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Sie kämpfte gegen die Müdigkeit an, die sie in Wellen zu übermannen drohte, in dem Rhythmus, in dem sich ihr Pferd vorwärtsbewegte. Immer wieder spürte sie, wie ihr Körper fast der Versuchung nachgab. Dunkelheit umfing sie, sie begann, vom Sattel zu gleiten, das Gleichgewicht zu verlieren, schreckte wieder hoch. Sie packte die Zügel fester. Das Pferd, das mit Sicherheit genauso müde war wie sie selbst, reagierte mit einem verärgerten Kopfschütteln und richtete ein Auge vorwurfsvoll nach hinten.
»Sie sind müde?«, fragte der Geistliche, der neben ihr herritt. »Es ist nicht mehr weit. Ich würde unsere Reise gern noch heute zu Ende bringen, aber wenn Sie das Gefühl haben, dass Sie nicht mehr können …«
»Doch, doch, Mr. Hall.« Sie straffte die Schultern. Nein, so kurz vor dem Ziel würde sie nicht aufgeben. Vor zwei Wochen war sie von den Western Shires aufgebrochen, und inzwischen taten ihr alle Knochen weh vom Reiten. Der kurze Zwischenstopp vier Tage zuvor in Edinburgh hatte ihr eine Nacht in einem richtigen Bett und heißes Wasser zum Baden beschert, aber die Erinnerung daran begann bereits zu verblassen.
Sie schloss die Augen und versuchte, ihre Gedanken auf das Bett mit den gold-roten Vorhängen, die frisch gebügelten Laken und die lächelnde Magd zu richten, die den Wasserkrug und die Waschschüssel gebracht hatte, sowie auf die unerwartete Freundlichkeit ihres Gastgebers, des Duke of Hamilton. Natürlich kannte sie ihn vom Hörensagen. Es gab nur wenige, die Eindeutiges zu berichten wussten über den großen James Douglas, den Duke of Hamilton, der praktisch das Parlament in Edinburgh geleitet und lange als einer der glühendsten Patrioten Schottlands gegolten hatte.
Über seine Sympathien für den ins Exil verbannten Stuart-König in Frankreich flüsterte man hinter vorgehaltener Hand. In seiner Jugend war er wegen seiner Verwicklung in eine Jakobiten-Verschwörung verhaftet und in den Tower von London geworfen worden, was ihm die Hochachtung seiner schottischen Landsleute einbrachte, die England und seinen Gesetzen nichts abgewinnen konnten – genauso wenig wie dem im vergangenen Winter verabschiedeten Act of Union. Er raubte den Schotten mit einem schnellen, gewaltlosen Streich das bisschen Unabhängigkeit, an die sie sich seit Wallace und the Bruce geklammert hatten. Nun sollte es keine eigenständige schottische Regierung und kein Parlament mehr in Edinburgh geben. Seine Mitglieder würden auf ihre Anwesen zurückkehren, manche reicher durch den Grundbesitz, der ihnen zuerkannt worden war dafür, dass sie der Union zugestimmt hatten, andere verbittert und aufrührerisch, offen einen Waffengang diskutierend.
Nun bildeten sich plötzlich ganz neue Allianzen heraus. Selbst ihre eigenen Verwandten aus den Western Shires, alles strenge Presbyterianer und Jakobitenhasser, wollten sich angeblich mit ebendiesen verbünden, um den katholischen König James Stuart auf den schottischen Thron zu bringen. Besser ein katholischer Schotte, argumentierten sie, als Queen Anne von England, oder schlimmer noch: der deutsche Prinz, den die Königin zu ihrem Nachfolger bestimmt hatte.
Als sie den Duke of Hamilton kennenlernte, fragte sie sich, welche Haltung er zu diesem Thema einnahm. Jedenfalls konnte es keine Pläne für die Rückkehr der Stuarts auf den Thron geben, ohne dass er davon gewusst hätte – dazu besaß er zu gute Verbindungen und zu viel Macht. Manche nannten ihn immer noch einen Jakobiten, obwohl er eine englische Frau sowie Ländereien im englischen Lancashire hatte und sich an Queen Annes Hof genauso wohlzufühlen schien wie hier in Schottland. Es war schwer zu beurteilen, für welche Seite er sich entscheiden würde, wenn es zu einer bewaffneten Auseinandersetzung käme.
