
»Und natürlich würde es mich freuen, wenn du hier in der Nähe wärst – immer vorausgesetzt, du entscheidest dich für Cruden Bay.«
»Mir gefällt das Cottage.«
»Ja, das weiß ich. Ich dachte nur, das Recherchieren wäre vielleicht weniger anstrengend, wenn du in der Nähe einer Uni mit anständiger Bibliothek wohnen würdest.« Sie sah mich von der Seite an. »Zum Beispiel in Aberdeen.«
Ich wollte gerade eine unverbindliche Bemerkung machen, als jemand an die Fensterscheibe klopfte. Stuart signalisierte mit einer Geste, dass er hereinkommen würde.
Jane hob fragend eine Augenbraue. »Ist das ein Freund von dir?«
»Der Sohn von meinem Vermieter.«
»Tatsächlich?« Es war ihr anzusehen, was sie dachte.
Da trat Stuart ein, Graham im Schlepptau, der mich mit einem Lächeln begrüßte, sich aber im Hintergrund hielt, während ich alle vorstellte.
Stuart setzte sich neben mich in die Nische und stützte den Arm auf das Fensterbrett dahinter. »Ich glaube, wir hatten schon mal telefonisch das Vergnügen«, sagte er zu Jane, »in der Nacht, in der Carrie sich den Knöchel verstaucht hat.«
»Ach, das waren Sie?« Jane konzentrierte sich ganz auf ihn und beachtete Graham kaum, der ihr gegenüber Platz nahm und belustigt beobachtete, wie Stuart näher zu mir rutschte und Jane uns neugierig ansah. Graham berührte unter dem Tisch leicht meinen Fuß mit seinem.
»Und«, erkundigte sich Stuart, »was gibt’s Neues?«
»Jane hat mir gerade mitgeteilt, dass ihr der Schluss von meinem Buch nicht gefällt«, antwortete ich.
»Haben Sie’s gelesen?«, fragte Jane Stuart.
»Nein, noch nicht. Ist es das?« Er drehte die Manuskriptseiten auf dem Tisch in seine Richtung. »Ich wusste gar nicht, dass Carrie es schon fertig hat.«
»Hat sie auch nicht«, sagte Jane, und ich widersprach nicht. »Es endet zu traurig. Helfen Sie mir, sie davon zu überzeugen, dass es gut ausgehen muss.«
»Ich kann’s versuchen.« Er rutschte dicht an mich heran, als die Kellnerin unsere Teller abräumte und fragte, ob wir noch etwas zu trinken wollten.
Die Männer bestellten ein Bier, ich einen zweiten Kaffee, und Jane sagte: »Für mich nichts mehr. Ich hab Alan versprochen, dass ich um drei wieder zu Hause bin. Alan ist mein Mann«, erklärte sie Stuart und packte ihre Sachen zusammen. »Schön, Sie kennengelernt zu haben.«
»Ganz meinerseits.«
»Und Ihren Bruder. Graham, nicht wahr?« Sie reichte ihm die Hand. »Hat Ihnen der Kuchen geschmeckt?«
Das kam überraschend.
»Aye, sehr«, antwortete er amüsiert.
»Das freut mich.« Sie bedachte mich mit einem triumphierenden Lächeln. »Ich ruf dich später an, Carrie.«
»Nette Frau«, bemerkte Stuart, als sie weg war. Offenbar hatte er die Sache mit dem Kuchen nicht mitbekommen. Er trommelte geistesabwesend mit den Fingern auf meinem Manuskript herum. »Warum soll ich Sie überzeugen, dass Sie das Buch gut ausgehen lassen? Ist Ihr Ende denn wirklich so traurig?«
»Der Held stirbt.«
»Ach.«
»Und die Heldin verlässt ihr einziges Kind.«
»Hm, das ist wirklich ein starkes Stück«, sagte Stuart. »Lassen Sie den Helden am Leben.«
»Das geht nicht. Es hat ihn wirklich gegeben, und wenn er stirbt, stirbt er, daran kann ich nichts ändern.«
»Dann beenden Sie die Geschichte doch einfach vor seinem Tod.«
Eine simple Lösung, die viele meiner Probleme gelöst hätte, das musste ich zugeben. Doch leider war das Leben nur selten so einfach.
Das kam mir eine Stunde später besonders deutlich zu Bewusstsein, als wir das Kilmarnock Arms zu dritt verließen und in Richtung Hafen gingen. Stuart war angeheitert und legte mir den Arm um die Schultern. Graham, der sich hinter uns befand, schien das nichts auszumachen.
