Sechzehn

 

Jane legte die Seiten meines Manuskripts beiseite. »Und?«

»Und was?«, fragte ich und hob den Blick vom Kuchenteller.

»Was passiert als Nächstes?«

Das wusste ich selbst noch nicht so genau. »Man kann nicht einfach ein Baby zur Welt bringen, ohne dass irgendjemand etwas bemerkt. Da sie Sophias Verbindung mit Moray geheim halten wollen, wird die Countess sie vermutlich an einen sicheren Ort schicken.«

»Und der wäre?«

»Keine Ahnung. Das werd ich noch sehen.«

»Aber wenn das Baby im …« Jane zählte im Geist die Monate ab. »… im März zur Welt kommen soll, bedeutet das doch, dass Sophia während der Invasion nicht in Slains ist, oder?«

»Ich weiß es nicht.«

Sie schüttelte den Kopf. »Wie kannst du nur ohne richtigen Plan arbeiten?«

»Das hab ich schon immer so gemacht.«

»Nicht wie diesmal«, widersprach Jane und richtete den Stapel Papier vor ihr gerade aus. »So schnell hast du noch nie was geschrieben.«

»Das muss die schottische Meerluft sein, die mich inspiriert.«

Jane wusste nur, dass der reale Grundriss von Slains mit meinem fiktionalen Entwurf übereinstimmte, von all den anderen Überschneidungen hatte ich ihr nichts erzählt. Ich kannte sie lange genug, um zu ahnen, dass in ihrem strukturierten Leben kein Platz für unerklärliche Phänomene war.

»Wenn du dich hier inspiriert fühlst«, sagte Jane, »solltest du nach Schottland ziehen und dir ein Häuschen kaufen. Ein paar Straßen weiter wird grad eins angeboten.«

Janes Mann Alan, der das Geschirr abräumte, fühlte sich bemüßigt, sich einzumischen: »So nah bei dir würde sie sicher nicht wohnen wollen.«

»Warum nicht?«

»Weil du ihr dann die ganze Zeit auf die Nerven gehen würdest mit Fragen, zum Beispiel: ›Wie läuft’s mit dem Buch?‹ oder: ›Wann ist es denn fertig?‹«

»Was für einen Unsinn du da wieder redest«, erwiderte Jane gespielt entrüstet.

»Außerdem braucht Carrie ihre Privatsphäre.«

»Die würde sie haben.«

»Oh, aye?« Alan sah seine Frau von der Seite an. »Glaubst du das selber nach dem Theater von heute Morgen?«

»Ich hab ihr bloß vorgeschlagen, sich von uns abholen zu lassen und nicht mit dem Taxi zu kommen.«

»Ist ja auch ziemlich weit«, sagte ich. »Zehn Minuten.«

»Darum geht’s nicht.«

»Es geht darum«, erklärte Alan, »dass du dachtest, sie würde einen Mann mitbringen.« Und an mich gewandt, fügte er hinzu: »Deswegen hat sie auch den Kuchen gebacken. Für uns allein würde sie sich nicht die Mühe machen.«

Richtig böse konnte Jane Alan nie sein. »So bald wirst du keinen mehr kriegen, wenn das der Dank ist.« Sie strafte ihn mit einem vernichtenden Blick. »Außerdem hat Carrie bei unserem letzten Telefongespräch selber gesagt, dass sie möglicherweise einen Mann mitbringt.«

»Ach, tatsächlich?«

»Sie wollte es mich wissen lassen.« Jane zuckte mit den Achseln. »Das ist praktisch dasselbe.«

Als Alan die Augen verdrehte, musste ich lachen. Jane bekam das nicht mit, weil in dem Moment der kleine Jack im ersten Stock aufwachte. Sobald er unten war, verlagerte sich die Aufmerksamkeit aller auf ihn.

»Babys sind faszinierend«, stellte Jane fest. »So klein, aber wenn sie in dein Leben treten, krempeln sie es komplett um.«

Was uns wieder zu meinem Buch, Sophia und der Frage zurückführte, wie sich ihr Dasein verändern würde, wenn das Kind da wäre.