Während ihres kurzen Aufenthalts bei ihm sprach er mit ihr nicht über Politik. Sie hatte sich ihm plötzlich und widerstrebend aufdrängen müssen, weil der Verwandte, der sie begleitete, bei ihrer Ankunft in Edinburgh erkrankte. Da er einmal bei der Mutter des Duke in Diensten gestanden hatte, wagten sie es, ihn um ein Bett für die Nacht zu bitten.
Man empfing sie freundlich und reichte ihr köstliche Speisen: Fleisch, Fisch, Gemüse und dazu Wein in Kristallkelchen, in denen sich funkelnd das Kerzenlicht brach. Der Raum, in dem man sie unterbrachte, gehörte der Gattin des Duke, die gerade Verwandte im Norden Englands besuchte. Es handelte sich um ein üppiges Gemach mit gold-roten Bettvorhängen, einem indischen Wandschirm, Gemälden und Gobelins sowie einem riesigen Spiegel.
Als sie sich seufzend darin betrachtete, sah sie eine von der Reise müde junge Frau mit zerzausten Locken, roten Augen und dunklen Ringen darunter. Erschreckt über den Anblick, wusch sie sich, doch auch das ließ sie nicht erholter wirken.
Also suchte sie Trost im Schlaf.
Am Morgen nach dem Frühstück unterhielt sich der Duke of Hamilton höchstpersönlich mit ihr, und sie fand ihn, seinem Ruf entsprechend, sehr charmant. Früher, hieß es, sei er bei Hof ein schneidiger junger Mann gewesen. Jetzt, in den mittleren Jahren, hatten sich die kantigen Konturen seines Gesichts und die Straffheit um die Leibesmitte verflüchtigt, doch Manieren besaß er immer noch. Er verbeugte sich, wobei sich die dunklen Locken seiner modischen Perücke über seine Schultern ergossen, und küsste ihr die Hand, als gehörte sie der gleichen Gesellschaftsschicht an wie er.
»Nun sind Sie offenbar bei mir gestrandet«, sagte er. »Ihr Verwandter ist ernsthaft erkrankt; er leidet unter hohem Fieber. Ich habe ihn so gut wie möglich untergebracht und ihm eine Pflegerin kommen lassen, aber reiten wird er wohl eine Weile nicht können.«
»Ach, verstehe.« Sie senkte enttäuscht den Kopf.
»Empfinden Sie diese Gemächer denn als so ungemütlich, dass Sie mich schon wieder verlassen möchten?«, neckte er sie.
»Nein, nein, natürlich nicht. Es ist nur …« Sie wusste den Grund selbst nicht, lediglich, dass sie die Reise hinter sich bringen wollte. Sie kannte die Frau, zu der sie unterwegs war, nicht. Es handelte sich um eine angeheiratete Verwandte, eine mächtige, wohlhabende Dame, die ihr nach dem Tod ihres Onkels in einem Brief angeboten hatte, sie bei sich aufzunehmen, ihr ein Zuhause zu geben.
Ein Zuhause. Das Wort hatte zu dem Zeitpunkt genauso verlockend geklungen wie jetzt.
»Es ist nur«, wiederholte sie stotternd, »dass ich im Norden erwartet werde.«
Nach einem kurzen fragenden Blick forderte er sie auf, sich zu setzen.