Genauso wenig wie die Tatsache, dass Stuart ankündigte, er werde mich zum Cottage begleiten.
»Geht ruhig«, sagte Graham. »Ich schau noch bei Dad vorbei.« Er berührte kurz meinen Arm. »Wir sehen uns später.«
Stuart trottete fröhlich plappernd den Pfad mit mir hinauf, und als ich die Tür zum Cottage aufschloss, trat er ein. Mitten im Satz hörte er auf zu reden.
Ich drehte mich erstaunt zu ihm um.
Er starrte von der Tür aus das Rugby-Shirt an, das über dem Stuhl am Tisch hing. Nach einer Weile wanderte sein Blick zu mir. Zum Glück lag keine echte Enttäuschung darin. »Sie wollen nicht mich, stimmt’s?«, fragte er. »Sie wollten mich von Anfang an nicht.«
»Tut mir leid«, antwortete ich.
»Nein, ist schon recht«, sagte er und wandte sich zum Gehen. »Wenn Sie mich bitte entschuldigen würden … Ich muss jetzt meinen Bruder verprügeln.«
»Stuart.«
»Keine Sorge, seine wichtigen Teile rühr ich nicht an.«
»Stuart.«
»Wissen Sie, was das Schlimmste ist? Ich hab nicht mal ein gutes Gegenargument. Selbst ich weiß, dass er die bessere Wahl ist.«
Dann schloss er die Tür mit einem Lächeln hinter sich.
»Hab ich’s dir nicht gesagt?«, fragte Graham, als er seinen nächsten Zug auf dem Schachbrett plante, das ich in einem Schrank im Cottage gefunden hatte.
Ich sah Graham an. »Du glaubst, er verkraftet den Korb?«
»Stuie? Aye. Der wird sich heute Abend in den Pubs von Peterhead einen Ersatz für dich anlachen.«
Graham bewegte seinen Springer. »Ich hab über dein Problem mit dem Buch nachgedacht.«
»Ach ja?«
»Du sagst, nach dem Tod von Moray muss die Witwe das Kind verlassen?«
»Ja.«
»Könnte sie es denn nicht irgendwie behalten? Als meine Mutter starb, waren Stuart und ich der einzige Trost für meinen Vater. Ein Mensch in Trauer ist wie ein Ertrinkender: Wenn er sich an nichts klammern kann, verliert er die Hoffnung.«
Da pflichtete ich ihm bei. »Aber für meine Heldin ist die Sache nicht so einfach.« Ich erklärte ihm die Situation und machte meinen nächsten Zug.
Er ließ sich nicht von seiner Meinung abbringen. »Ich würde sie das Kind trotzdem behalten lassen.«
»Nun, du bist ein Mann, und Männer denken anders. Für eine Frau Anfang des achtzehnten Jahrhunderts wäre es mit Sicherheit schwierig gewesen, ein Kind allein aufzuziehen.«
Er schob seine Königin vor und nahm mir meinen Läufer.
»Und was«, fragte ich, »willst du machen, wenn mein Bauer es auf die andere Seite schafft und ich meinen Läufer zurückfordere?«
Graham grinste. »Schafft er aber nicht, denn ich sage ›Schach‹.«
Er hatte recht. Auf den ersten Blick konnte ich keine Möglichkeit erkennen, meinen König in Sicherheit zu bringen, aber weil ich noch nicht »schachmatt« war, musste es eine geben …
»Ich würde ihr jemand an die Seite stellen«, schlug Graham vor. »Lass sie einen anderen Mann kennenlernen, den sie lieben kann.«
»Aber sie will keinen anderen.«
Obwohl ich wusste, dass Sophia nur ein Jahr nach den Geschehnissen, die ich in meinem Buch beschrieb, meinen Vorfahren geheiratet hatte. Warum?, fragte ich mich.
Vielleicht lag die Lösung für mein Problem nicht in Slains. Plötzlich wurde mir alles klar. Ich verschob eine Figur auf dem Schachbrett, so dass mein König durch einen Bauern geschützt war und der Weg für meinen zweiten Läufer frei wurde. »Schachmatt.«
Graham sah mich erstaunt an. »Wie zum Teufel hast du das gemacht?«
Offen gestanden, wusste ich das selbst nicht. Aber eines ahnte ich: Ich würde ähnlich wie Sophia nach Kirkcudbright fahren müssen, weil dort das Ende meiner Geschichte auf mich wartete.