»Ich weiß nicht, ob ich die Geburt beschreiben soll«, sagte ich. »Damit habe ich keine Erfahrung.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine Frau, die ein Kind geboren hat, so etwas lesen möchte.« Jane drückte den kleinen Jack an sich. »Was am Ende dabei herauskommt, ist in Ordnung, aber an den Weg dahin muss ich nicht unbedingt erinnert werden.«

Trotzdem überredete ich sie, mir davon zu erzählen, für den Fall der Fälle. Plötzlich war es fast zwei Uhr, und ich musste gehen.

Wieder rief ich, obwohl Jane mich davon abhalten wollte, ein Taxi.

»Ich kann dich bringen«, sagte sie, als ich das Manuskript in meine Reisetasche steckte, in der sich mein Laptop und ein wenig Kleidung befanden. Jane war das sicher nicht entgangen, weshalb ich mir eine gute Erklärung ausgedacht hatte.

»Ich fahre nicht gleich nach Hause, sondern nach Aberdeen, um für das Buch zu recherchieren. Es kommt drauf an, wie lang ich dazu brauche. Möglicherweise bleibe ich über Nacht.«

Als wir im Flur auf das Taxi warteten, sagte sie plötzlich: »Augenblick, ja?« Dann ging sie in die Küche und kehrte mit einem kleinen Tupperwaren-Behälter zurück.

»Was ist das?«

»Nicht für dich, sondern für ihn.«

»Für wen?«

»Komm, sonst fährt das Taxi wieder weg«, ermahnte sie mich und lief die Stufen zu dem wartenden Wagen hinunter. Als ich auf dem Rücksitz Platz genommen hatte, fragte sie mit Unschuldsmiene: »Sagtest du nicht, er sei aus Aberdeen?«

»Wer?«

»Der Mann, der dich zu dem Spaziergang entlang der Klippen entführt hat. Der arbeitet doch als Geschichtsdozent in Aberdeen, oder? Gib ihm den Kuchen von mir.«

Bevor ich etwas erwidern konnte, schloss sie die Wagentür und winkte mir nach. Als Detektivin wäre sie der Hit gewesen. Gegen Jane hätte kein Verbrecher eine Chance gehabt.

Das Reiheneckhaus aus der viktorianischen Zeit bestand, wie die meisten Gebäude in Aberdeen, aus Granit, nicht aus der roten Sorte wie Slains, sondern aus bräunlich grauem, was Grahams Straße etwas Heimeliges und Beständiges verlieh. Eine Stechpalmenhecke säumte den kurzen Weg zu den Stufen vor dem Haus. An der blau gestrichenen Tür war ein polierter Messingklopfer mit dem Kopf des Dichters Robert Burns angebracht.

Graham, der in seinem abgetragenen schwarzen Pullover und der Jeans genauso heimelig und beständig wirkte wie das Steinhaus, in dem er wohnte, begrüßte mich mit einem Lächeln. »Du hast gleich hergefunden?«

»Ja, kein Problem.«

Er nahm mir die Tasche ab und warf einen fragenden Blick auf den Plastikbehälter, an dem Angus herumschnüffelte.

»Kuchen«, erklärte ich, »für dich.«

»Für mich?«

»Bitte frag nicht weiter nach.«

Er trat beiseite, um mich einzulassen, schloss die Tür hinter mir und gab mir einen Kuss.

»Hallo«, sagte er mit einem Lächeln.

»Hallo.«

»Komm rein, ich zeig dir alles.«

Er habe das Haus erst ein Jahr zuvor erworben, erzählte er mir, weshalb manches noch nicht fertig sei. Die vorderen Räume mit ihren hohen Fenstern und den hübschen Decken waren halb leer, ohne Tapete und ungestrichen. Sein Schlafzimmer im oberen Stockwerk hatte er in ruhigen, männlichen Grüntönen gestaltet. Bei den anderen Räumen schien er sich noch nicht entschieden zu haben. Nur der hintere Teil des Hauses im Erdgeschoss war vollständig renoviert und eingerichtet.