Sie nahm auf dem schmalen Sofa beim Fenster Platz, während er den samtbezogenen Sessel gegenüber wählte, von wo aus er sie weiter neugierig betrachtete. »Soweit ich weiß, wollen Sie zur Countess of Erroll, nach Slains.«
»Ja, Sir.«
»Und in welcher Verbindung stehen Sie zu dieser bemerkenswerten Frau?«
»Sie war mit meinem Onkel John Drummond verwandt.«
Ein Nicken. »Aber Sie sind keine Drummond.«
»Nein, Sir. Ich heiße Paterson. Meine Tante hat in die Familie der Drummonds eingeheiratet, und ich habe seit dem Tod meiner Eltern vor acht Jahren bei ihnen gelebt.«
»Woran sind Ihre Eltern denn gestorben?«
»An der Ruhr, auf dem Weg nach Darien.«
»Nach Darien!«, rief er aus. Er gehörte, das wusste sie, zu den eifrigsten Verfechtern des schottischen Traums von einer Kolonie in der Neuen Welt, genauer gesagt, auf jener Landzunge zwischen Nord- und Südamerika. Viele hatten in dieses Projekt investiert, weil sie glaubten, dass die Schotten so die Kontrolle über beide Weltmeere erlangen und die kürzeste Route nach Indien beherrschen würden. Über die Landenge könnte man Frachten von einem Meer zum anderen transportieren, und die Region würde reich und mächtig werden.
Ihr Vater hatte alle seine Besitztümer verkauft, um dorthin zu reisen. Doch aus seinem Traum war ein Albtraum geworden. Sowohl die Engländer als auch die Spanier hatten sich gegen die Ansiedlung der Schotten in Darien gewehrt, so dass dort nun nichts mehr stand als die Hütten derjenigen, die seinerzeit ein Weltreich aufbauen wollten.
Der Duke of Hamilton hatte damals ganz offen die für die Zerstörung des Darien-Traums Verantwortlichen verurteilt. Mit besonderer Freundlichkeit sagte er nun zu ihr: »Zum Glück waren Sie nicht dabei, denn dann würden Sie jetzt nicht mehr unter den Lebenden weilen.« Er sah sie fragend an. »Sind Sie mit William Paterson verwandt?«
Der Händler und Abenteurer, von dem die Darien-Idee stammte.
»Ich glaube, es handelt sich um einen entfernten Cousin, aber wir kennen uns nicht persönlich.«
»Nun, vielleicht ist das auch besser so.« Er lehnte sich lächelnd zurück. »Sie wollen also nach Norden, nach Slains?«
Sie nickte.
»Dann werden Sie jemanden brauchen, der Sie begleitet und beschützt«, sagte er nachdenklich. »Ich hätte da einen Mann, der sich dafür eignet, wenn Sie meinem Urteil vertrauen.«
»Wen, Sir?«
»Einen Geistlichen namens Hall. Er kennt den Weg nach Slains, ist schon mehrmals für mich dort gewesen. In seiner Gesellschaft«, fügte er hinzu, »müssten Sie keine Angst haben.«
Keine Angst. Keine Angst.
Nun begann sie wieder, vom Sattel zu gleiten, und Mr. Hall streckte die Hand aus, um sie aufzurichten. »Wir sind da«, sagte er. »Vor uns sehe ich schon die Lichter von Slains.«
Sie bemühte sich, durch die über dem öden Land wirbelnden Abendnebel etwas zu erkennen. Nach einer Weile entdeckte auch sie die kleinen gelben Lichter in den dunklen Türmen und die abweisenden Mauern. Darunter hörte sie die Wellen der Nordsee gegen die Felsen schlagen, und ganz in der Nähe bellte ein Hund.
Da öffnete sich die Tür, und warmes Licht ergoss sich über den aufgewühlten Boden. Eine Frau in schwarzer Witwenkleidung trat auf sie zu. Sie war nicht mehr jung, aber attraktiv, und trug trotz der feuchten Abendkühle weder Kopfbedeckung noch Tuch oder Umhang.
»Ihr kommt gerade recht«, begrüßte sie sie. »Wir wollen bald essen. Bringen Sie die Pferde in den Stall; der Knecht wird Ihnen dabei helfen«, wies sie Mr. Hall an. »Das Mädchen soll mich begleiten, sich frisch machen und etwas anderes anziehen.« Sie hielt der jungen Frau die Hand hin, um ihr beim Absteigen behilflich zu sein. »Ich bin Anne«, stellte sie sich vor, »die Countess of Erroll, und bis zur Heirat meines Sohnes die Herrin von Slains. Leider habe ich deinen Namen vergessen.«
Die junge Frau räusperte sich. »Ich heiße Sophia Paterson.«
»Nun«, sagte die Countess mit einem strahlenden Lächeln, »herzlich willkommen zu Hause, Sophia.«