Der Küche hatte er den viktorianischen Charme gelassen, sie jedoch modern funktional gestaltet und die hintere Wand für einen Wintergarten herausgenommen, durch den das Sonnenlicht auf den Holzfußboden fiel. Von Stuart wusste ich, dass Graham kochen konnte, und das bewies dieser Raum. Vom karierten Geschirrtuch bis zur Anordnung der Töpfe vermittelte alles den Eindruck, als würde es regelmäßig benutzt.

Ich fühlte mich sofort wohl, und dieses Gefühl verstärkte sich noch, als Graham fröhlich vor sich hin pfeifend die Schranktüren öffnete, um Tassen und Teller für den Tee herauszuholen.

Es überraschte mich, dass ich mir vorstellen konnte, mit Graham hier zu leben, weil ich immer meine eigene Wohnung gehabt hatte und mir meine Privatsphäre sehr wichtig war. Wieder eine völlig neue Erfahrung in diesem Winter, der so viele neue Erfahrungen brachte.

»Der Kuchen ist gut«, sagte Graham, der einen Bissen kostete, während er darauf wartete, dass das Wasser zu kochen anfing. »Willst du probieren?«

»Nein, danke. Ich hatte schon welchen beim Mittagessen.«

»Und wie ist’s gelaufen, dein Mittagessen?«

»Ach, es war lustig, wie immer mit Jane. Wir haben viel über das Buch geredet.«

Er warf einen Blick auf meine Tasche, die neben dem Sofa stand. »Du hast den Computer dabei?«

»Ohne hättest du mich ja offenbar nicht kommen lassen.«

»Aye, lach ruhig, aber du wirst mir noch dankbar sein, wenn du mitten in der Nacht unbedingt arbeiten möchtest.«

»Ja, Papa.«

»Das ist mein Ernst.«

»Dann glaubst du also, dass mich die Inspiration überkommen wird?«

Er lächelte verschmitzt. »Jedenfalls hab ich vor, meinen Teil dazu beizutragen.«

Ich kannte den Raum nicht. Die Fenster und Wände waren mir fremd, und es gab nicht viel Licht, das mir geholfen hätte, mich zu orientieren. Einen Moment lang blinzelte ich verwirrt, doch dann spürte ich Grahams warmen Körper an meinem Rücken und seinen gleichmäßigen Atem und wusste, wo ich mich befand.

Ich schloss zufrieden die Augen. Da war es wieder, dieses Gefühl der Vertrautheit, das ich schon in der Küche gehabt hatte – dass ich mit ihm leben könnte und seiner nie müde werden würde.

Doch dahinter begann sich etwas anderes zu regen, und nach kurzer Gegenwehr gab ich mich geschlagen, wand mich vorsichtig aus Grahams Umarmung, stand auf, zog mich an und ging nach unten in die vom Mondlicht erhellte, unbeheizte Küche.

Fröstelnd sah ich mich um. Mein Blick fiel auf die Jacken, die an der Tür zum Garten hingen, und auf ein Rugby-Shirt mit rot-goldenen Streifen, das, ausgewaschen, wie es war, wirkte, als hätte es schon den letzten Krieg miterlebt. Ich schlüpfte hinein und krempelte die langen Ärmel hoch.

Angus, der auf dem Sofa lag, hob den Kopf, begrüßte mich mit einem Schwanzwedeln, drehte sich auf den Rücken und streckte alle viere in die Luft, um sich am Bauch kraulen zu lassen. Ich tat ihm den Gefallen, allerdings so geistesabwesend, dass er sich bald wieder einrollte, die Schnauze und eine Vorderpfote in Grahams Shirt vergrub und einschlief, als ich zu schreiben begann.

Das schottische Vermächtnis: Roman
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